Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

691–693

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Nord, Ilona [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Inklusion im Studium Evangelische Theologie. Grundlagen und Perspektiven mit einem Schwerpunkt im Bereich von Sinnesbehinderungen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 435 S. m. Abb. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-374-04053-7.

Rezensent:

Ulf Liedke

Dieser Sammelband verfolgt das Ziel, das »bildungspolitische Trans­formationspotenzial der Inklusionsdebatte« (13) auf das Studium Evangelischer Theologie anzuwenden und Inklusion als integralen Bestandteil theologischer Themen und Institutionen herauszuarbeiten. Ein Schwerpunkt liegt auf dem Bereich sogenannter Sinnesbeeinträchtigungen. Die Herausgeberin, die einen Lehrstuhl für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität Würzburg innehat, plädiert für einen weiten, an Diversität orientierten Inklusionsbegriff und spricht sich für eine offene und kri-tische Diskussion des Inklusionsthemas aus. Der Band bietet 20 Beiträge in fünf Themenblöcken. Die vorliegende Rezension nimmt eine eigenständige thematische Gliederung vor.
Christian Grethlein widmet sich in einem Grundsatzbeitrag der »Bedeutung von Inklusionsprozessen für das Studium Ev. Theologie und für die Berufsfelder in Kirche und Schule«. Er rückt den Begriff der »Kommunikation des Evangeliums« (37) in den Mittelpunkt, der eine »radikal inklusive Perspektive« einnehme. In Bezug auf die universitäre Lehre diskutiert er den Vorschlag, in einem Department of Theologies interreligiöse Kooperationsformen auf der Grundlage einer je eigenen religiösen Identität zu entwickeln (43 f.). In Kirche und Schule könnte darüber hinaus die verstärkte Einbeziehung von Pfarrern und Lehrern mit Behinderungserfahrung dazu beitragen, »die Entdeckung der […] inklusiven Grundstruktur der Kommunikation des Evangeliums« (48) zu fördern.
Drei Beiträge beziehen sich auf das Studium aus der Perspektive von Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen. Uwe Boysen gibt einen Überblick über Studienbarrieren und Unterstützungsmöglichkeiten für sehbehinderte Menschen. Für Birgit Drolshagen muss eine inklusive Hochschule »zusätzlich zu barrierefreien Strukturen of­fen sein für darüber hinausgehende individuell be­nötigte Unterstützungs- und Anpassungsleistungen« (143). Sie erläutert die dafür erforderlichen strukturellen Ressourcen und gibt Hinweise zur Aneignung einer inklusiven Didaktik. Katja Sachsenhauser und Karola Hübinger widmen sich den Studienbedingungen für Menschen mit Hörschädigung. Im Ergebnis einer qualitativen Studie stellen sie fest, dass der Zeit- und Organisationsaufwand für die Lehrveranstaltungen und deren Nacharbeit eine erhebliche Belas­tung darstellen.
Der Band bietet ebenfalls eine kritische Diskussion des Inklu-sionsparadigmas. Martin Harant und Colin Cramer stellen dem normativ-programmatischen Inklusionsverständnis eine funktional-systemtheoretische Fokussierung gegenüber, die sich an den autopoietischen Systemstrukturen des Bildungssystems orientiert. Die Herausforderungen inklusiver Pädagogik lassen sich im Zu­sammenhang der »Antinomie von Normativität und Funktion« (312) verstehen. Indem Lehrerbildung eine »Sensibilität für beide Pole« (313) schaffe, mache sie realistische Urteile möglich. Martina Kumlehn geht es darum, den Inklusionsdiskurs reflexiv werden zu lassen und ideologiekritisch zu begleiten. Im Konzept der radikalen ­In­klusion erblickt sie ein »belief-system« (77), das mit den christlichen Deutungsmustern abgeglichen werden müsse. Sie plädiert für ein differenziertes Sowohl-als-auch-Konzept, »das inklusive Phasen und differenzierende Phasen, gemeinsames Lernen und Kompetenzzentren gleichermaßen zu denken erlaubt« (82).
Ein weiteres Thema bezieht sich auf das Konzept einer inklusiven Religionspädagogik. Für Thorsten Knauths »Religionspädagogik der Vielfalt« (53) erhält der Begriff der Abhängigkeit eine zentrale Bedeutung. In der »Verletzbarkeit des anderen« lasse sich »auch die eigene Abhängigkeit […] erkennen« (67). Das Ziel des Religionsunterrichts bestehe in der Etablierung einer großzügigen, freigiebigen und nicht berechnenden Gerechtigkeit, von der niemand fallengelassen wird. Katharina Kammeyer konzentriert sich auf die Arbeit mit Differenz im Religionsunterricht. Am Beispiel des Speisungswunders (Lk 9,10–17) erläutert sie Methoden für ein offenes Lernmilieu, das Kinder und Jugendlichen zur Entwicklung eigener Deutungen, zum »Umgang mit Mehrdeutigkeit« (225) und zur Ambiguitätstoleranz anregt.
Hochschullehre und -didaktik bilden einen weiteren Schwerpunkt. Erna Zorne plädiert für eine Praxis des kooperativen Lernens im Studium. Anita Müller-Friese gibt einen Überblick über empirische Untersuchungen, in denen sich Lehrkräfte zum inklusiven Unterricht äußern, und zieht daraus Konsequenzen für die inhaltliche und didaktische Gestaltung des Lehramtsstudiums.
Ein weiterer Themenschwerpunkt des Bandes bezieht sich auf Kirche und Pfarramt. Thomas Klie transformiert am Beispiel des Gottesdienstes die sozialromantischen Vorstellungen einer Vollinklusion zu einer differenztheoretischen Unterscheidung von Ak­teurs- und Publikumsrollen. Die Publikumsrollen »ermöglichen eine breite Einbeziehung in die funktionalen Abläufe, ohne selbst zu AkteurInnen werden zu müssen« (367). Gerade evangelische Christen fühlten sich auf diese Weise kirchlich inkludiert. »Das Zuschauen wird für Evangelische gewissermaßen zu einem Inklusionsregulativ: kirchliches Involvement durch Anschauen von Kirche« (368).
Thomas Schlag bestimmt vom Inklusionsbegriff her die Kompetenzanforderungen von Pfarrerinnen und Pfarrern. Ihre Aufgabe bestünde darin, »Pluralität zu ermöglichen und zugleich einen konstruktiven Umgang mit dieser Pluralität aufzuzeigen« (382). Mit einer homiletischen Aufmerksamkeit könnte die faktische Heterogenität individueller Lebenssituationen wahrgenommen und theologisch innerhalb »des aufmerksamen Beziehungsgeschehens zwischen Gott und den Menschen« (383) gedeutet werden.
Für Ralph Kunz stellt Inklusion einen Prozess dar, der als »Variante der Missio Dei« (393) verstanden werden kann und damit »Teil einer durchgehenden Perspektive der Gemeindeentwicklung« (393) ist. Deshalb müsse eine Verbindung mit anderen Entwicklungsperspektiven hergestellt werden. Im Studium müssten Gelegenheiten bestehen, inklusionssensible und damit engagierte Lektüreformen der Bibel zu üben. Als »Vision einer vielfältigen Ge­meinde« (400) sei Inklusion eine Verheißung und nehme in realen Beispielen zeichenhaft Gestalt an.
In vier abschließenden Thesen fasst die Herausgeberin Stand und Aufgaben in Bezug auf das Thema des Buches zusammen. Sie konstatiert erstens, dass die Informationen der Landeskirchen zum Theologiestudium weiterhin am Integrationsmodell ausgerichtet seien. Die Evangelische Theologie müsse zweitens eine interdisziplinäre Inklusionsoffenheit umsetzen. Theologen mit Behinderungserfahrungen beteiligten sich – drittens – zunehmend an der theologischen Inklusionsdebatte. In einer vierten These formuliert Ilona Nord Prüffragen, um den Inklusionsbegriff auf Rahmenbedingungen, Inhalte und Ziele des Theologiestudiums anzuwenden.
Der Band rückt ein wichtiges Thema in den Mittelpunkt, das im theologischen Inklusionsdiskurs bislang kaum Beachtung gefunden hat. Die Beiträge beziehen sich allerdings auf ein breiteres thematisches Spektrum, als es Titel und Untertitel erwarten lassen. Sie nehmen Potentiale und Probleme des Inklusionsparadigmas in den Blick, fokussieren das Theologiestudium und geben der praktisch-theologischen Diskussion wichtige Impulse. In dieser thematischen Breite führt der Band die theologische Inklusionsdiskussion gewinnbringend weiter.