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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

950–952

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Höffe, Otfried [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

John Rawls: Politischer Liberalismus.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. X, 204 S. = Klassiker Auslegen, 49. Kart. EUR 24,95. ISBN 978-3-11-037602-9.

Rezensent:

Hans-Jürgen Wolff

Vielschichtige philosophische Werke stiften ihre eigene Unübersichtlichkeit. Wenn so ein Buch zudem jahrzehntelang wohlbegründeten Zu- und Widerspruch findet und der Autor in einem zweiten Werk seine Positionen erläutert, verändert und an neuen Fragen erprobt, entstehen Denklandschaften, für die man sich gute Reiseführer wünscht. Das gilt auch mit Blick auf John Rawls’ Eine Theorie der Gerechtigkeit (1975) und Politischer Liberalismus (1993, auf Deutsch 1998). Erstere hat das Nachdenken über universale Fragen der Politischen Ethik neu fundiert und belebt, Letztere widmet sich speziell westlichen, konstitutionellen Demokratien und der Frage, wie sie trotz ihres unaufgebbaren Pluralismus dauerhafte Stabilität gewinnen können.
Die wünschenswerten Führer zu beiden Werken hat in der Reihe Klassiker Auslegen Otfried Höffe herausgegeben, nach dem Band (3. Aufl. 2013) zu Eine Theorie der Gerechtigkeit (2015) nun auch einen zu Politischer Liberalismus. Er bietet eine gelungene Synthese von Referat, Kommentar und Diskussion.
Zu Beginn stellt O. Höffe »Eine Theorie der Gerechtigkeit« vor und arbeitet die neuen Fragen und Begriffe von Politischer Liberalismus heraus. Er hebt Rawls’ Position von dem in Deutschland mantrahaft rezitierten Böckenförde-Theorem ab, wonach der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selber nicht garantieren kann (von religiösen Antrieben und Bindungskräften seiner Bürger nämlich), was Rawls bestreiten würde. Er versuche im Gegenteil, einen Bereich öffentlicher Vernunft und öffentlichen Diskurses zu kartieren, in dem weltanschauliche Lehren nur gehört werden, wenn und soweit ihre Argumente einem »übergreifenden«, also z. B. auch für Atheisten und Agnostiker überzeugungsfähigen Wertekonsens entsprechen. Nur ein solcher, gegenüber »umfassenden« Lehren von Gut und Böse »freistehender« öffentlicher Konsens und Vernunftgebrauch sichere pluralistischen Gesellschaften ein eigenständiges Fundament und Stabilität – sie sollen nicht von Voraussetzungen leben müssen, die sie nicht garantieren können.
W. Hinsch behandelt die zwei Einleitungen zu Politischer Liberalismus und verteidigt Rawls gegen die Kritik, er sei »auf die falsche Weise politisch geworden« und habe den universalistischen Geltungsanspruch seiner Theorie der Gerechtigkeit zurückgenommen. Er arbeitet heraus, welche Stabilitätsprobleme in der Theorie unberücksichtigt gewesen seien, die die Gerechtigkeit als Fairness im politischen Prozess bedrohten.
P. Koller behandelt mit eindringlicher Kritik die grundlegenden Zielsetzungen, Annahmen und Ergebnisse von Politischer Liberalismus. Er zitiert Rawls’ Leitfrage »Wie kann eine gerechte und stabile Gesellschaft von freien und gleichen Bürgern dauerhaft bestehen, wenn diese durch ihre vernünftigen religiösen, philosophischen und moralischen Lehren einschneidend voneinander geschieden sind?«, und vermerkt zurecht die vielen begrifflichen Deh­nungsfugen darin. Rawls' Annahmen über den Bürger und über das für faire gesellschaftliche Kooperation nötige Wissen und Wollen seien so anspruchsvoll, dass die Konzeption etwas blutleer, überkonstruiert und zirkulär wirke.
A. Pinzani und D. L. Werle vertiefen den Personen- und Bürgerbegriff bei Rawls und dessen grundlegende Unterscheidung zwischen der rationalen und der vernünftigen Person: Nur letztere sei bereit, faire soziale Kooperation auf Gegenseitigkeit vorzuschlagen und freiwillig zu achten. Eine Gesellschaft solch vernünftiger Individuen sei eine realistische Vision und führe institutionell und in der politischen Kultur zu einem vernünftigen Pluralismus. Pinzani und Werle merken an, dass sich (auch) hier der Eindruck einstelle, es herrsche prästabilierte Harmonie.
Daran schließt D. Brantl zu Fragen des Politischen Konstruktivismus an. Den habe Rawls von Kants moralischem Konstruktivismus abzugrenzen versucht, aber die Abgrenzung (nur) von Kant leiste nicht genug, weil die Frage bleibe, ob der Politische Realismus nicht »doch nur ein verschleierter moralischer Realismus« und womöglich zirkulär konstruiert sei.
O. Höffe vertieft die Idee eines übergreifenden, unvernünftige Lehren und Weltanschauungen ausschließenden Konsenses, legt Einrede gegen Rawls’ Anspruch ein, als erster eine »freistehende« Konzeption für liberalen Pluralismus erarbeitet zu haben, und erinnert gegen den Vorwurf der Zirkularität: Rawls wolle die vernünftigen Bürger konstitutioneller Demokratien über sich und ihre Demokratie aufklären, weil das deren Legitimität stärke; das sei praktische Philosopie »im emphatischen Sinne« und komme ohne hermeneutischen Zirkel nicht aus. Nur gehe leider Rawls nicht noch einen Schritt zurück, um auch zu begründen, warum es die konstitutionelle Demokratie überhaupt geben sollte, was sie wertvoll macht. Ein zweites Defizit bleibe, dass Rawls nicht behandelt, wie sich politische Herrschaft überhaupt rechtfertigen lasse.
E. Özmen widmet sich Rawls’ These vom Vorrang des Rechten vor dem Guten und stellt den Bezug zum Stabilitätsproblem her: Das politisch Ge-rechte müsse um der gesellschaftlichen Stabilität willen der Verfolgung des individuell für gut Gehaltenen Grenzen setzen, sonst leide die pluralistische Freiheit.
C. Larmore behandelt die Grundlagen und Grenzen der öffentlichen Vernunft bei Rawls. Er fordere von Bürgern, wenn sie an Wahlen teilnehmen, und von den Inhabern öffentlicher Ämter einen Vernunftgebrauch, der in Einklang mit den politischen Prinzipien steht, die der Verfassung zugrunde liegen und die alle vernünftigen Bürger bejahen und teilen. Auf die Frage, ob dann radikale, die bestehende Ordnung grundsätzlich in Frage stellende Debatten einen angemessenen Gebrauch der öffentlichen Vernunft darstellen, gebe es bei Rawls keine klare Antwort; aber: »Richtig verstanden, verdrängt das Ideal der öffentlichen Vernunft nicht den ungehemmten Austausch politischer Meinungen, an dem man eine lebendige Demokratie erkennt.«
L. H. Meyer behandelt die institutionelle »Grundstruktur« von »Gerechtigkeit als Fairness«, d. h. wie z. B. »die politische Verfassung, die gesetzlich anerkannten Formen des Eigentums, die Wirtschaftsordnung und die Struktur der Familie« ineinander greifen. Die Grundstruktur präge die Lebensperspektiven und das Handeln der Bürger und stifte Stabilität und »prozedurale Hintergrundgerechtigkeit«. Auf globaler Ebene sehe Rawls keine solche Grundstruktur gegeben, und daher distributive Gerechtigkeit auf einzelstaatliche Ge­sell- schaften beschränkt.
C. Horn widmet sich Rawls’ Rechtfertigung des Vorrangs der Grundrechte und Grundfreiheiten vor anderen Prinzipien und Zielen. Rawls begründe ihn zunächst mit Hilfe der rationalen Wahl hinter dem Schleier der Unwissenheit (Eine Theorie der Gerechtigkeit), dann jedoch, in Auseinandersetzung mit H. L. A. Hart, mithilfe eines »politisch-liberalen Personenbegriffs« und gegebener Grundfreiheiten (Politischer Liberalismus). Rawls mache so ein Ideal explizit, das er in der Theorie noch unter dem Schleier der rationalen Wahl verborgen habe. Er frage sich, wann dem Prioritätsprinzip Genüge getan sei – wie lassen sich Grundfreiheiten und andere Werte zu einer optimalen praktischen Konkordanz bringen? Dazu biete Rawls wenig bis nichts. Selbst wenn man als Maßstab Schwellenwerte einführe, lasse sich nicht begründen, welches Quantum Verwirklichung für eine Freiheit ausreiche und wie sich Grundrechte gegeneinander abwägen lassen. Außerdem setze Rawls vor alle Prioritäten das Gebot, zuerst die Existenzsicherung aller Bürger zu gewährleisten, was die Architektonik des Politischen Liberalismus verändere, in dem plötzlich ein Sozialrecht an die Spitze rücke. Vor allem aber vermisst Horn im Politischen Liberalismus eine moralphilosophische Fundierung.
Abschließend stellt O. Höffe die Schrift Das Recht der Völker vor, die Rawls ursprünglich für Politischer Liberalismus habe verwenden wollen und die der Frage nachgehe, nach welchen Grundsätzen die Nationen zusammenleben sollten und realistischerweise auch könnten. Rawls erweitere seine Vertragstheorie auf die internationalen Beziehungen und teile die Völker nach dem Grad der Freiheitlichkeit und Gerechtigkeit ihrer Verfassungen und dem Maß ihrer sozioökonomischen Hilfsbedürftigkeit in mehrere Gruppen ein. Er differenziere auf bedenkenswerte Weise, wie wohlgeordnet arme Gesellschaften sein könnten und wie sehr Hilfsbedürftigkeit oft mit eigenen Fehlern zusammenhänge, und komme da­durch mit Blick auf die distributive Gerechtigkeit zwischen den Völkern zu teilweise anderen Ergebnissen als der westliche Mainstream.
Die Lektüre hinterlässt gemischte Eindrücke, was den Politischen Liberalismus anlangt: Das Künstliche, Komplizierte, Gewollte daran tritt hervor, und die Konturen von Eine Theorie der Gerechtigkeit verschwimmen. Dennoch: Die Fragen, denen beide Werke nachgehen, sind noch drängender geworden angesichts der Krisen in den freiheitlichen Demokratien und in den internationalen Be­ziehungen. Der Weg zu besseren Lösungen führt auch durch Rawls’ Gedankenwelt.