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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1070–1071

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wesley, John

Titel/Untertitel:

Lehrpredigten. Übers. u. hrsg. v. M. Marquardt. 2., überarb. u. komm. Aufl. (Neuübersetzung).

Verlag:

Göttingen: Edition Ruprecht 2016. 816 S. = Methodistische Quellentexte, 1. Geb. EUR 149,00. ISBN 978-3-8469-0248-6.

Rezensent:

Martin Ohst

Dieser stattliche Band bietet Texte, die schon einmal (2 Bde., Stuttgart 1986–1992) in einer deutschen Version erschienen sind; die An­gaben des Herausgebers über das Verhältnis der neuen zur alten Ausgabe sind vage und wenig aussagekräftig (15). Die Sammlung enthält 53 Predigten. Die älteste ist 1738 entstanden: Nach Jahren der Suche war es John Wesley (1703–1791) aufgrund einer durch Herrnhuter vermittelten Berührung mit Luther (Vorrede zum Römerbrief) aufgegangen, dass es allein der Christusglaube sei, der religiöse Vergewisserung empfange und die ihr entsprechende Lebenserneuerung hervortreibe.
Die jüngste Predigt der Sammlung hat W. aus Anlass des Todes von George Whitefield (1714–1770) ausgearbeitet. Dieser strenge Anhänger der calvinischen Erwählungs-/Prädestinationslehre hatte mit den Brüdern John und Charles Wesley (1707–1788) innerhalb der englischen Staatskirche eine erweckliche Predigt- und Singbewegung initiiert, welche sich allmählich zur Leitung und Überwachung des Heiligungsprozesses ihrer Anhängerschaft eigenartig und eigenständig verfestigte und späterhin gegen den Willen ihrer Gründer als Freikirche verselbständigte (außergewöhnlich lesenswert bleibt der Artikel »Methodismus« von Friedrich Loofs in RE3 Bd. 12, 747 ff.!); der tiefe dogmatische Dissens (s. u.) hatte die Koopera-tion zwischen ihm und John Wesley zwar erschwert, aber nicht un­möglich gemacht.
Die hier vorliegende Sammlung von Predigten hat W. zur Ausbildung, Schulung und Anleitung von Predigern und nicht etwa als erbauliche Lektüre für einfache Gemeindeglieder ausgearbeitet. Sie ging also aus dem Verfestigungs- und Institutionalisierungsprozess der Bewegung hervor und hat ihn dann ihrerseits befördert: Bis 1744 erschienen 44 »Standard Sermons« in mehreren Bänden im Druck, und dieses Corpus ist dann in die normativen Fundamente der britischen Methodistenkirche eingegangen, die sich späterhin von der Established Church abspaltete. Dieser Rang einer Predigtsammlung bedarf einer kurzen Erläuterung: Zu den normativen Dokumenten, welche die Sonderart der im Auftrag von Krone und Parlament durch Bischöfe geleiteten Anglikanischen Kirche seit Eduard VI. und Elisabeth I. bezeugen und gewährleisten, gehörte neben den 39 (ur­sprünglich 42) Lehrartikeln und dem Book of Common Prayer auch das Book of Homilies, eine offizielle Sammlung von Musterpredigten. Diese werden in W.s Lehrpredigten, wie die Herausgeber dank enswerterweise notieren, auffällig häufig zitiert, und zwar sicher nicht zufällig, sondern durchaus demonstrativ als Ausweis der Treue zur Staatskirche. Und in der methodistischen Predigtbewegung und Freikirche wuchs den Standard Sermons ein dem Book of Homilies funktionsäquivalenter Status zu.
Den ursprünglichen Bestand von 44 Musterpredigten hat W. dann um weitere neun vermehrt, welche jedoch diesen hervorgehobenen Rang nicht erlangt haben: Das so entstandene Corpus von 53 Predigten war dann also eine Privatarbeit W.s. Das Verhältnis der beiden Textcorpora ist durchaus dem zwischen dem reichsrechtlich gültigen Text der Confessio Augustana und Melanchthons CA variata vergleichbar. Der Gebrauchswert der vorliegenden Edition wäre noch einmal höher, wenn das in der Gestaltung deutlicher berücksichtigt worden wäre – auch hier lässt die Einleitung (10 f.) hinsichtlich der Präzision berechtigte Wünsche offen.
Trotz dieser Kritik ist festzuhalten, dass eine sehr brauchbare deutsche Leseausgabe dieser kirchen- und theologiegeschichtlich wie konfessionskundlich sehr wichtigen und reizvollen Texte entstanden ist. Jede Predigt ist mit einer Einleitung versehen, welche die Stoßrichtung und den Gedankengang angibt und geschichtlich einordnet. Neben den genannten Zitaten aus dem Book of Homilies wird in den Fußnoten eine große Zahl von Zitaten und Anspielungen aus der Bibel sowie aus der klassischen und der zeitgenössischen Literatur identifiziert.
Inhaltlich sind es zwei Themen, welche die Sammlung zur Einheit gestalten. An erster Stelle ist der Glaube zu nennen – seine Ursachen, seine Genese, seine Bewahrung und seine Lebenspraxis. Wie ihn W. versteht, ist er ganz und gar von der göttlichen Gnade be­dingt, die er in augustinisch-scholastischer Manier auszudifferenzieren versteht (vgl. z. B. Predigt 16, 221–238). Dem Menschen allerdings obliegt es, dieser allen angebotenen Gnade den Weg zu bereiten, nämlich durch den Gebrauch der Gnadenmittel – dieser ganz unverhüllt synergistische Anti-Prädestinatianismus (engl.: »Arminianism«) hat ein Kontinuum in W.s Denken von dessen Anfängen her gebildet, und folglich kommt der Glaube als Akt der menschlichen Freiheit und als Bedingung der Rechtfertigung, wenn auch deren einzige, zu stehen (Predigt 43, 610–620). Das zweite Schwerpunktthema ist die »Vollkommenheit« (exemplarisch Predigt 40, 566–582): Schon auf Erden vermag der wahrhaft glaubende Christenmensch ein zumindest über weite Strecken hin sündenfreies Leben zu führen, wobei allerdings ein moralisches, an der benennbaren Aktualsünde orientiertes Verständnis leitend ist.
Einerseits suchte W. also (auch) hier auf seine Weise einen An­schluss an die reformatorische Theologie, der weit tiefer reichte als der zur damaligen political correctness in Großbritannien gehörende stramme Antipapalismus. Anderseits wird in Langzeitperspektive verständlich, dass aus dem Methodismus sehr viel später die Pfingstbewegung entspringen konnte und dass die Methodisten den Versuch der kirchenoffiziellen Anpassung der lutherischen Rechtfertigungslehre an römisch-tridentinische Standards im Jahre 1999 beifällig begleiteten.
Dieser Pilotband weckt jedenfalls die Vorfreude auf weitere Methodistische Quellenschriften – auch und gerade auf solche, welche die eigentümliche Sozialgestalt der Bewegung und ihre epochale Bedeutung für die Geschichte des Geistlichen Liedes im englischen Sprachraum bezeugen.