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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

964–965

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Rinn, Angela

Titel/Untertitel:

Die Kurze Form der Predigt. Interdisziplinäre Erwägungen zu einer Herausforderung für die Homiletik.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 237 S. = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 86. Kart. EUR 50,00. ISBN 978-3-525-62434-0.

Rezensent:

Wilhelm Gräb

Die hier anzuzeigende Veröffentlichung geht auf die Heidelberger praktisch-theologische Habilitationsschrift von Angela Rinn zu­rück. Sie ist aus der langjährigen Tätigkeit der Vfn. als Gemeindepfarrerin und in der Rundfunkarbeit erwachsen. Die Kasualpredigt und die Rundfunkansprache sind jedenfalls diejenigen von ihr be­vorzugten praktischen Exempel einer Predigt, die sie vor die homiletische Herausforderung der Kürze gestellt sieht, wobei mit »kurz« gemeint ist, nicht viel länger als fünf Minuten bzw. zwei DIN A4-Seiten. Dass es Situationen und Anlässe gibt, die von der Predigt ver langen, aus welchen Gründen auch immer (friedhofstechnischen, mediengesellschaftlichen, rezeptionspraktischen), dass sie kurz sein muss, will die Vfn. endlich als gewichtiges homiletisches Problem thematisiert wissen. Sie stellt fest, dass dies in der homiletischen Diskussion bislang nicht geschehen ist, jedenfalls nicht energisch genug. Diesem Desiderat will sie deshalb mit ihrer Arbeit abhelfen. Dabei erhebt sie keinen geringeren Anspruch als den, »den Entwurf einer Homiletik der Kurzen Form zu entwickeln« (29).
Um diesen Anspruch einzulösen, geht sie so vor, dass sie zu­nächst drei das Predigtgeschehen im Wesentlichen konstituierende Faktoren ausmacht, den Text der Predigt, die Person der Predigenden, die Bibel. Im Blick auf diese drei Faktoren geht sie dann möglichen Hinweisen dafür nach, was es jeweils in einer auf Kürze bedachten Predigt zu berücksichtigen gilt, bzw. welche Anregungen aus der Literatur oder aus der Bibel oder auch durch den Einsatz der Person der Predigenden einer Homiletik der Kürze erwachsen können.
Was den Text der Predigt anbelangt, so verweist dieser eben dadurch, dass er als Text verfertigt wird und auftritt, darauf, dass es sich auch bei der Predigt um Literatur handelt. Die Literatur biete nun aber zudem drei Textsorten an, die Kürze verlangen und durch ihre Form selbst eine pointierte Darstellung ermöglichen – den Traktat, den Essay, die Aufzeichnung. Von allen dreien kann also die kurze Predigt lernen, wobei die Vfn. vor allem eine Orientierung am Essay empfiehlt. Für den Essay ist besonders charakteris­ tisch, dass sich die empirische Subjektivität des Verfassers in diesem exponiert. Das empfiehlt die Vfn. deshalb auch der sich als Essay stilisierenden kurzen Predigt.
Was den Menschen, somit die anthropologische Dimension des Predigtgeschehens anbelangt, so stützt die Vfn. ihre Argumente für die Kürze der Predigt auf neurologische Erkenntnisse zur Aufmerksamkeitskapazität und das Bereitschaftspotential beim Zuhören. Sie betont aber auch, dass die Anthropologie darauf hinweist, wie sehr wir Menschen soziale Wesen sind, kontextabhängig in unserer Beziehungsfähigkeit und vor allem auch emotional angesprochen werden wollen.
In Bezug auf die Bibel als der Basis auch der kurzen Predigt verweist die Vfn. auf die Gleichnisse Jesu, die die kurze und pointierte Predigt bereits exemplarisch realisiert hätten. Von Jesu Gleichnisrede soll die kurze Predigt lernen.
Zuletzt geht die Vfn. die verschiedenen »Perspektiven der homiletischen Diskussion« durch, von der Homiletik der Krise über die der Ästhetik, Rhetorik und Inszenierung bis zu der der Rundfunkhomiletik, um zum einen festzustellen, dass sie an den Herausforderungen der Kürze bislang vorbeigegangen sind, zum anderen aber doch auch alle das Potential in sich tragen, für die Bearbeitung dieses spezifischen homiletischen Problems fruchtbar gemacht werden zu können.
Praktische Schlussfolgerungen schließen die Arbeit ab, wobei die Vfn. noch einmal versichert, dass es ihr um einen homiletischen Entwurf der »Kurzen Form« gehe, nicht aber um ein Rezept, wie solche kurzen Predigten zu machen seien. Statt praktisch brauchbare Regeln zur Machbarkeit einer kurzen Predigt zu entwickeln, schließt sie deshalb mit »Neun Ansprüchen zur Kurzen Form der Predigt« (203).
Es ist das Verdienst dieser Arbeit, die Kürze als eigenständiges homiletisches Problem thematisiert zu haben. Ihm ist bislang in der Tat zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Ich denke jedoch nicht, dass der Anspruch, einen »homiletischen Entwurf der Kurzen Form« vorzulegen, eingelöst wurde. Dafür hätten auch die Fragen der sogenannten prinzipiellen Homiletik angegangen, der Predigtbegriff diskutiert werden müssen. Dass sich Predigende mit der Kürze so schwertun, liegt m. E. ganz entscheidend daran, dass Predigende die gottesdienstfüllende Sonntagspredigt mit ihrem die Textauslegung verlangenden Verkündigungsanspruch als normative Größe gewissermaßen verinnerlicht haben. Was die »Kurze Form der Predigt« vor allem bräuchte, wäre eine Ermäßigung des theologisch überhöhten Anspruchs, der mit dem Verkündigungsparadigma immer noch einhergeht. Wer gelernt hat, die Predigt als einen Akt situationsbezogener, alltagsweltlich kontextuierter und lebensdeutungspraktisch motivierter religiöser Rede zu verstehen, dem dürfte unmittelbar einleuchten, dass die Würze seiner Rede in der Kürze liegt. Das heißt freilich noch lange nicht, dass er diese Einsicht bei seinem Predigen auch immer berücksichtigt. Deshalb ist es gut, dass dieses Buch sie einmal gründlich und detailliert entfaltet hat.