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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

945–948

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dodson, Joseph R., and Briones, David E. [Eds.]

Titel/Untertitel:

Paul and Seneca in Dialogue.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2017. 340 S. = Ancient Philosophy & Religion, 2. Geb. EUR 138,00. ISBN 978-90-04-34135-7.

Rezensent:

Joachim Köhler

Um dem Leser, der den Sammelband in die Hand nimmt, eine Enttäuschung zu ersparen: Den im Titel angekündigten Dialog gab es nicht. Auch wenn die Kirchenväter eine Hinwendung Senecas zum Christentum konstatierten (Tertullian: »saepe noster«) und Paulus angeblich sogar Briefe mit dem Stoiker wechselte, sind sie sich vermutlich nie begegnet. Die römischen Bürger, beide um die große Zeitenwende geboren, wussten wohl nicht einmal voneinander.
Der Dialog, den es nicht gab, wird in dieser Aufsatzsammlung nachgereicht. Dank ihrer tatsächlichen Gemeinsamkeiten lassen sich die beiden in eine Art fruchtbares, wenn auch fiktives Gespräch bringen, das mit dem Ende des 300-Seiten-Buches noch lange nicht zu Ende scheint. Dasselbe gilt für die darin präsentierten Übereinstimmungen. Mit jedem der vierzehn Essays vergrößert sich die Zahl der oft wörtlichen Formulierungen, Metaphern und Gleichnisse, derer Paulus und Seneca sich gleichermaßen bedienten. An ihren Denkfiguren lässt sich kaum ablesen, dass der eine Christ, der andere Heide war.
Nicht ohne Ironie weisen die Herausgeber David E. Briones und Joseph R. Dodson in der Einleitung auf die Gefahren der »Parallelomania« bzw. »Parallelophobia« hin. Wie in der Wissenschaft üblich, stehen den Entdeckungen die strikten Zurückweisungen solcher Entdeckungen gegenüber. Was dem einen als geistige Übereinstimmung erscheint, wird von anderen als Missverständnis oder Übertreibung abgetan. In jedem Fall aber bleibt die Gewissheit, dass sich Philosoph und Apostel zwar nicht persönlich, aber in ihrer ureigensten Intention, dem Heil der Menschheit, weit näher kamen, als dies von ihrer Herkunft und gesellschaftlichen Position zu erwarten war.
Schon in ihren Biographien finden sich unübersehbare Parallelen. Ein Plutarch hätte an diesem »Paar« seine Freude gehabt, wäre Paulus ihm bekannt gewesen. Aber der Grieche hatte nie von ihm gehört, so wenig wie die gewöhnlich gut unterrichteten Philo, Josephus, Quintilian oder Dio. Auch Seneca schweigt über ihn. Dass es überhaupt eine ungefähre Chronologie von Paulus’ Leben gibt, verdankt sich einem römischen Karrierediplomaten. Dieser Mann, der den Heidenapostel um 51 n. Chr. in Korinth vor jüdischer Verfolgung schützte, war Senecas Lieblingsbruder Gallio. Auch dank seiner Intervention konnte Paulus, wie ein Engel des Herrn ihm empfahl (Apg 27,24), den Weg nach Rom zum Gottkaiser antreten. Dass es sich bei diesem ausgerechnet um Nero handelte, war kein himmlisches Versehen. Denn damals regierte der spätere Christenschlächter noch mit der cäsarisch-augusteischen Clementia, die ihn wiederum sein Mentor Seneca gelehrt hatte.
Der verbreiteten Meinung, man habe sich nicht gekannt, wird gleich zu Anfang des Buches widersprochen. »We may reasonably assume«, sagt Harry M. Hine, »that Paul had heard of him. We may also assume that Seneca had heard of the Christians, at least after the Neronian prosecution in 64«. Allerdings muss Hine eine vollkommene »absence of firm evidence« einräumen. Diese gilt für die gesamte Seneca-Paulus-Tradition, die er unter dem augenzwinkernden Titel Paul and Seneca: The first two thousand years referiert. Von Hieronymus, der Seneca im 4. Jh. in seinen Heiligenkatalog aufnahm, bis zu Bruno Bauer, der im 19. Jh. in ihm den heimlichen Hauptanreger der paulinischen Theologie vermutete, lässt sich die theologische Beschäftigung mit den Geistesverwandten nachweisen.
Nicht nur die theologische. Im 14. Jh. war etwa der Autor des Decamerone von Senecas Christentum so überzeugt, dass er dessen von Tacitus berichtetem Selbstmord eine überraschende Deutung gab: Als der sterbende Philosoph seine Freunde mit Wasser be­sprengte und dies für ein Trankopfer an Jupiter den Befreier ausgab, habe er, laut Boccaccio, in Wahrheit Christus den Befreier ge­meint. »The libation was a sort of deathbed baptism«. Im 15. Jh. bot Lefèvre d’Etaples sogar eine Erklärung, warum der Seneca-Paulus- Briefwechsel in einem so primitiven Latein abgefasst sei, dass er einfach nicht echt sein konnte: Der Sprachkünstler Seneca habe bewusst in schlechtem Latein geschrieben, damit er, sollten die Briefe in falsche Hände geraten, seine Autorschaft und damit sein Christsein abstreiten konnte. Eine ähnliche Vorsichtsmaßnahme hatte schon Augustinus bei Seneca vermutet, den er für einen Sympathisanten des neuen Glaubens hielt. Von einer solchen Nähe wollte die Moderne nichts mehr wissen, und im 21. Jh. ging das Interesse der Seneca-Forschung an Paulus weitestgehend zurück. Zugleich stellt Hine fest, dass »Pauline scholars have become in­creasingly interested in Paul’s relationship to Stoicism, including Seneca«. Wofür der vorliegende Band den Beweis liefert.
Nach Hines’ traditionsgeschichtlicher Studie über den »christlichen Seneca« und den »stoischen Paulus« folgen hauptsächlich Beiträge von Theologen. Ist die Nähe des Apostels zur stoischen Diatribe seit Bultmann bekannt, fügt E. Randolph Richards noch die Ähnlichkeiten der Briefsammlungen an, in denen Paulus wie Seneca sich dieses lebendigen Redestils virtuos bedienten. Dass sich auch ihre Botschaften gleichen, führt Richards weniger auf Geis­-tesverwandtschaft als das Wirken des Zeitgeists zurück.
Auch Seneca, der wie Paulus an den allmächtigen und liebenden Gott glaubte, erlebte wie dieser eine persönliche Wandlung, die er als »Transfiguration« bezeichnete. Da diese nicht aus eigener Kraft zu leisten ist, muss man, wie beide mit demselben Wort betonen, den neuen Menschen »anziehen«, um dadurch eins mit ihm zu werden. »Precisely as the wise man for Seneca«, so schreibt Runnar M. Thorsteinsson, »for Paul Jesus Christ was the person to ›put on‹«. Seine Göttlichkeit beweist dieser neue Mensch auch durch die Bereitschaft zum Selbstopfer. Senecas Weiser, so Thorsteinsson, »is ready even to give his life for others«.
Weitgehende Übereinstimmung entdeckt Brian J. Tabb auch in ihrer Deutung des menschlichen Leidens als Erkenntnisweg. Beide, so ergänzt Joseph R. Dodson, gehen so weit, »to depict themselves as having been crucified«. Auch ohne fremde Einwirkung, so betont Seneca, nagelt man sich selbst durch die eigenen Laster ans Kreuz. Was die Sklaverei betrifft, so Timothy Brookins, geben beide sich als Befreier der »Mühseligen und Beladenen« zu erkennen. Wie im Fall der Kreuzigung sehen sie darin nicht so sehr das gesellschaftliche Phänomen als die Versklavung durch die eigenen Sünden. Dagegen kann jeder, der zum neuen Menschsein befreit ist, das reale Sklavesein sozusagen stoisch ertragen, weil er es als göttliche Prüfung erfährt.
Auch in ihrer Sicht der Frauen herrscht zwischen den beiden Rö­mern Übereinstimmung: Angesichts des gemeinsamen Menschseins sind Geschlechtsunterschiede für sie bedeutungslos. Nur die Gleichheit aller Menschen vor Gott ermöglicht auch deren Gemeinschaft mit ihm. Dabei bedienen sich beide Denker, wie Pauline Nigh Hogan zeigt, desselben funktionalen Modells. Sie vergleichen die Beziehung der Menschen zu ihrem Schöpfer mit derjenigen des Körpers zu seinen Gliedern bzw. Organen. Beide sind verschieden, und doch sind die Teile, als Funktionen des Ganzen, eins mit ihm. Oder wie es, fast paulinisch, in Senecas 92. Brief an Lucilius heißt: »Totum hoc quo continemur, et unum est et Deus: et socii sumus eius et membra.« Entsprechend lassen sich bei ihnen auch, wie James P. Ware zeigt, zahlreiche eschatologische Parallen nachweisen. »Re-gard­ing the cosmos, human beings and their future«, so der Autor, »Paul shared more in common with Seneca than perhaps any other ancient philosopher«. Umgekehrt gilt dasselbe: »Seneca shared more in common with Paul than with many of his fellow philosophers« – ein Satz im letzten Essay, der sich wie ein Motto des Buches liest.
Den postumen Dialog zwischen Paulus und Seneca, damit auch zwischen Theologie und Philosophie, haben die Herausgeber und ihre Autoren überzeugend darzustellen gewusst. Eine der überzeugendsten Parallelen haben sie allerdings übersehen. Über das Gewissen, das bei Paulus wie Seneca und durch sie im gesamten modernen Menschenbild eine zentrale Stelle einnimmt, findet sich im ganzen Sammelband so gut wie nichts. Tatsächlich stellt das Gewissen für beide die Instanz dar, die dem Menschen Unabhängigkeit vom moralischen Urteil der Außenwelt schenkt, ihn dafür aber auch zur Rechenschaft über seine Taten zieht. Deshalb rufen beide zur Gewissenserforschung auf, verbunden mit der eindringlichen Warnung vor der »mala conscientia«. Genau genommen handelt es sich beim Gewissen sogar um eine Gemeinsamkeit, die Paulus mit dem Heiden verbindet, während sie ihn von den anderen Aposteln trennt. Denn in den Evangelien findet sich so gut wie nichts darüber.
Zwangsläufig unbeantwortet bleibt auch die Frage, wer auf wen Einfluss genommen hat. Man konstatiert, wie die Herausgeber formulieren, »the striking resonances between Seneca’s writings and Pauls’s letters«, ohne sich darauf festzulegen, wer den Ton und wer die Resonanz gegeben hat. Vielleicht ist aber schon die Frage falsch gestellt. Denn neben der einseitigen oder gegenseitigen Beeinflussung lässt sich auch ein drittes Modell vorstellen, das heilsgeschichtliche. Danach wären beide, Paulus wie Seneca, unabhängig voneinander zu Verkündern der Weltbefreiung geworden. Nicht länger wäre nur die prophetische Tradition des Judentums, sondern auch die sokratische der griechisch-römischen Philosophie Verkünderin jenes großen Advents gewesen, der mit Christus die Weltgeschichte in zwei Teile teilte. So verstanden, ließe sich die gemeinsame Botschaft des Apostels und des Philosophen in einem einzigen Satz zusammenfassen: »Gott und Mensch sind verschieden – das Göttliche und das Menschliche aber eins.«