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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

663–666

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Tillich, Paul

Titel/Untertitel:

Advanced Problems in Systematic Theology. Courses at Union Theological Seminary, 1936–1938. Hrsg. u. m. e. hist. Einleitung versehen v. E. Sturm.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. LVIII, 359 S. = Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Ge­sammelten Werken, 19. Geb. EUR 179,95. ISBN 978-3-11-042542-0.

Rezensent:

Christan Danz

Im November 1933 traf Paul Tillich zusammen mit seiner Frau Hannah und seiner Tochter Erdmuthe in New York ein, nachdem er im April des Jahres von seiner Frankfurter Professur durch die Nationalsozialisten beurlaubt wurde. Reinhold Niebuhr hatte dem deutschen Theologen die Möglichkeit verschafft, im Rahmen einer zeitlich befristeten Gastprofessur am Union Theological Seminary zu lehren. Im Jahre 1934 nahm T. seine Lehrtätigkeit am Union auf und hielt in einem wagemutigen Englisch Vorlesungen über Philosophy of Religion und Doctrine of Man. Diese frühen Vorlesungen aus dem Exil liegen inzwischen publiziert in den Ergänzungs- und Nachlaßbände[n] zu den Gesammelten Werken Paul Tillichs vor.
Im April 1936 reiste T. für sechs Monate nach Europa, um an den Vorbereitungen für die Weltkirchenkonferenz in Oxford im Jahre 1937 teilzunehmen, aber auch, um Möglichkeiten einer beruflichen Perspektive auszuloten, da seine Anstellung am Union immer noch zeitlich befristet war. Im Sommer des Jahres klärte sich seine berufliche Zukunft am Union. Nach seiner Rückkehr nach New York im September 1936 begann er am Union mit dem zweijährigen Vorlesungszyklus Advanced Problems in Systematic Theology.
Dank der unermüdlichen Editionstätigkeit Erdmann Sturms liegt nun auch diese wichtige Vorlesung in einer musterhaft edierten Fassung vor. Sie macht eine wichtige Quelle für die Rekonstruktion der werkgeschichtlichen Entwicklung T.s zugänglich. Ohne diese Dogmatik-Vorlesung kann sein späteres Hauptwerk nicht angemessen verstanden werden. Der Herausgeber bezeichnet die New Yorker Vorlesung deshalb nicht zu Unrecht als »Urfassung« (XXI) der Systematic Theology. T. hat die auf vier Semester angelegte Vorlesung über Advanced Problems regelmäßig bis zu seiner Emeritierung am Union wiederholt, zuletzt im Spring Se-mester 1955. Da lag der im April 1951 im Verlag The University of Chicago Press erschienene erste Band der Systematic Theology be­reits vor, und der Theologe arbeitete an dem damals noch anvisierten abschließenden zweiten Band des Werks.
T.s New Yorker Dogmatik-Vorlesung ist in vier Teile untergliedert. Der erste Teil behandelt Revelation and Reason (3–60), der zweite God and the world (61–110), der dritte Christology and human existence (111–206) und der abschließende vierte Teil The Kingdome of God and History (207–313). An dieser Grundstruktur hat T. in den folgenden Jahren Umstellungen vorgenommen. In dem Zyklus, der im Wintersemester 1938 begann, stellte er die Reihenfolge der behandelten Themen um, so dass der theologische Teil, der im ersten Vortrag noch an erster Stelle stand, nun an die zweite rückt: Reason and revelation, The World and God, Human existence and the Christ und History and the Kingdom of God (vgl. XXIII f.). Eine weitere Veränderung hat T. in dem Kursus vorgenommen, der im Studienjahr 1940/41 einsetzte. Hier findet sich erstmals die Pneumatologie in Verbindung mit dem Lebensbegriff als ein eigener Ab­schnitt des nunmehr fünfteiligen Gesamtentwurfs (vgl. XXIV f.). Der Abschnitt Life and the Spirit folgt als neuer vierter auf die Christologie und leitet zum abschließenden fünften Teil History and the Kingdom of God über. In seiner Systematic Theology, die aus den New Yorker Vorlesungen hervorgegangen ist, hat T. diese Strukturierung des Stoffs aufgenommen. Die Vorlesung über Ad­vanced Problems bildet somit eine wichtige werkgeschichtliche Etappe zwischen der in Marburg und Dresden vorgetragenen Dogmatik und dem späteren Hauptwerk.
Die Edition bietet T.s Vorlesungsmanuskript in dem ihm eigenen sehr deutschen Englisch. Hinweise auf zitierte Literatur sind von dem Herausgeber erschlossen. Die von T. vorgenommenen Streichungen in seinen Vorlesungsheften werden im Editionstext wiedergegeben. Dadurch ist der textkritische Apparat übersichtlich und der Text gut lesbar gehalten. Eine prägnante Einführung des Herausgebers informiert über die Überlieferungsträger (XV–XX), und die Historische Einleitung (XXI–LVII) erörtert den werkgeschichtlichen Hintergrund der New Yorker Vorlesung und bietet einen knappen Überblick über deren Inhalt. Von dem vierten Teil der Advanced Problems werden drei Fassungen mitgeteilt: ein deutsches Typoskript aus dem Jahre 1936 mit dem Titel Reich Gottes und Geschichte (207–242) sowie zwei englische Fassungen von The Kingdom of God and History (B: 243–277 und C: 281–313). Bei den ge­nannten Texten handelt es sich nicht um Manuskripte der New Yorker Vorlesung, sondern um Ausarbeitungen, die T. für die Forschungsabteilung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf im Sommer 1936 vorlegte und auf die er in seiner Vorlesung in New York zurückgegriffen hat (vgl. XVII f.). Die Fassung B des Textes wurde von Miss Olive Wyon vom Research Department des World Council of Churches übersetzt. Bei der dritten Version des Textes handelt es sich um die publizierte Fassung in den Dokumenten des Universal Christian Council for Life and Work aus dem Jahre 1937. In den Beilagen des Bandes werden vier weitere Texte erschlossen: The significance of the historical Jesus for the Christian faith (317–321), Systematic Theology 54 – Professor Tillich, Bibliography on The King­dom of God and History (322–324), The Universal Christian Council for Life and Work (1936) (325–330) und Aus der Vorlesung »The World and God« (1939) (331–347). Personen- (351 f.) und Sachregister (353–359) erschließen den Band.
Im Unterschied zur Marburger und Dresdener Dogmatik-Vorlesung aus den 1920er Jahren, die mit einer ausführlichen Einleitung einsetzen, in deren Fokus der Gedanke der geschichtlichen Offenbarung steht, begnügt sich die New Yorker Vorlesung mit einer knappen Einleitung (3–8). Diese erörtert in Aufnahme früherer Überlegungen den Gegenstand der Theologie: »He is as we could define God preliminarly: ›What us concerns unconditionedly‹.« (4) Mit dieser Formel eröffnete T. bereits die Marburger Prolegomena-Vorlesung im Jahre 1925. Ausgehend von dieser Religionsbestimmung werden drei Relationen unterschieden, nämlich Gott, Chris­tus und das Reich Gottes. »In these three basic problems systematic theology consists; all the three are different ways of our relation to what concerns us unconditionedly.« (5) Die Struktur der Vorlesung in ihren Hauptteilen ist damit vorgezeichnet. Der als erster Teil vorgeordnete Teil über Revelation and reason resultiert daraus, dass T. den Offenbarungsbegriff ähnlich wie in der späteren Systematic Theology aus den Prolegomena herausgenommen und in einen eigenen Teil verschoben hat. Anders als im späten Hauptwerk setzt er in den Advanced Problems jedoch mit einer phänomenologischen Beschreibung der Offenbarung ein, bietet dann eine Geschichte des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung und geht schließ-lich zu einer systematischen Erörterung des Offenbarungsbegriffs über.
Die am Ende der deutschen Zeit von T. vorgenommene anthropologische Grundlegung der Theologie, der auch die ersten Vorlesungen im Exil galten, wird in der New Yorker Vorlesung weitergeführt. Das schlägt sich nicht nur in der Gotteslehre, sondern auch in der Christologie nieder. In den Gliederungen und Überschriften ist das erkennbar, in denen die ursprüngliche Fassung ›Christology and Anthropology‹ ersetzt wurde durch ›Christology and human existence‹ (111), ebenso wie an den Bestimmungen der Aufgabe der Christologie: »Christology from the point of view of anthropology and vice versa.« (115) Das Vorlesungsmanuskript zeigt, dass die frühe, schon in der Systematischen Theologie von 1913 erkennbare, dreigliedrige Strukturierung des theologischen Systems auch noch in der ersten Fassung der amerikanischen Dogmatik hindurchschimmert. Die Systemstruktur ist freilich von dem cum grano salis idealistischen Rahmen der frühen Systemkonzeption gelöst und in die in den 1920er Jahren ausgearbeitete Konzeption des Durchbruchs der Offenbarung in der konkreten Exis­tenz aufgenommen. In der viergliedrigen Struktur der New Yorker Vorlesung hat T. auf Elemente der Dresdener Konzeption zu­rückgegriffen und diese in die Gotteslehre, die Christologie und die Eschatologie eingebaut. Wie in dem deutschen Entwurf wird die Eschatologie, die in den Vorlesungen der 1920er Jahre nicht ausgeführt ist, direkt an die Christologie angeschlossen. Ebenso werden Elemente der Pneumatologie in der Christologie (197–202) behandelt und noch nicht als ein eigener Systemteil durchgeführt. Die im Hintergrund der Vorlesung von 1936 stehende Dresdener Konzeption und deren Weiterführung in den Frankfurter sowie in den Exil-Vorlesungen von 1934/35 machen auch die – an das für das spätere Hauptwerk signifikante Korrelationsschema erinnernde – Strukturierung des Stoffs verständlich. Diese ist aus der anthropologischen bzw. existenzphilosophischen Grundlegung der Theologie der 1920er Jahre hervorgegangen und stellt eine religiöse Deutung der menschlichen Existenz und ihrer inneren Spannungen im Hinblick auf Gott, Christus und das Reich Gottes dar. »The method of our lecture is to show the correlation of theological concepts with anthropological concepts. Revelation in correlation to reasen, God in correlation to the world, the Kingdom of God in correlation to history; and so: Christology in correlation to the doc-trine of man.« (115)
Es wird einer eingehenden Rekonstruktion der New Yorker Dogmatik bedürfen, die hier nicht geleistet werden kann, um diese Vorlesung werkgeschichtlich einzuordnen. Deutlich ist jedenfalls, ein angemessenes Verständnis der späteren Systematic Theol-ogy ist ohne die Einbeziehung der Vorlesung über Advanced Problems in Systematic Theology nicht möglich.