Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/1999

Spalte:

1250 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Köhler, Joachim, u. Damian van Melis [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Siegerin in Trümmern. Die Rolle der katholischen Kirche in der deutschen Nachkriegsgesellschaft.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1998. 253 S. gr.8 = Konfession und Gesellschaft, 15. Kart. DM 59,80. ISBN 3-17-015274-2.

Rezensent:

Josef Schmid

Der vorliegende Sammelband dokumentiert die Ergebnisse einer Fachtagung über die Rolle der katholischen Kirche in der deutschen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, welche Joachim Köhler und Damian van Melis zusammen mit der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart im Februar 1995 durchführten. Im Blickpunkt der Beiträge standen die unmittelbaren Nachkriegsjahre, um so Kontinuitäten und Neuanfänge der katholischen Kirche nach 1945 sichtbar zu machen. Ein weiteres Ziel dieser Fachtagung war es, die bisherigen Forschungsergebnisse unter gemeinsamen Leitfragen zusammenzutragen. Dabei wurde nach der Entwicklung von Kirche und Katholizismus und nach dem Einfluß der katholischen Kirche auf Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland gefragt. Die Hauptthese, die Köhler und van Melis in einem Diskussionspapier der Tagung voranstellten, lautete: "Der deutsche Episkopat ist mit seinen Vorstellungen von der Führungsrolle der Kirche innerkirchlich und gesellschaftspolitisch gescheitert. Innerkirchlich ist das strikt auf amtskirchliche Strukturen ausgerichtete Organisationsmodell durch das Wiedererstarken von Verbands- und Laienkatholizismus verhindert worden; gesamtgesellschaftlich konnte die Säkularisierung nicht aufgehalten und eine Hegemonie des Katholischen nicht hergestellt werden" (12 f.).

Doch diese Erklärung für die Entwicklung der katholischen Kirche, die sich 1945 zunächst als "Siegerin" in einem in "Trümmern" liegenden Deutschland wähnte, sich aber schon bald mit ihrem zunehmenden gesellschaftspolitischen Einflußverlust konfrontiert sah, ist mit Vorsicht zu genießen. Die Herausgeber räumen in ihrer Einleitung des Sammelbandes selbst ein, daß die bisherigen Untersuchungen zur katholischen Kirche in der Nachkriegszeit noch keinen fundierten Überblick ermöglichten und daß ihre verallgemeinernde These durch die dokumentierten Beiträge Ergänzungen und Korrekturen erfahren habe. Auch weisen sie darauf hin, daß Unsicherheiten über Begriffe wie Katholizismus, Kirche, Amtskirche, katholisches Milieu, etc. nicht ausgeräumt werden konnten. Außerdem beschränkt sich der Sammelband weitgehend auf die westdeutsche Entwicklung. Der Experte für die katholische Kirche in der DDR, Bernd Schäfer, rundet den Sammelband allerdings mit der Schilderung eines skurrilen Falles aus der deutsch-deutschen (Kirchen-)Geschichte ab, welche die überaus emotionalisierte politische Atmosphäre der späten 1940er und frühen 1950er Jahre in Ost- und Westdeutschland ,lebendig’ werden läßt.

Kritisch anzumerken ist ferner, daß sich die Autoren und Autorinnen des Sammelbandes mehrheitlich auf die Analyse kircheninterner Vorgänge konzentrieren. Wichtige externe gesellschaftspolitische Entwicklungen und ihre Rückwirkungen auf die katholische Kirche werden dagegen wiederholt nur angedeutet. Besonders Wilhelm Dambergs ansonsten sehr differenzierte Beobachtungen zur Katholischen Aktion, Andreas Lienkamps Beitrag über die Sozialismusrezeption des Theologieprofessors Theodor Steinbüchel und Ulrich Bröcklings Ausführungen über die Entwürfe für ein sozialistisches Europa von Walter Dirks bleiben weitgehend der bedingt aussagefähigen Binnensicht verhaftet.

Trotz dieser Einschränkungen und Defizite ist der Sammelband von Köhler und van Melis sehr lesenswert. Denn mit der getroffenen Auswahl an Beiträgen gelingt es ihnen, die Forschungen über die interne Entwicklung in der katholischen Kirche pointiert zu reflektieren und mit einigen Ergebnissen aus der neueren Forschung anzureichern. So entsteht ein - wenn auch notgedrungen vorläufiges - Bild über hausgemachte Gründe des gesellschaftspolitischen Einflußverlustes. Karen Riechert bemängelt zum Beispiel in ihrer Skizze des Verhaltens der katholischen Kirche in der zeitgenössischen Diskussion über die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse eine fehlende Selbstkritik der Kirche am eigenen Agieren während der NS-Zeit. Dies habe begünstigt, so ihr Urteil, daß die Kirche nach 1945 de facto Position für die Täter bezog. Van Melis unterstützt in seinem Artikel über das katholische Episkopat und die Entnazifizierung diese Einschätzung und erklärt sie, indem er den Einsatz der katholischen Kirche für die "kleinen Nazis" auch als nachträglichen Dienst an den zuvor "treuen Katholiken in entscheidenden administrativen und pädagogischen Positionen" charakterisiert (66).

Markus Köster und Stefan Meißner erörtern in ihren Regionalstudien minutiös das komplexe Verhältnis von Kirche und Parteien im Bistum Münster bzw. die begrenzten Erfolge des Bistums Rottenburg im Kampf um die katholische Bekenntnisschule. Daneben können vor allem Ewald Frie und Ulrike Altherr mit ihren Beiträgen über den Deutschen Caritasverband bzw. über Katholische Frauenorganisationen in der Diözese Rottenburg-Stuttgart überzeugen. Frie beschreibt den Sonderweg der Caritas, die in der Nachkriegssituation stellvertretend für den nicht mehr funktionsfähigen Staat "das Überleben" organisierte (162). Altherr erläutert das nach 1945 in der katholischen Kirche restaurierte "Frauenbild" entlang den Leitlinien eines behaupteten "Naturrechts", das sich als unpraktikables Element einer von der Kirchenleitung intendierten Rekatholisierung der Gesellschaft erwiesen habe. Im Gegenteil, so ihr Fazit, sei spätestens in den 1960er Jahren ein deutlicher Einfluß nichtkirchlicher Modelle von der Rolle der Frau in der Gesellschaft auf die katholischen Frauenorganisationen zu attestieren (194). Beide Autoren lösen das erwähnte Versprechen der Herausgeber ein, einen Überblick über den jeweils aktuellen Forschungsstand zu geben, und verweisen dabei auf wichtige Forschungslücken. Joachim Köhler und Rainer Bendel, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem kirchlichen Umgang mit Flüchtlingen und Heimatvertriebenen auseinandersetzen, bestätigen diese forschungskritische Sicht, indem sie auf den Mangel an wirkungsgeschichtlichen Analysen hinweisen. Dies ermögliche keine gesicherten Aussagen über Erfolge oder Mißerfolge kirchlicher Vertriebenenseelsorge, so ihr Resümee (223).

Köhler und van Melis bleibt insgesamt vor allem das Verdienst, mit dem vorliegenden Sammelband pointiert auf die Folgen einer Selbsttäuschung aufmerksam zu machen: Aus der "Siegerin" von 1945 war bald eine katholische Kirche geworden, die vor den "Trümmern" eigener Gesellschaftsvorstellungen stand und in vielerlei Hinsicht sich verspätet um zeitgemäße Antworten auf die Herausforderungen durch tiefgreifende Veränderungen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die mit den Stichworten Modernisierung und Pluralisierung zu umschreiben wären, bemühte. Insofern beschreibt dieser Sammelband - unabhängig von den erwähnten Defiziten - sehr deutlich eine vergebene Chance der Kirche.