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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

938–940

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Becker, Matthew L. [Ed.]

Titel/Untertitel:

Nineteenth-Century Lutheran Theologians.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 359 S. = Refo500 Academic Studies, 31. Geb. EUR 100,00. ISBN 978-3-525-55130-1.

Rezensent:

Wilhelm Hüffmeier

Der Band vereint 16 Essays über zwölf deutsche, zwei dänische, einen schwedischen und einen amerikanischen lutherischen Theologen des »long nineteenth century«, deren »thinking«, so der Herausgeber, »might have a continuing significance for contemporary theological reflection« (7). Dass in den Band auch der reformierte Theologe Friedrich D. E. Schleiermacher und der lutherische Philosoph Georg W. F. Hegel aufgenommen sind, begründet der Herausgeber mit deren – neben Kant – »greatest influence upon the development of modern intellectual history« (8).
In Teilen auf eine Serie in der Zeitschrift »Lutheran Quarterly« zurückgehend, ist das Buch die rückwärts gewandte Fortsetzung der Publikation von Mark C. Mattes (Ed.), Twentieth-Century Lutheran Theologians, Refo500 Academic Studies, Vol. 10, von 2013 (s. ThLZ 139 [2014], 487–489). Die aus kurzen, teils auch längeren psychographischen Biographien, pointierter Werkanalyse und »conclusions« zusammengesetzten Essays richten sich primär an ein englischsprachiges Publikum. Aber die besondere Zielsetzung des Buches, aufzuzeigen, wie die porträtierten Theologen luthe-risches Denken in ihrer Zeit repräsentiert haben, welche ihrer Gedanken zukunftsweisend sind und wo sie sich in Sackgassen begeben haben, weckt wohl auch hierzulande Interesse. Die Zielsetzung unterscheidet den Band von den klassischen Theologiegeschichten des 19. Jh.s Karl Barths und Emanuel Hirschs, aber auch der neueren von Jan Rohls, in denen im Übrigen ein Gutteil, bei Hirsch fast alle hier in den Blick gerückten Theologen berücksichtigt sind.
In der Einleitung gibt der Herausgeber Matthew L. Becker einen Überblick über das Projekt, zeigt unter Rückgriff auf Luther selbst, auf die vier »sola« lutherischer Theologie, die Bekenntnisschriften und die alt-lutherische Orthodoxie die intellektuellen Quellen des Luthertums auf, begründet die Auswahl der 16 Theologen und nennt drei Kernfragen, die sich ihnen im 19. Jh. stellten: die durch Kant aufgeworfene Erkenntnisproblematik, die Erschütterung der Autorität der Bibel und des Bezugs auf Jesus als Heilsmittler durch die historische Kritik sowie die Infragestellung der theologischen Anthropologie (Geschöpflichkeit, Sündersein etc.) durch Humanismus und Atheismus (7–21).
Das breite Spektrum möglicher Bezugsgrößen zur Bestimmung dessen, was lutherisch ist, zeigt nun allerdings einen sehr weiten Raum an. Darin haben nach Schleiermacher (23–40) und Hegel (41–66) Ferdinand Chr. Baur (87–98) mit der historisch-kritischen Me­thode und seiner dialektischen Geschichtsschreibung des apos-tolischen Christentums, Johann T. Beck (121–142) und Johannes C. K. von Hofmann (189–212) mit ihrem spirituellen bzw. heils-geschichtlichen Biblizismus ebenso Platz wie das Konkordien-Luthertum (Missouri-Synode) Carl F. W. Walthers (213–230), der lutherische Neukonfessionalismus von Gottfried Thomasius (99–120), Adolf von Harless (143–176), Wilhelm Löhe (177–188), Theodosius Harnack (255–274) und Charles P. Krauth (295–308). Nicht zuletzt gehören in diesen weiten Raum Nikolai F. S. Grundtvigs volkskirchliches (67–86), Martin Kählers Unions-Luthertum (309–326), die spezielle Reich-Gottes-Theologie Albrecht Ritschls (275–294), Sören Kierkegaards geistige Vertiefung lutherisch geprägter Erweckungsfrömmigkeit (231–254) und schließlich Nathan Söderbloms theologisches Werk (327–350).
Für Schleiermacher stellt Christine Helmer heraus, dass und wie das existenzielle Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit des Christen allein durch das verbum externum als Kommunikation von »Christ’s person that is also his work of redemption« (38) bestimmt ist. Zu bedauern ist allerdings, dass Schleiermachers kritisch-konstruktiver Umgang mit den Bekenntnisschriften nicht in den Blick kommt. Am Ende der Darstellung des Einflusses lutherischer Theologumena (Inkarnation, Kreuz und Auferstehung) auf die Religionsphilosophie Hegels bemerkt Mark Mattes kritisch: »Hegel’s view of the absolute […] is fundamentally incompatible with such Lutheran distinctives as grace, faith, and the distinction between God and the world, and person and works« (65). Für das konfessionelle Neuluthertum in Deutschland und in den USA werden als Gemeinsamkeiten der Widerstand gegen den theologischen Rationalismus, die Ablehnung der lutherisch-reformierten Unionen und die Neuprofilierung der Lehre herausgestellt. Lehrmä-ßig geht es um christologische und ekklesiologische Fragen zum Abendmahl ( Hans Schwarz zu Thomasius), zu Gesetz und Evangelium (Lutz Mohaupt zu Harless) und Amt und Gemeinde (David Ratke zu Löhe), aber auch um Luthers Theologie selber (Christoffer Grundmann zu Th. Harnack). Es konnte jedoch auch zu innerlutherischen Konflikten kommen, z. B. mit Hofmans trinitätstheologischer Kritik an der Satisfaktionslehre auch Luthers (M. L. Becker, 197 ff.). Christoph Barnbrock bzw. Mark Oldenburg zeichnen Walthers, aber auch, leicht abgemildert, Krauths mit biblischer Ver-balinspiration gepaarten ekklesiologischen Exklusivismus nach, der Abendmahlsgemeinschaft auch zwischen unterschiedlich luthe-rischen Kirchentümern unmöglich macht. Andererseits wird Walthers Vorlesungen über »The proper distinction of Law and Gospel« (228 f.) bleibender Einfluss bis heute attestiert.
Anders Holm und Carl S. Hughes erinnern an Grundtvigs und Kierkegaards Kritik der dänischen Staatskirche. Positiv indessen verstehe Grundtvig Kirche als aus der Taufe und dem apostolischen Glaubensbekenntnis wachsende Gemeinschaft der Gläubigen, die durch Predigt und Abendmahl, vor allem Lieder, wie Grundtvig selber sie schrieb, genährt wird. Das steht nur zum Teil in Spannung zu Kierkegaards radikalem Verständnis des Christseins. Weil aber Kierkegaard »calls for a renewed emphasis on love of God and characterizes this love in passionate, erotic terms« (251), kommt er dem Grundtvigschen Romantizismus doch sehr nahe. Anthropologisch findet sich bei Grundtvig »a milder view of humankind and human existence« (80), worauf wohl der Beiname des »vergnügten Christentums« für den Grundtvigianismus zurückgeht. Der Bibelfrage entzieht sich Grundtvigs Kirchenbegriff, während Kierkegaard die historische Kritik souverän überspringt.
Darrell Jodock legt – anders als etwa Barth – den Schwerpunkt in Ritschls Theologie auf den Vorgang der Rechtfertigung und die theologische Metaphysikkritik, während Carl E. Braaten bei Kähler dessen Neubegründung der Christologie (der gepredigte biblische Christus gegen die liberale Jesulogie) und sein missionstheologisches Anliegen herausstellt. Die bibelwissenschaftliche Aporie der Kählerschen Position, wie das biblische Bild Christi, der kerygmatische Christus, entsteht, Kernfrage der sogenannten Neuen Frage nach dem historischen Jesus, wird jedoch leider nicht thematisiert.
Einen Höhepunkt des Buchs bildet der Essay von Dietz Lange über Nathan Söderblom mit der Hervorhebung der Bedeutung des Heiligen, dem der Mensch in so gut wie allen Religionen in Furcht, aber auch Zuneigung gegenübersteht. Für das Miteinander der Konfessionen und Religionen und nicht zuletzt der Nationen hat Söderblom die schönen Formeln von »contest« und »cooperation« in einer »unity in variety« geprägt (345 u. 347). Der Essay wäre eine Entdeckung, wenn der Autor seine Forschungen zu Söderblom nicht hierzulande durch Aufsätze, eine Biographie und eine Werkausgabe in deutscher Sprache eindrücklich bekannt gemacht hätte. Aber das Buch hat ja primär englisch-sprachige Adressaten im Blick.