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Ausgabe:

Juli/August/2017

Spalte:

742–745

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Bänziger, Thomas

Titel/Untertitel:

»Jauchzen und Weinen«: Ambivalente Restauration in Jehud. Theologische Konzepte der Wiederherstellung in Esra-Nehemia.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2014. 308 S. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-290-17764-5.

Rezensent:

Sebastian Grätz

Neben der Frage einer historischen Analyse der Bücher Esra und Nehemia tritt seit einiger Zeit verstärkt diejenige nach deren theologischer Konzeption in den Vordergrund: Welche theologischen Vorgaben liegen dem Werk gegebenenfalls vor und wie werden diese (innovativ) verarbeitet und wie können diese gegebenenfalls Autoren- bzw. Tradentenkreisen zugeordnet werden? Die Studie von Thomas Bänziger-Eiche, die, von H. Klement betreut, am Séminaire Libre de Théologie à Genève (unter Verantwortung der STH Basel) 2013 als Dissertation angenommen wurde, widmet sich zu­vorderst der erstgenannten Fragestellung. Ausgehend von einem synchronen Zugang verfolgt der Vf. die These, dass das Esra-Ne-hemia-Werk als solches passend im Rahmen der Kategorie der Ambivalenz zu beschreiben und zu erfassen sei. D. h., die in dem Text verarbeiteten Erfahrungen würden nicht einlinig, sondern als zwischen Polen oszillierend beschrieben. Dieses Konzept ist in der Tat alttestamentlichen Texten nicht fremd, wie bereits der Blick auf die sogenannte Thronfolgeerzählung zeigt, so dass dieser Zu­gang zu einem weiteren Erzählwerk, hier Esr-Neh, durchaus als legitim erscheint. (Dieser Versuch, Ambivalenzen in Esr-Neh aufzuzeigen, ist nicht der erste: vgl. insbesondere J. G. McConville, Ezra-Nehemiah and the Fulfillment of Prophecy, VT 36 [1986], 205–224, auf den der Vf. im Laufe der Studie auch mehrfach eingeht.)
Nach einer kurzen Darstellung der Forschungsgeschichte und der Skizze der eigenen Vorgehensweise im Rahmen eines Einleitungskapitels (11–47) erörtert der Vf. seine These anhand von vier Themenkreisen, die die gegenwärtige Gestalt von Esr-Neh geprägt hätten: 1. »Wiederherstellung als Bundeserneuerung«; 2. »Wiederherstellung als aktualisierte Heilsgeschichte«; 3. »Wiederherstellung als erfüllte Heilsprophetie«; 4. »Wiederherstellung als Wiederaufbau«. Ein Schlusskapitel ist dem Ertrag der Arbeit gewidmet. Dass das Thema der »Bundeserneuerung« den Anfang macht, er­scheint plausibel, da zu dieser Fragestellung bereits reichlich Vorarbeiten greifbar sind. So ist vor allem H. Williamson der wichtigs-te Gewährsmann, dem der Vf. in dessen Auffassung, dass Neh 8–10 der theologische Höhepunkt des Gesamtwerks sei, im Wesentlichen folgt. So sei der Bund, von dem in Esr-Neh die Rede ist, der eine Sinaibund, die Vorstellung eines neuen Bundes gebe es nicht, so dass es letztlich um eine Bundeserneuerung gehe. Gerade in der Spannung, die zwischen Bundeserneuerung und neuem Bund (im Sinne von Jer 31,31 ff.) bestehe, sieht der Vf. nun die Ambivalenz der bundestheologischen Konzeption in Esr-Neh: Da die Bußgebete in Esr 9 und Neh 9 deutlich machten, dass man immer noch im »Zustand der Knechtschaft« verweile, entstehe gewissermaßen eine inhaltliche Differenz zur Vorstellung eines neuen Bundes, der auf die Herzen der Menschen geschrieben werde und daher eine wirklich neue Epoche einleite (vgl. 118–120). In diesem Lichte sei auch das »ambivalente Buchende« in Neh 13 zu verstehen.
Es ist indes die Frage, ob diese Konzeption des neuen Bundes tatsächlich immer im Hintergrund mitläuft, wie vor allem C. Karrer-Grube vermutet, oder ob nicht der Rekurs auf den einen Sinaibund, der, wie der Vf. zu Recht herausarbeitet, in Esr-Neh engstens mit der Tora verbunden ist, für die antiken Autoren von Esr-Neh nicht das ernstzunehmende Ziel ihrer Darstellung ist – nämlich das redliche Bemühen, diesen Bund wirklich zu halten angesichts der Erkenntnis des geschichtlichen und immer wieder möglichen Scheiterns. Ambivalenz entstünde dann weniger erst im Gegenüber zu einem (eschatologischen) neuen Bund nach Jer 31, sondern vielmehr bereits in der Wirklichkeitserfahrung einer sich formenden Gemeinschaft. Hier ließe sich m. E. auch gut der apologetische Zug, der weite Teile der Nehemiaschrift und nicht zuletzt Neh 13 prägt, unterbringen: Die konsequente Anwendung (der zuvor entsprechend interpretierten) Tora zeitigt schmerzhafte gesellschaftliche Einschnitte, die selbstverständlich nicht unwidersprochen bleiben.
Der folgende zweite Hauptteil ist der »aktualisierten Heilsgeschichte« in Esr-Neh gewidmet. Das Kapitel ist in drei Teile ge-gliedert, die sich den Themen »neuer Exodus und Periodisierung«, »aktualisierte Heilsgeschichte im Festkalender« und »Toralesung in Neh 8« widmen. Beim ersten Thema fragt der Vf. zunächst nach der Rezeption der Exodusthematik in Esr-Neh, wobei er m. E. zu Recht Analogien im Numeribuch beobachtet und auf eine wei-tere sehr interessante Parallele hinweist, der er aber nicht en detail nachgeht: »Die Doppelung der Liste in Esr 2 und Neh 7 könnte eine Analogie zur Doppelung der Liste in Num 1 und 26 darstellen.« (131)
Im Rahmen der Periodisierung folgt der Vf. im Wesentlichen dem Modell von S. Japhet, das das Buch Esr-Neh in zwei Phasen bzw. Perioden (Esr 1–6 einerseits, Esr 7–10; Neh 1–13 andererseits) gliedert und zu einem historischen Ablauf zwischen 540 und 430 v. Chr. kommt. Der zweite Teil geht den in Esr-Neh beschriebenen Festen nach, wobei insbesondere die Analogien zu den hexateuchischen Stoffen (Dtn 31,10 f.; Jos 8,30 ff.) herausgearbeitet werden. Dies gelte auch für Neh 8, dem Kapitel, in dem die Toralesung beschrieben und mit dem Sukkot-Fest verbunden wird. Aufgrund der intertextuellen Bezüge zu Dtn 31,9 ff. und Jos 8,30 ff. sieht der Vf. in Neh 8 den Gedanken der abgeschlossenen Landnahme aufgenommen, so dass sowohl das Exodusgeschehen als auch die Landnahme als heilsgeschichtliche Marksteine in Esr-Neh reflektiert und neu kontextualisiert seien. Dabei sieht der Vf. – nahe dem deuteronomistischen Denken – den Gehorsam gegen die Tora als Kriterium des Gelingens der neuen Landnahme. Nur so könne die Tora die in Neh 8,10 genannte ideelle Schutzmauer ( mā‘ôz) sein.
Der sich anschließende dritte Hauptteil, »Wiederherstellung als erfüllte Heilsprophetie«, ist konsequenterweise nun der Aufnahme der prophetischen Tradition in Esr-Neh gewidmet. Entsprechend der bereits im zweiten Teil vermuteten Nähe zum Jeremiabuch (s. o.), die sich vor allem in Esr 1,1 ff. – mit T. Willi u. a. – zeige, biete sich eine Lektüre von Esr-Neh vor dem Hintergrund des Jeremiabuches an. Der Vf. geht indes nicht so weit wie C. Karrer-Grube, die das Gesamt von Esr-Neh als Erfüllung des Jeremiabundes versteht. Vielmehr seien die ausbleibenden Verheißungen wiederum im Rahmen von erfahrener Ambivalenz beschrieben worden.
Um diese (Kern-)These zu untermauern, werden die beiden großen Bußgebete (Esr 9; Neh 9, mit Blick auch auf Dan 9) im Folgenden etwas genauer in den Blick genommen, wobei vermutet wird, dass Esr-Neh die angebrochene Zeit zwar als neue Epoche deute, aber die Zeit der Knechtschaft noch nicht vorüber sei. Da die Propheten Haggai und Sacharja in Esr 5 f. auftreten, wird ihnen noch ein eigener, das Kapitel beschließender Abschnitt zugedacht: Der Vf. konstatiert dabei, dass Esr-Neh zwar auf die Person Sacharjas, nicht jedoch auf den Inhalt seiner Prophetie verweise. Gleichwohl fördere der intertextuelle Vergleich Ähnlichkeiten zutage, da in beiden Literaturen die Heilszeit als noch nicht angebrochen betrachtet werde. Insbesondere der fehlende König bzw. die fehlenden Königserwartung in Esr-Neh falle hier ins Gewicht. Der Vf. geht dieser Frage in einem eigenen Unterkapitel nach und vermutet mit S. Japhet, dass die Autoren von Esr-Neh in näherer Zukunft keine Änderung der politischen Situation erwarteten und deshalb eine Kritik an diesen Zuständen vermieden hätten.
Der letzte inhaltliche Hauptteil des Buches ist mit »Wiederherstellung als Wiederaufbau« überschrieben und wendet sich den Bauvorhaben, Tempelbau und Bau der »äußeren« und »inneren« (= Tora) Mauer, zu. Auch hier beobachtet der Vf. Ambivalenzen, so in Bezug auf die zwiespältige Reaktion des Volkes auf die Grundlegung des Tempels mit »Jauchzen und Weinen« (Esr 3,12 f.) und die fehlende bzw. im Gegensatz zu Ex 40,34 f.; 1Kön 8,10 f.; 2Chr 5,13 f.; 7,1–3) nicht erwähnte kābod JHWHs. Er deutet dies entsprechend seiner Hauptthese, dass die Esr-Neh zugrunde liegende Vor- und Darstellung einer ambivalenten Wiederherstellung im gegensätzlichen Ausdruck des »Jauchzens und Weinens« »am greifbarsten« sei (266 – hier hätten auch die religionsgeschichtlichen Ausführungen zum Thema von L. Fried Berücksichtigung finden können; vgl.: The Land Lay Desolate: Conquest and Restoration in the Ancient Near East, in: Judah and the Judeans in the Neo-Babylonian Period, hg. V. O. Lipschits/J. Blenkinsopp, Winona Lake 2003, 21–54, 42 ff.). Nämliches gelte dann auch für den Bau der Mauer und die Obser vanz gegen die Tora, die beide je entsprechend als gefährdet zu bewerten und deshalb ebenfalls als Zeugnisse für die das Buch durchwaltende Konzeption der Ambivalenz zu verstehen seien.
Es ist das Verdienst der Studie, deren Ertrag in einem kurzen Schlusskapitel bündig vorgetragen wird, in konsequenter Weise theologischen Fragestellungen und Konzeptionen, die in Esr-Neh begegnen, nachgegangen zu sein und gute Gründe für deren Verankerung in der pentateuchisch-hexateuchischen bzw. prophetischen Literatur beigebracht zu haben. Bei einer streng synchronen Vorgehensweise ist es natürlich notwendig, eine das Gesamt der Geschichtsdarstellung von Esr-Neh umfassende Hermeneutik zu präsentieren, die der Vf. in der programmatischen Ambivalenz der Darstellung sieht: »Ziel dieser Arbeit ist es aufzuzeigen, […] dass Esra-Nehemia ein kunstvoller Plan zugrunde liegt, dessen rheto-rische Spitze die Ambivalenz in Bezug auf die Wiederherstellung hervorhebt.« (267) Wie eingangs bereits angedeutet, ist dieser Zug auch anderen biblischen Geschichtserzählungen, wie z. B. der Thronfolgeerzählung, nicht fremd. Man könnte sogar weitergehend vermuten, dass solche Ambivalenzen bei allem, was über die Entstehung biblischer Texte bekannt ist, durchaus zu erwarten sind, weil die Darstellung von Geschichte unterschiedlichen Perspektiven entstammt und sich immer wieder zwischen den Polen einer idealen Projektion des eigentlich göttlich gewollten und einer deshalb auch theologisch motivierten Kritik an der vorfindlichen Situation, der Wirklichkeitserfahrung, bewegt.
Abschließend wäre noch eine Frage an den Vf. zu stellen, die seine (für die eigentliche Argumentation zweitrangige) Datierung der Gesamtkomposition in das späte 5. Jh. v. Chr. (36 f.) betrifft: Die umfängliche Rezeption vorliegenden Materials aus der Tradition der Tora und der Vorderen und Hinteren Propheten würde dann zugleich insinuieren, dass die hinter den vorliegenden Werken stehenden kanonischen Prozesse bereits in dieser Zeit in ein Stadium getreten wären, in dem diese Schriften eine entsprechende Auto-rität und Verbreitung genossen hätten – dies scheint mir in der gegenwärtigen Forschung zumindest umstritten zu sein.