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Ausgabe:

September/2017

Spalte:

884–885

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Winiarczyk, Marek

Titel/Untertitel:

Diagoras of Melos. A Contribution to the History of Ancient Atheism.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. XVIII, 224 S. = Beiträge zur Altertumskunde, 350. Geb. EUR 89,95. ISBN 978-3-11-044377-6.

Rezensent:

Wolfgang Will

Die Liste derjenigen, die im Altertum als Atheisten bezeichnet wurden, ist lang und enthält illustre Namen. Sie reicht von Aischylos, Aristoteles und Aspasia über Empedokles, Epikur und Euripides bis hin zu Thales, Theophrast und Thukydides. Die weitaus meisten Belege gibt es dabei für Diagoras von Melos, dem lange Zeit, angefangen bei Aristophanes über Cicero und die Kirchenväter bis zur frühen Neuzeit, der Ruf anhing, der größte Gottesleugner gewesen zu sein. Mit der Aufklärung des 18. Jh.s wurde er dann auch zum ersten Atheisten moderner Vorstellung.
Zwei Zeitgenossen erinnern an den Atheisten, der Redner Lysias (bzw. ein Anonymus dieser Zeit) und der Komödiendichter Aris­tophanes. Zumindest Letzterer scheint ihn auch persönlich ge­kannt zu haben, denn er erwähnt ihn in drei seiner elf erhaltenen Dramen zwischen 423 und 405. Expressis verbis wird er allerdings von keiner dieser Quellen als átheos betitelt. Ps.-Lysias (Gegen Andokides 17; ca. 399 v. Chr.) sagt von einem Gegner, er sei noch gottloser (asebésteros) als Diagoras gewesen, Aristophanes zitiert aus einem Fahndungsaufruf der Athener gegen den geflohenen Diagoras (Die Vögel V 1071–1078) und bezeugt in den Wolken (V 826–830) wie in den Fröschen (V 318–320), dass dieser die Existenz der griechischen Götter bestritt. Mit dem Beinamen átheos erscheint der Melier zuerst bei Cicero (nat. deor. 3.89), doch weist diese Benennung im 1. Jh. v. Chr., wie auch der Zeitgenosse Diodor (13.6.7) belegt, schon eine lange Tradition auf. Das Attribut verliehen ihm, auch wenn Zeugnisse fehlen, sicherlich schon die Zeitgenossen, doch bedeutet dies zunächst nur, dass Diagoras die angestammten Götter leugnete, gegen die vom Staat anerkannten religiösen Bräuche verstieß, »ehrlos«, »ruchlos« oder »gottverlassen« handelte.
Die neuere Geschichte des Diagoras beginnt 1959 mit dem berühmt gewordenen Aufsatz von Felix Jacoby, dem Herausgeber der vielbändigen Fragmente der griechischen Historiker, »Diagoras ὁ Ἂθεος« (Abh. d. Deutsch. Akad. d. Wiss., Kl. f. Sprach., Lit. u. Kunst Nr. 3). In seiner letzten Arbeit überhaupt suchte Jacoby auf der Basis der gesamten literarischen Tradition Diagoras aus wissenschaftlicher Sicht als den ersten radikalen Atheisten zu erweisen, einen Philosophen, der über den Agnostizismus eines Protagoras hinausgehend die Existenz von Göttern grundsätzlich bestritten habe. Widerspruch kam schon in der ersten Besprechung von F. Wehrli (Gnomon 33, 1961, 123–126) und riss seitdem nicht ab. In erster Linie wandte sich der polnische Altphilologe Marek Winiarczyk, Professo r an der Universität Warschau, in einer ganzen Reihe von Auf-sätzen gegen die Auffassungen Jacobys. Unbestritten ist W., von dem auch die Teubner-Ausgabe der Fragmente und Testimonien stammt (Berlin 1981), heute der beste Kenner der Materie. Freilich ist das Eis, auf dem hier alle Philologen streiten, mehr als dünn, denn was von und über Diagoras überliefert wird, ist in nahezu allen Aussagen umstritten, über Hypothesen ist kaum hinauszugelangen.
Das vorliegende Buch ist Zusammenfassung und Essenz der jahrelangen Beschäftigung W.s mit dem Thema. Es beginnt mit einer Einführung in den augenblicklichen Stand der Forschung, trägt also auch der Aktualität Rechnung. Danach folgt eine Einzelanalyse der wichtigsten Quellen von der Komödiendichtern bis hin zur arabischen Überlieferung. Den ersten kleineren Hauptteil bildet das Leben des Protagonisten, das, sowohl was die Datierungen als auch die vielen Aufenthaltsorte des Meliers betrifft, nicht weniger umstritten ist. Kern des Buches ist aber die Frage nach dem Atheismus des Diagoras, welche die Frage nach der Authentizität der beiden diesem zugeschriebenen Werke, den (vermutlich) atheis­tischen Apopyrgízontes Lógoi und den Phrýgioi Lógoi, einschließt. Die Schwierigkeiten, die sich dabei ergeben, beleuchtet bereits der Umstand, dass bei ersterem Werk schon allein die Übersetzung des Titels – ἀποπγργίζω ist ein Hapax legomenon – unklar ist. W. hält gegen Jacoby beide Werke für apokryph und schreibt sie dem frühen 4. Jh. bzw. dem Hellenismus zu. In der Konsequenz kommt er zum Ergebnis, dass Diagoras, von dem auch Verse überliefert sind, nicht als Philosoph betrachtet werden kann, sondern als (eher mittelmäßiger) lyrischer Dichter.
Der inhaltliche Teil endet mit einer Diskussion über den Verfasser des 1962 gefundenen sogenannten Derveni Papyrus, eine vermutlich aus der 2. Hälfte des 5. Jh.s stammende Schrift, welche die Jenseitsvorstellungen der Zeit beleuchtet, sowie den Conclusions. Drei Appendizes zu Diagoras’ Atheismus, zu antiken götterkritischen Äußerungen sowie zu Quellen über Strafen, welche die Götter für gottloses Verhalten verhängten, dazu eine umfassende Bibliographie und mehrere Indizes schließen das Buch ab.
Sicherlich werden einige Ergebnisse, insbesondere zum Curriculum vitae, ihrerseits auf Widerspruch stoßen. So liegt es beispielsweise nahe, die Verspottung der eleusinischen Mysterien im Zu­sammenhang mit der Vernichtung von Melos, der Heimatinsel des Diagoras, als einen politischen Angriff auf die Großmacht Athen zu sehen, die mit Todesurteil und einer seebundweiten Fahndung reagierte. Doch insgesamt stellt die Monographie, die sich auf hohem philologischen Niveau bewegt, eine der wichtigs­ten Publikationen zu Diagoras und mit diesem zum antiken Atheismus dar. Im zentralen Anliegen seiner Forschung, nämlich an­hand der überlieferten Zeugnisse zu zeigen, dass der Titelheld kein Atheist im radikalen Sinne der Moderne war, überzeugt W. Freilich kann er nur belegen, dass die Quellen einen solchen Schluss nicht zulassen. Ob Diagoras wirklich ein Atheist war oder nicht, das wissen allein die Götter.