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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

954–955

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Barth, Hans-Martin

Titel/Untertitel:

Das Vaterunser. Inspiration zwischen Religionen und säkularer Welt.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2016. 222 S. Geb. EUR 19,99. ISBN 978-3-579-08233-2.

Rezensent:

Ulrich H. J. Körtner

Schon in altkirchlicher Zeit wurde das Vaterunser als Summe der Verkündigung Jesu und Kurzform des Evangeliums (Tertullian) verstanden. Jesu Gebet ist nicht nur das zentrale Gebet der Chris­tenheit, sondern hat auch den Rang eines zentralen dogmatischen Textes gewonnen. Eine Wendung Karl Rahners aufgreifend, charakterisiert Hans-Martin Barth das Vaterunser als »Kurzformel des Glaubens« (14). Genauer gesagt, kann man B.s Auslegung des Gebetes als Verdichtung seiner 2008 in 3. Auflage erschienenen Dogmatik lesen, die den Versuch unternimmt, die Inhalte des christlichen Glaubens evangelischer Prägung im Kontext der Weltreligionen, aber auch im Gespräch mit Atheismus, Agnostizismus und Materialismus zu interpretieren. Auch seine allgemeinverständliche, gut lesbare und von persönlichen Erfahrungen und Eindrücken durchsetzte Auslegung des Vaterunsers sucht, wie der Untertitel sagt, nach Inspiration im Gespräch mit den Religionen wie der sä­kularen Welt.
B.s Grundanliegen ist eine zeitgemäße Form von Apologetik, die sich den Herausforderungen von Migration und globaler Kommunikation ebenso wie zeitgenössischen Formen der Religionslosigkeit und Religionskritik stellt. Unzufrieden mit der exegetischen Literatur, die auf ihn »eher blass« (17) wirkt, fragt B., ob das Vaterunser, wenn es mit neuen Augen gelesen und mit ähnlich kanonischen Texten aus anderen Religionen verglichen wird, zur Öku-mene der Religionen beitragen und vielleicht sogar »einem Agnos­tiker, einem Verlassenen oder Verzweifelten […] etwas bedeuten« kann, »obwohl er nicht an ›Gott‹ glaubt« (16). Ausdrücklich wendet sich B. an Menschen, die Schwierigkeiten mit der Anrede Gottes als Vater, mit dem Beten im Allgemeinen und den einzelnen Bitten des Vaterunsers im Besonderen haben. Beispiele aus der modernen Literatur dienen ihm dabei als Anknüpfungspunkte.
Eine wichtige Verständnisbrücke, die er auch als verbindendes Element im interreligiösen Gespräch hochschätzt, findet B. in der Mystik, etwa die Antwort Nikolaus’ von Kues auf die Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz Gottes (34). Allerdings sieht B. auch deutlich die Grenzen einer auf mystische Quellen und Verbindungslinien bauenden Interpretation, bewege sich doch alle Mys­tik in den Grenzen der Anthropologie. »Sie hat ihre biologischen, genauer: psychosomatischen Voraussetzungen und Grenzen« (31) und entkommt dem religionskritischen »Projektionsverdacht genauso wenig wie das theistische Denken« (ebd.).
B. folgt der traditionellen Einteilung des Vaterunsers in sieben Bitten, nicht in sechs, wie es exegetisch auch möglich wäre. Eröffnet wird die Meditation des Gebets mit Reflexionen zur Anrede Gottes als Vater, beschlossen mit einer Betrachtung der sekundären Doxologie einschließlich des Amen. Der Aufriss aller Kapitel ist gleich. Nach einer kurzen Einstimmung auf die jeweilige Bitte folgt zunächst ein Abschnitt über Vergleichstexte aus anderen Religionen, dann eine Passage über die Bitte im areligiösen oder säkularen Umfeld, gefolgt von der eigenen Deutung B.s.
Das Buch ist im guten Sinne erbaulich und eignet sich für die private Lektüre ebenso wie für Gemeindekreise und Erwachsenenbildungsveranstaltungen. Man sollte es aber nicht unkritisch einsetzen, wie die folgenden Beispiele zeigen. So setzt sich B. zwar zu Recht mit der Anrede Gottes als Vater wie auch mit der Vorstellung eines personalen Gottes kritisch auseinander. Im Sinne einer zweiten Naivität plädiert B. für die personale Anrede Gottes als Du, auf die man sich einlassen könne, ohne von der Existenz Gottes überzeugt zu sein, weil Gott im Akt des Gebetes für den Beter zur Wirklichkeit werde (vgl. 36). Die Argumente für die Beibehaltung der Vateranrede sind freilich recht zurückhaltend formuliert. Die zentrale Stellung des Vaternamens in der Verkündigung Jesu und die Verbindung von Gotteslehre und Christologie kommen nicht deutlich genug zur Geltung. Auch wird Jesu Botschaft in starkem Maße ethisiert, wenn es in der Auslegung zur Bitte »Dein Wille geschehe« heißt, wer »den Spuren Jesu zu folgen versucht«, lasse sich »vom Islam inspirieren, alle seine moralische Kapazität zu nutzen und in seine Umwelt einzubringen. […] In Gebet und Meditation schlage ich mich auf die Seite des Guten« (104). Auch die Bitte um Erlösung von dem Bösen gewinnt bei B. Appellcharakter: »Die Menschheit muss sich zusammenschließen im Kampf gegen das Böse, das in ihrer Mitte soviel Unheil anrichtet.« (193) Aber es ist doch in Geschichte und Gegenwart auch der Kampf gegen das Böse, der Unheil stiftet. Hier sieht das Neue Testament tiefer. Dass der Islam den von Jesus verwendeten Vaternamen streng ablehnt (vgl. 27), wirft außerdem die Frage auf, wie weit man unterstellen kann, dass Judentum, Christentum und Islam denselben Gott anrufen. Das Konzept einer Ökumene der Abrahamsreligionen bzw. des »abrahamitischen Ansatzes« (91), von dem B. spricht, ist jedenfalls fragwürdig. Die Bitte um die Heiligung des Namens Gottes wird ganz ins Anthropologische gekehrt, nämlich in die Aufforderung an den Beter, die Würde des eigenen Namens zu erkennen (vgl. 60 ff.). »Geheiligt werde unser Name von uns selbst, auch mein Name von mir« (57) – das dürfte allerdings wohl kaum den Sinn der Vaterunserbitte treffen. Dennoch: B.s Lektüre des Vaterunsers im interreligiösen wie im säkularen Kontext dient der Horizonterweiterung, die einer dezidiert christlichen Gebetspraxis zugutekommen kann.