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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

908–910

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Moessner, David Paul

Titel/Untertitel:

Luke the Historian of Israel’s Legacy, Theologian of Israel’s ›Christ‹. A New Reading of the ›Gospel Acts‹ of Luke.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. XII, 373 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 182. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-025539-3.

Rezensent:

Knut Backhaus

David Paul Moessner, Bradford Chair of Religion der Texas Chris-tian University, bereichert die Acta-Forschung seit Langem mit sorgfältigen, meist komparativ angelegten Studien. Eine repräsentative Auswahl seiner Aufsätze legt er in diesem Sammelband vor. Die im Untertitel etwas aufdringlich kursivierte Wendung »New Reading« ist allerdings irreführend. Die Aufsätze sind zwischen 1983 und 2016 geschrieben worden. Selbst der Beitrag (die Stilprobe mag nicht schaden) »Chapter Seven: A New Reading of Luke’s ›Gospel Acts‹: Acts as the ›Metaleptic‹ Collapse of Luke and Dionysius of Halicarnassus’s Narrative ›Arrangement‹ (οἰκονομία) as the Hermeneutical Keys to Luke’s Re-Visioning of the ›Many‹« beruht auf bereits bekannten Aufsätzen. Zwar hat M. allerlei Verbindungstexte geschrieben. Diese wirken jedoch eher redundant als innovativ. Eine stringent neue Lesart hat sich dem Rezensenten nicht er­schlossen.
Eingangs gibt M. die Einsicht vor, die ihm in vielen Jahren gereift ist: Die lukanische Darstellungsabsicht wird verstanden, wenn Lk und Apg als Sequenz im Rahmen der griechisch-römischen Literatur gelesen werden. In Gestalt von hellenistischer Geschichtsschreibung bietet Lukas die erste »Biblische Theologie« des Christentums. Eine erste Studie gibt die den Band prägende Perspektive vor. Sie untersucht den Erzählzusammenhang des Doppelwerks mit Schwerpunkt auf dem die beiden Einzelschriften durchziehenden Reisemotiv. Das dritte Evangelium, so folgert M. aus seinen Beobachtungen, sei aufgrund des Zusammenhangs mit Apg nicht als Bios zu verstehen, sondern als Historiographie. Deren Schlüssel liege im Aufweis eines sich im Geschehensverlauf abzeichnenden Gesamtplans ( πρόνοια, γνώμη, τύχη, in Lk/Apg: δεῖ). Im Licht der biblischen Schriften wird Jesus als Israels Messias enthüllt, dessen Fortgang mit innerer Notwendigkeit auf das in Apg belegte Zeugnis der Kirche verweist. Eine zweite Studie rundet diese teils gattungskritische, teils geschichtstheo-logische Sicht in Auseinandersetzung mit Charles H. Talbert ab: Hatte die-ser die Sequenz Lk/Apg unter biographischem Gesichtspunkt als generische Einheit erklärt, so besteht M. auf historiographischen Gattungsmerkmalen. Mir scheint dieser Streit um »pidgeon holes« wenig fruchtbar. Zu fragen ist vielmehr, wie sich die bio- und historiographischen Erzählmerkmale in einem Gattungshybrid zueinander verhalten. Hier hatte Talbert immerhin die phi­losophischen Stifterviten des Doxographen Diogenes Laertios als generische Analogie zu Lk/Apg ins Spiel gebracht – ein eleganter Lösungsvorschlag, den M. aber nicht diskutiert.
Die beiden folgenden Studien untersuchen mit philologischer Akribie die Semantik von Lk 1,1–4, näherhin die Wendung παρηκολουθηκότι ἄνωθεν πᾶσιν ἀκριβῶς und das Adverb καθεξῆς. Der Verweis auf das »Nachgehen« (so eine verbreitete deutsche Übersetzung) beansprucht, wie der Vergleich mit Demosthenes und Josephus zeigt, eine durch Erfahrung erworbene Vertrautheit mit und sachkundige Nähe zu der je beschriebenen geschichtlichen Bewegung. Anstelle der gängigen Deutung, die das παρακολουθεῖν des Lukas auf seine Recherchearbeit bezieht, schlägt M. die Übersetzung »as one who has a thoroughly informed familiarity with all the events from the top« vor. Das Adverb καθεξῆς bringt das Erzählganze des Doppelwerks in seinem Richtungssinn zum Ausdruck. Es ist dieses Gesamtverständnis des Heilsgeschehens, das die lukanische Geschichtsschreibung – im Unterschied zu den πολλοί, die es bisher versucht haben (vgl. Lk 1,1) – als sachlogisches Ordnungshandeln auszeichnet.
Die drei folgenden Aufsätze korrelieren das Opus Lucanum mit vergleichbaren Werken der hellenistischen Literatur: Polybios, Diodorus Siculus und Dionysios von Halikarnass. Polybios und Lukas nutzen die Erzählfigur des Synchronismus als Sinnanzeiger, die das Providentielle im Geschichtsverlauf markieren sollen. Wie Diodorus Siculus bedient sich Lukas einer leserlenkenden Erzählökonomie, die die Bedeutung des geschilderten Geschehens erhellt. Mit Dionysios von Halikarnass teilt Lukas die Strategie einer sinnstiftenden Segmentierung und Anordnung des Erzählstoffs. Sie schlägt sich vor allem in der parallelen Gestaltung des Wirkens Jesu in Lk und des Wirkens der Jesus-Zeugen, namentlich des Paulus, in Apg nieder. Der erhöhte Kyrios beherrscht subtil die gesamte Erzählwelt der Apg (vgl. als »metaleptic transumption« Apg 1,4 f.).
Es folgen drei christologisch akzentuierte Beiträge: Lk 9,1–50 blendet voraus auf die deuteronomische Tradition vom »Propheten wie Mose« und das Exo-dus-Drama, wie sie für Lukas im Christus-Geschehen endzeitliche Erfüllung finden. Die beiden Schriften des Doppelwerks werden durch das deuterono-mistische Leitmotiv vom gewaltsamen Geschick der Propheten zusammengehalten: Der leidende Messias steht in einer Linie mit Petrus, Stephanus und Paulus, die sein Verwerfungsschicksal teilen. Außer dem Propheten Joel entnimmt die Pfingstrede des Petrus in Apg 2 den prophetisch verstandenen Psalmen der Septuaginta (ψ 15; 109) die Deutungsmuster, die Gottes Heilswillen verstehbar machen, sodass David zum »trailblazer« des Messias-Geschicks wird.
Zwei heilsgeschichtlich akzentuierte Beiträge beschließen den Band: Lukas stellt nicht nur die letzte Reise des Paulus parallel zum Weg Jesu nach Jeru-salem dar, sondern lässt den Völkermissionar, auch darin Jesus ähnlich, als Prediger der endzeitlichen Umkehr Israels auftreten. Oscar Cullmann, der Heilsgeschichtler unter den Exegeten, hat ausgerechnet Lk/Apg, dem heils-geschichtlichen Standardwerk im Neuen Testament, nur geringe Aufmerksamkeit gewidmet. M. zeigt, dass Cullmann noch unter dem für seine Zeit kennzeichnenden theologischen Misstrauen gegen den lukanischen Erzählentwurf stand. Demgegenüber betont er, dass die Parallelen zwischen der paulinischen und der lukanischen Geschichtstheologie (Bedeutung des Paulus, endzeitliche Spannung zwischen schon jetzt/noch nicht, Dynamik der Verhärtung, Transformation der Einsichten in Gottes Heilsplan, Bedeutung des Jesaja) weiter reichen, als gewöhnlich gesehen wird. Der abschließende Beitrag zieht die Bilanz: Das lukanische Doppelwerk konfiguriert die christliche Ur-geschichte, um im Modus des historiographischen Erzählens deren christo-logische Sinnspitze einsichtig zu machen. Vor allem die intertextuelle Verweisstruktur und die eschatologisch überbietende Rekurrenz mit »alttestamentlichen« Stoffen geben der Geschichte ihren biblischen Richtungssinn, der auf Israels Messias zielt.
Aus der Inhaltswiedergabe gehen die Verdienste der Aufsatzsammlung hervor. Es ist zu begrüßen, dass M. seine gelehrten und in­struktiven Arbeiten zum hellenistischen Historiographen Lukas in handlicher Form zur Verfügung stellt. Ein Genuss ist die Lektüre des Gesammelten freilich nicht: Die plerophoren Überschriften wirken wie syntaktisch unvollständige Abstracts. Der Leser muss sich durch teilweise überschraubten Satzbau, Wälder von Anführungszeichen und nutzlose Abstraktwendungen mühen, um nach überkomplexen und oft wiederholten oder variierten Gedankengängen einen Erkenntnisgewinn zu erzielen, der weniger Mühe wert gewesen wäre. Die Beschreibungssprache ist eher prätentiös als präzise. So wirkt, um es bei diesem einzigen Beispiel zu belassen, der häufige Verweis auf die lukanische »Epistemologie« anachro-nistisch. Wenn Lukas im Ergebnis als Historiker von Israels Hinterlassenschaft (»legacy«) gezeichnet wird, wünschte man von M. Auskunft zu der Frage: Ist Israel tot?
Am Ende sei eine Ärgerlichkeit notiert: Der Verlag stellt dem Band »praise« von sieben ausgewählten Zeugen voran. Erwartungsgemäß loben die renommierten Fachkollegen den Band. Die »testimonials« wirken jedoch mangels eines Sachzusammenhangs eher peinlich-reklamehaft als informativ. M. hat sich im exegetischen Fach genug Ansehen erworben, um durch seine Arbeit selbst Zeugnis zu geben, und für die Leser sollte das Urteil der BZNW-Herausgeber hinreichend tragfähig sein. Der Verlag De Gruyter wäre gut beraten, die US-amerikanische Unart des bestellten Gefälligkeitslobs nicht zu importieren.