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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

626–628

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gray, Timothy C.

Titel/Untertitel:

The Temple in the Gospel of Mark. A Study in its Narrative Role.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck: 2008. XI, 226 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 242. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-3-16-149685-1.

Rezensent:

David du Toit

Das hier anzuzeigende Buch ist die gedruckte Version einer an der Catholic University of America unter Betreuung von Frank Moloney entstandenen Dissertation. Es handelt sich um eine Analyse von Mk 11–15 unter besonderer Berücksichtigung der Rolle des Jerusalemer Tempels im Markusevangelium. Gefragt wird danach, »why Mark gives the temple such a conspicuous place in his narrative?« (1). Timothy Grays Antwort lautet, dass Markus anhand des Themas des Unterganges des alten Tempels die Vorstellung von einem neuen eschatologischen Tempel entwickelt, nämlich die Vorstellung von einer neuen Gemeinschaft, die sich als neuer Tem pel um (den erhöhten) Jesus versammelt (»community gathered around Jesus as a new temple«, 198; »this old temple will be re-placed by a new one consisting of those who […] put their faith in […] Jesus«, 200). Diese neue Gemeinschaft bilde den endzeitlichen Tempel Gottes, der ein Ort des Gebets, des Glaubens und der Vergebung sein werde (90 f.), indem sie als funktionaler Ersatz des alten, gerichteten Tempels diene.
Diese These entwickelt G. in vier Kapiteln, in denen er zentrale tempelbezogene Passagen auf ihren narrativen Stellenwert hin untersucht und dabei besonders das Zusammenspiel von intratextuellen Querbezügen innerhalb des Evangeliums und intertextuellen Bezugnahmen auf die Schrift bzw. alttestamentliche Texte beleuchtet. Kapitel 1 (1–45) ist Mk 11,1–11.12–21 als narrativer Umsetzung von Mk 1,2 f.7 f. bzw. Mal 3,1, Jes 40,3 und Ps 118,25 f. gewidmet, während in Kapitel 2 zunächst Mk 11,22–25.27–33 (46–60), sodann Mk 12,1–9.10–12 (61–77) sowie 12,35–37 (79–90) untersucht werden. Kapitel 3 (94–155) bietet ein Analyse von Mk 13, während Kapitel 4 (156–197) den Erzählungen vom letzten Abendmahl (14,12–26), der Gethsemane-Agonie Jesu (14,32–42), der Verurteilung Jesu (besonders Mk 14,58) sowie der Kreuzigung (besonders 14,29–32.34–37.38.39) gewidmet ist. Es folgen eine kurze Zusammenfassung (198–200) und eine Bibliographie (201–207) sowie ein Stellen-, ein Autoren- und ein Themenregister (209–220.221–223. 224– 226).
In Kapitel 1 argumentiert G., dass die Erzählung vom Einzug Jesu in den Tempel (11,1–11) Mk 1,2 f. bzw. Jes 40,3 und Mal 3,1 aufnehme (11,3.8 κύριος; ὁδός, vgl. 11,52), während ὁ ἐρχόμενος (11,9 = Ps 118,25) einen intratextuellen Rückbezug auf Mk 1,7 darstelle. Mk 1–10 stelle also den Weg Jesu bzw. des Herrn hin zum Tempel dar. G. argumentiert ferner, dass der Kontext von Mal 3,1, d. h. Mal 3,2–9, evoziert werde und den interpretativen Rahmen für Mk 11,12–21 biete: Jesus kommt in den Tempel als Richter – am Ende steht das Urteil, dass der Tempel eine Räuberhöhle ist (Jer 7, 11, vgl. Mal 3,8 f.!, vgl. 44.92 f.).
In Kapitel 2 deutet G. Jesu Rede vom Berg in Mk 11,23 vor dem Hintergrund von Mk 11,12–14.20 f. sowie von Texten wie Jes 40,4; Zach 4,7 als eine Aussage über den eschatologischen Untergang des Tempelbergs. Die Motive Glaube, Gebet und Vergebung (Mk 11,22–25) sollen angesichts des vorhergesagten Endes des Tempels den Weg in die Zukunft zu einem neuen Tempel signalisieren (46–55).
Das umfangreiche Kapitel 3 (94–156) ist Mk 13 gewidmet. Als entscheidende Momente der hier gebotenen Auslegung sind zu nennen: (1.) Bei Mk 13 handele es sich um eine Gerichtsrede über den bestehenden Jerusalemer Tempel bei gleichzeitiger Ankündigung der eschatologischen Wiederherstellung eines neues Tempels, in dem die Heiden entsprechend Jes 56 gesammelt werden sollen; (2.) um Mk 13 richtig zu verstehen (auch im Sinne von Mk 13,14!), sei eine Hermeneutik erforderlich, die den Text zugleich wörtlich (»literally«) und symbolisch bzw. theologisch deutet; (3.) »die Stunde« bzw. »der Tag« in Mk 13,32 verweise auf die vorhergesagte eschatologische Drangsal (13,14–23), die der Sammlung der Erwählten durch den Menschensohn vorausgeht (13,24–27) – dabei wird die Drangsal in erster Linie als Jesu Passion verstanden, die dann die eschatologische Restitution, die insbesondere die Sammlung der Nationen umfasst (13,10.27), inauguriere; (4) die beiden Rahmenpartien Mk 12,41–44 und 14,1–9 sowie die Feigenbaumpartien in 11,12–14.20 f. und 13,28 f. sollen jeweils auf den alten und neuen Tempel verweisen, d. h. sie signalisieren die Übertragung der endzeitlichen Rolle des »alten« Tempels auf Jesus und die Jünger als Verkörperung eines neuen Tempels (vgl. etwa 100–102.145–148, besonders 152)!
Kapitel 4 (156–197) ist der Auslegung von Mk 14,17–25.32–42.55–65 sowie der Kreuzigungserzählung in 15,29–39 gewidmet. (1.) Die Abendmahlserzählung wird als symbolisches Pendant zu Mk 11,11–18 gelesen, so dass Jesu Tod als Opfertod bzw. Ersatz des Sühnekultes des Tempels verstanden wird. Mk 14,25 wird vor dem Hintergrund von Zach 14 und Mk 2,19–22 dahingehend gedeutet, dass sich »jener Tag«, der die eschatologische Drangsal initiiert, auf Jesu Passion beziehe. (2.) Die Gethsemane-Erzählung wird (in Aufnahme von Lightfoot und Geddert) von Mk 13,33–37 her gedeutet, so dass das Wachen in der Passanacht gleichzusetzen sei mit dem eschatologischen Wachen (13,33.37), die »Stunde« von 14,41 ( ἦλθεν ἡ ὥρα) mit der endzeitlichen Stunde (13,32.33–36). (3.) In der Verhörszene wird Mk 14,58 mit Dan 2,34 verknüpft und als Weissagung der Auferstehung Jesu als Aufrichtung eines neuen Tempels gedeutet. (4.) In der Kreuzigungserzählung wird Mk 15,38 als endzeitliches Gericht über den Tempel als »Räuberhöhle« (11,17) bzw. symbolische Vernichtung des Tempels gedeutet, d. h. als Gottes bevorstehende Rache für den Tod seines Sohnes (12,6.9). Mit Jesu Tod beginnen die Endzeit und die endzeitliche Drangsal (13,18–22), die zur physischen Vernichtung des Tempels führt. Zugleich deute Mk 15,38 die symbolische Vernichtung des alten Kosmos an bzw. den Beginn der Entstehung der endzeitlichen neuen Welt.
Der Vf. hat eine in einigen Punkten interessante Studie verfasst, die vor allem einige plausible intertextuelle Bezugnahmen des Markustextes zu alttestamentlichen Texten zutage fördert sowie gute Beobachtungen zu intratextuellen Querbezügen im Evangelium ausarbeitet. Ob die Hauptthese des Buches einer exegetischen Überprüfung standhalten würde, bezweifele ich jedoch. Dies liegt vor allem daran, dass zentrale Thesen des Buches (z. B. dass Mk 13, 19.32.33–37 auf Jesu Passion und Tod zu beziehen sei) auf einer höchst problematischen, assoziativen Verknüpfung von Texten beruhen, deren literarische bzw. narrative Funktion im vorfind-lichen Kontext zumeist außer Kraft gesetzt wird. Dabei beruft G. sich (besonders hinsichtlich Mk 13) auf eine »symbolische Hermeneutik«, mit der ein Mehrwert an Bedeutung, der über den vom narrativen Zusammenhang nahegelegten Textsinn hinausgehe, er­schlossen werden soll. Wie immer öffnet ein solches Verfahren leider einer unkontrollierbaren spekulativen Interpretation des Evangeliums Tür und Tor. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, ein Diktum von Norman Petersen, dem Doyen der markinischen narrativen Exegese, in Erinnerung zu rufen: »I know of no symbolic interpretation of Mark that does not prematurely abandon its literal coherence« (»When is the End not the End?«, Interp. 34 [1980], 151–166, dort 153). Man wünscht sich, G. – und nicht nur er! – hätte sich an Petersens fundamentale und bis heute noch immer gültige Einsicht gehalten, denn das hätte ihn vor einigen überzogenen Deutungen bzw. steilen Thesen geschützt.
Zum Schluss ist darauf aufmerksam zu machen, dass G. – abgesehen von wenigen älteren Kommentaren (z. B. Gnilka, Lagrange, Pesch) – kaum anderssprachige Literatur verarbeitet. Während einige ältere deutsche Untersuchungen in englischer Übersetzung be­rücksichtigt wurden (Lohmeyer, Schweizer, Marxsen), kommt die neuere deutschsprachige Markusforschung so gut wie nicht vor – wo dies gelegentlich der Fall ist, wird sie nur indirekt über englischsprachige Literatur rezipiert (etwa Breytenbach, Mell).
Damit fügt sich das Buch in eine länger zu beobachtende Tendenz ein, dass vor allem in der amerikanischen Forschung deutschsprachige Studien kaum mehr zur Kenntnis genommen werden. Von einer Auseinandersetzung mit der deutschsprachigen Markusforschung der letzten beiden Jahrzehnte hätte das Buch sicherlich profitieren können.