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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1045–1046

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Roose, Hanna

Titel/Untertitel:

Der erste und zweite Thessalonicherbrief. Hrsg. v. W. Klaiber.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2016. 224 S. = Die Botschaft des Neuen Testaments. Kart. EUR 16,99. ISBN 978-3-7887-2991-2.

Rezensent:

Paul Metzger

Der theologischen Wissenschaft wird zuweilen vorgeworfen, ihre Forschungen und deren Ergebnisse nicht für die breite Öffentlichkeit aufzubereiten und deshalb nichts zum Verkündigungsauftrag der Kirche beizutragen. Gerade im Bereich der exegetischen Wissenschaften lässt sich kaum leugnen, dass dort gewonnene Einsichten im kirchlichen Leben praktisch ignoriert oder mit großer zeitlicher Verzögerung bekannt werden. Damit gehen oft schmerzhafte Folgen für Predigt und Katechese einher, wofür beide Seiten Verantwortung tragen.
Es ist daher als Verdienst anzusehen, dass Hanna Roose mit ihrem Kommentar zu den Thessalonicherbriefen sich nicht scheut, den Stand der Forschung auf diesem Gebiet in einen Kommentar zu überführen, der sich in der Praxis der kirchlichen Handlungsfelder als äußerst nützlich erweist. Von Anfang an muss aber klar sein, dass es sich hier nicht in erster Linie um einen Kommentar für Fachkollegen handelt. Zwar entnehmen auch diese der Kommentierung anregende Gedanken, doch fehlen der bei streng fach-wissenschaftlich ausgelegten Werken übliche umfangreiche Einleitungsteil sowie die Anmerkungen, die eine detaillierte Auseinandersetzung mit Forschungspositionen erlauben. Auch die spär­lichen Literaturangaben zielen lediglich darauf, weitere Schritte in die Thematik zu ermöglichen.
Der 1Thess bemüht sich nach R. besonders darum, »das Beziehungsgefüge zwischen den Missionaren, der Gemeinde und Gott bzw. Jesus Christus kommunikativ zu festigen.« (109) Der Brief versuche, »eine metaphorische Familienfiktion« (114) zu schaffen. Damit fingen Paulus, Silvanus und Timotheus, die für R. als Autoren gleichberechtigt sind (6), die »fragile Situation« (115) auf, die sich durch Abwendung von den alten Göttern für die Gemeinde ergeben habe. Weil es sich um ein echtes Autorenkollektiv handele, sei der Brief auch »nur bedingt für die Rekonstruktion paulinischer Theologie heranzuziehen« (6). Theologische Gedanken späterer Paulusbriefe sollten nicht in ihn hineingelesen werden.
Da der Brief neben Glaube und Liebe insbesondere die christliche Hoffnung thematisiere, vermutet R. dahinter den eigentlichen Anlass des Briefes. Wie 1Thess 4 zeigt, scheint es um das Schicksal der Verstorbenen in der Gemeinde Unklarheiten zu geben. Für die Autoren ist zwar selbstverständlich, dass sie die Parusie Christi noch erleben werden, doch klären sie die verunsicherte Gemeinde auch darüber auf, dass die Gestorbenen gegenüber den Lebenden keinen Nachteil erleiden. Nicht Leben oder Tod, sondern die Er­wählung Gottes entscheidet über den Heilsstatus des Menschen. Gerade darin liegt die entscheidende Hoffnung der Christen. Dies machen die Autoren deutlich, indem sie »eine apokalyptisch-eschatologische Grundstimmung« (112) evozieren. Hierin spiegelt sich die Konfliktsituation der nach R. überwiegend »heidenchristlichen Gemeinde und ihrem pagan-religiösen Umfeld« (116).
Im Hinblick auf den 2Thess diskutiert R. umsichtig die Verfasserfrage und die damit zusammenhängenden weiteren Einleitungsfragen. Ganz richtig erkennt sie, dass es gravierende Auswirkungen für die Interpretation hat, wenn man den Brief nicht für paulinisch hält.
Intertextuell will sie beide Briefe aufeinander beziehen. Hier scheint fraglich, ob dies auch die Intention des 2Thess ist. Wenn er den 1Thess korrigieren oder gar verdrängen wollte, hat er ihn zwar literarisch nachgeahmt, damit er authentisch wirkt, aber doch nicht daran gedacht, dass er bleibend neben ihm gelesen wird.
Als Kernbotschaft des Briefes erkennt R. die Klarstellung, dass der Tag des Herrn noch nicht da ist. Diesem Zweck dient auch die mysteriöse Figur des Katechon. Sehr elegant und konsensfähig formuliert sie dazu: »Beim Katechon handelt es sich um eine von Gott befähigte Macht, der allein Gott ihre Zeit zumisst.« (168) Damit ist auf den Punkt gebracht, was es sicher zu dieser Figur zu sagen gibt.
Wichtig ist dem Kommentar die gründliche und allgemein verständliche Auslegung des Textes. Deshalb entwickelt R. methodisch alle Kenntnisse, die für eine Interpretation nötig sind, immer direkt aus dem Text heraus. Ihr gelingt es so überzeugend, den interessierten Leser in die Interpretation der Briefe einzuführen. Sie verschweigt dabei weder die Probleme noch die Aporien, sondern skizziert fair verschiedene Lösungsmöglichkeiten und bezieht selbst begründet Stellung. Dabei macht sie deutlich, dass sie nicht die Antwort auf alle Fragen kennt, sondern den Leser dazu in die Lage versetzen möchte, sich selbst eine Meinung zu bilden. So offeriert sie z. B. im Kontext des 2Thess auch Auslegungen, die von einer paulinischen Verfasserschaft des Briefes ausgehen, obwohl sie selbst in ihm einen pseudepigraphen Text erkennt. Sie scheut dabei auch nicht davor zurück, exegetische Einsichten zu vertreten, die bei der kirchlichen Leserschaft Irritationen hervorrufen können. Biblische Verfasser können sich geirrt (79) oder gar Fälschungen eingesetzt haben, um ihre Ziele zu erreichen (123). Sie traut also ihren Lesern genau das zu, was diese in der Regel auch leisten können, die Einsicht zu gewinnen, dass in der Bibel Gotteswort lediglich im Menschenwort vorliegt (79).
Farblich abgehoben werden am Ende jeder Perikope die wichtigsten Einsichten des jeweiligen Abschnitts zusammengefasst, so dass sich auch eilige Leser rasch orientieren können. Wichtige Konstellationen werden durch Graphiken anschaulich gemacht (11), und am Ende der gesamten Auslegung resümiert R. die wesentlichen Anliegen der Briefe. Dazu bietet sie auch eine Antwort auf die Frage an, was der Text heute aussagen, welche theologische Botschaft heute noch aktuell sein kann. Damit gelingt ihr genau das, was ein Kommentar tun sollte.
Knapp und prägnant, im pfarramtlichen Alltag gut lesbar, nah am Text, gut verständlich und theologisch aussagekräftig – gerade als Vorbereitung für Bibelkreise oder als Anregung für die Predigt bietet der Kommentar eine hervorragende Grundlage.