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Ausgabe:

Dezember/1999

Spalte:

1254 f

Kategorie:

Titel/Untertitel:

Die Protokolle des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. 2: 1947/48. Im Auftrag der Ev. Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte und des Ev. Zentralarchivs in Berlin bearb. von C. Nicolaisen und N. A. Schulze.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997. XXVIII, 851 S. gr.8 = Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe A: Quellen, 6. Geb. DM 188,-. ISBN 3-525-55754-X.

Rezensent:

Clemens Vollnhals

"Bettwäsche und Lebensmittelkarten oder entsprechende Abmeldung beim Ernährungsamt müssen mitgebracht werden. Mit Rücksicht auf die inzwischen sehr groß gewordenen Unterbringungs- und Verpflegungsschwierigkeiten" bat der Leiter der Kirchenkanzlei in seinem Einladungsschreiben zur ersten Ratssitzung im Jahr 1947 ferner dringend, "von der Mitnahme von nichtangemeldeten Begleitern Abstand zu nehmen". Solch ganz praktische Alltagssorgen bestimmten während der ersten Nachkriegsjahre in nicht geringem Maße die Arbeit kirchenleitender Organe.

Der vorliegende zweite Band dieser großen Edition enthält die Protokolle des Rates der EKD für die Jahre 1947 und 1948. Auch für diese Jahre liegen nur äußerst knapp gefaßte Beschlußprotokolle vor, die für sich genommen weder den Diskussionsverlauf noch die Brisanz mancher Tagesordnungspunkte so richtig erkennen lassen. Wie im ersten Band (vgl. ThLZ 1997, 689 ff.) haben die Bearbeiter deshalb zum besseren Verständnis eine Vielzahl ergänzender Anlagen zu den einzelnen Sitzungen aufgenommen, die in aller Regel aussagekräftiger sind als die dürren Protokolle selbst. Die umfangreiche Sachkommentierung und Erschließung zusätzlicher archivalischer Überlieferung zeugt abermals von der immensen Fleißarbeit, die die Bearbeiter geleistet haben. Für ein Lesebuch zum Schmökern eignen sich die Quellen kaum, so daß wir es vielmehr mit einem vorzüglichen Arbeitsmittel für die künftige Forschung zu tun haben.

Der Band verdeutlicht erneut das Dilemma des Rates der EKD, der eine Institution repräsentierte, die selbst erst noch im Werden begriffen war. Bis zur Verabschiedung der Grundordnung im Juli 1948 bestand die EKD lediglich aus dem Rat selbst und seinen beiden personell wie materiell äußerst notdürftig ausgestatteten Außenstellen, der Kirchenkanzlei und dem Kirchlichen Außenamt. Mit Ausnahme von Hans Asmussen und Martin Niemöller, den recht eigenwilligen und stark polarisierenden Außenstellenleitern, nahmen alle übrigen Ratsmitglieder ihre Funktion nur auf nebenamtlicher Basis wahr. Sie hatten wichtige Leitungsfunktionen in den Landeskirchen inne, als deren primäre Vertreter sich die meisten verstanden und konnten nur einen Teil ihrer Arbeitskraft dem Aufbau der EKD widmen. Zudem fehlte es weithin an geregelten Arbeitsstrukturen und eingespielten Verfahrensweisen.

Besonders deutlich zeigte sich dieses Defizit an den politischen Stellungnahmen des Rates, auf dem während der Besatzungszeit ein außerordentlicher Erwartungsdruck lastete, zumal er sich selbst auch als politische Stellvertretung des deutschen Volkes verstand. Für diese Aufgabe war der Rat allerdings denkbar schlecht gerüstet, denn er verfügte über keine Strukturen bzw. Gremien, die eine reflektierte Meinungsbildung und Formulierung entsprechender Vorlagen erlaubt hätten. So geschah vieles situativ und blieb der Initiative einzelner überlassen, so daß sich der Eindruck eines oft planlos wirkenden Vorgehens aufdrängte. Im August 1947 zog Asmussen eine geradezu vernichtende Bilanz: "Es ist eine Tatsache, daß wir im Rate nicht dazu kommen, wesentliche Beschlüsse zu fassen darüber, wie wir uns der deutschen Not zu stellen haben". Der Rat habe in "verschiedenen grundsätzlichen Dingen" keine einheitliche Linie finden können, von einer "wirksamen Initiative des Rates selbst" könne in keiner Weise geredet werden. Statt dessen drohe der Strom des kirchlichen Lebens in Kompetenzstreitigkeiten zu versickern (257 ff.).

Tatsächlich blieben entscheidende politische Weichenstellungen ohne Beachtung: die Bildung der Bizone, die Truman-Doktrin, die gescheiterte Münchner Ministerpräsidentenkonferenz, die Ankündigung des Marshallplans. Auch die Bodenreform, das Betriebsrätegesetz und schließlich die Währungsreform 1948 wurden im Rat in ihrer gesellschaftspolitischen Dimension nicht diskutiert. Selbst die Ausarbeitung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat wurde nicht mit nennenswerten Initiativen zur Vertretung eigener Positionen begleitet. Der Neuaufbau der Demokratie und die Ausgestaltung der politischen und sozialen Ordnungsstrukturen der entstehenden Bundesrepublik waren kein Thema. Aber auch die drohende Spaltung Deutschlands rief im doch so nationalbewußten Protestantismus, zumindest soweit es die öffentlichen Verlautbarungen des Rates der EKD anbetrifft, nur ein vergleichsweise geringes (durchweg problematisches) Echo hervor.

Der Rat der EKD war vornehmlich mit sich selbst beschäftigt. Die alles überschattenden innerkirchlichen und konfessionellen Auseinandersetzungen um die künftige Gestalt der Evangelischen Kirche in Deutschland absorbierten die Energie, die der Rat als - neben der katholischen Bischofskonferenz - einziges intaktes gesamtdeutsches Gremium in den entscheidenden Jahren, als die Teilung und die Neuordnung Deutschlands anstand, hätte entfalten können. Der Weg vom Kirchlichen Einigungswerk bis zur Verabschiedung der Grundordnung der EKD auf der Kirchenversammlung in Eisenach im Juli 1948 war äußerst konfliktbeladen. Dies ist gewiß keine Neuigkeit, doch läßt die Edition, speziell in den beigefügten Anlagen, den Prozeßcharakter plastisch hervortreten. Auch die Unzahl administrativ-organisatorischer Fragen, die zu lösen waren, prägten und dominierten nicht selten die Ratssitzungen, so daß für die Erörterung uns heute zentral erscheinender Themen häufig wenig Zeit blieb. Angesichts der massiven konfessionellen Spannungen, der divergierenden Partikularinteressen der Landeskirchen und nicht zuletzt persönlicher Aversionen wäre die Gründung der EKD ohne die überragende Initiative und ausgleichende Durchsetzungskraft Wurms wohl nicht zustande gekommen. Sie war alles andere als selbstverständlich.