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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

621–623

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Chan, Common Lung Pun

Titel/Untertitel:

Die Metapher des Lamms in der Johannesapokalypse. Eine sprach- und sozialgeschichtliche Analyse.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 280 S. m. 6 Abb. u. 23 Tab. = Novum Testamentum et Orbis Antiquus/Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 99. Geb. EUR 80,00. ISBN 978-3-525-59372-1.

Rezensent:

Thomas Witulski

In der hier zu besprechenden Arbeit von Common Lung Pun Chan geht es um die in der Apk vielfach belegte Metapher des Lammes. Im Rahmen einer Einleitung, in der C. die Aufgabe seiner Arbeit reflektiert, die Forschungsgeschichte der Lammmetapher in der Apk beleuchtet und einige Aspekte einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik anspricht, kommt er unmittelbar auf die erst noch zu erhärtende Zentralthese seines Werkes zu sprechen, die er in drei Teilthesen untergliedert:
a) Eine erste Teilthese bezieht sich auf den semantischen Gehalt der ἀρνίον-Metapher; C. zufolge sei diese »weder als Opfer […] noch als astrologisches Widder-Sternbild« (14) zu interpretieren. Vielmehr werde im Rahmen dieser Metaphorik »der geschichtliche Jesus […] als Märtyrer-Krieger zum Vorbild für die Gemeinde in ihrer Situation zwischen Märtyrertum und missionarischem Erfolg« (14 f.). Als Ergebnis einer soziolinguistischen Motivuntersuchung ergebe sich, dass »das ἀρνίον […] einerseits [als] ein Märtyrer, andererseits [als] ein Kämpfer gegen die θηρίον-Ideologie« (114) zu verstehen sei und dass diese Metapher eine innovative Bildung darstelle.
b) Die zweite Teilthese seiner Arbeit entwickelt C. in einer sozialgeschichtlichen Analyse. Hier beschreibt er die im nachpaulinischen kleinasiatischen Urchristentum gebildete ἀρνίον-Metapher als die »Antwort auf eine Krise nach der Tempelzerstörung, um in einer sich romanisierenden Welt zwischen einem inneren Rückzug bei äußerer Anpassung, wie einige christliche Gruppen ihn praktizierten, und einer aussichtslosen gewalttätigen Machtrevolution, wie sie die aufständischen Juden versucht hatten, einen dritten Weg zu suchen« (15). Dieser dritte Weg konkretisiere sich in einer »Auseinandersetzung mit der Herrschaftsideologie des Römischen Reichs in Konkurrenz mit anderen Gegenbewegungen auf dem damaligen ideologischen Markt« (15) und sei inhaltlich als »Dialektik der Mahnung zum ›Ausharren‹ und zur ›Weisheit‹« (175) zu fassen.
c) Eine soziorhetorische Analyse erweise den Apokalyptiker schließlich als einen »ökumenische[n] Kirchenpolitiker, der durch seine Prophetie und seine ἀρνίον-Metapher die nachpaulinischen, kleinasiatischen Gemeinden zu einer Wertrevolution durch Mission motivieren wollte« (15). Diese Annahme verunmögliche die Interpretation desselben als eines »Verkündiger[s] eines detaillierten es­chatologischen Zeitplans für eine Randgruppe« (15) genauso wie diejenige eines »jüdische[n] Nationalist[en], der von einer Machtre-volution gegen Rom träumte« (15). Das in der Apk sichtbar werdende Wirken ihres Verfassers ziele auf »eine Aktivierung christlicher Gruppen in Kleinasien im Sinne einer offensiven Evangeliumsverkündigung: einer Veränderung von Werten und Einstellungen« (223).
Die Lektüre dieser Arbeit lässt erkennen, dass sowohl ihr selbst als auch ihrem Verfasser ein hohes wissenschaftliches Potential eignen. C. diskutiert in seinem kohärenten Werk eine interessante und für das Verständnis der Apk wichtige Frage und entwickelt zu dieser Frage eine neue und inspirierende Antwort. Großen Respekt verdient auch der Sachverhalt, dass sich C. als Nicht-Muttersprachler monographisch in deutscher Sprache mit der von ihm gewählten Themenstellung auseinandersetzt. Jenseits dieser allgemeinen positiven Einschätzung lässt die von C. vorgelegte Arbeit jedoch gravierende Schwächen erkennen:
a) In weiten Teilen seines Werkes scheint C. auf das Gespräch mit der entsprechenden Sekundärliteratur annähernd gänzlich zu verzichten. Schon ein oberflächlicher Blick in die Fußnoten belegt, dass vor allem im dritten und im vierten Kapitel anscheinend nicht einmal die wichtigsten neueren Apk-Kommentare durchgängig Be­rücksichtigung finden.
b) C. verzichtet darauf, seiner Arbeit ein Kapitel voranzustellen, in dem er die grundlegenden einleitungswissenschaftlichen Fragen zur Apk zumindest anspricht und seine Position dazu formuliert. Besonders wichtig wäre es hier gewesen, sich Klarheit darüber zu verschaffen, wie C. die Apk gliedert und wie er das Verhältnis ihrer einzelnen Teile zueinander definiert.
c) Im ersten, soziolinguistisch ausgerichteten Teil seiner Arbeit stellt C. – und dieser vermag gerade auch mit seinen Textanalysen noch am ehesten zu überzeugen – die Figur des ἀρνίον als eine Kombination aus Krieger und Märtyrer dar. Darüber hinaus macht er darauf aufmerksam, dass der Apokalyptiker diese Figur als ein »dialektisches Gegenbild« (112) zur Figur des (ersten) θηρίον entwickelt habe. Dies ist sicherlich richtig, aber keineswegs neu, sondern im Blick auf die Apk Forschungskonsens.
d) Die sozialgeschichtliche Analyse, die C. im dritten Kapitel vorlegt, verdient diesen Namen nicht. Die sozialgeschichtliche Situation der in der Apk angeschriebenen Christen wird nämlich – und dies erscheint hermeneutisch wie methodisch gleichermaßen fragwürdig – nicht auf der Basis von zeitgenössischen Primärquellen oder einschlägigen Handbüchern erstellt, sondern ausschließlich auf der Basis der Ausführungen in der Apk selbst. Wer sich dennoch auf den Weg der Lektüre dieses Kapitels macht, erfährt, dass sich die Adressaten der Apk einer offensichtlich von Rom aus initiierten Romanisierungswelle gegenübersehen. Im Zuge ihrer Romanisierungsbestrebungen verfolge die römische Zentralverwaltung nach C. das Ziel, mit zwei unterschiedlichen Strategien, einer repressiven, auf Unterdrückung zielenden, und einer attraktiven, auf freiwillige Partizipation abhebenden, römische Ideale und Wertvorstellungen im griechisch geprägten Osten durchzusetzen. Der Apokalyptiker fordere seine Rezipienten angesichts dieser Doppelstrategie zu einer Wertrevolution auf; die angeschriebenen Christen sollten den Ro­manisierungsbestrebungen eigene christliche missionarische Aktivität und einen eigenen Wertekanon entgegensetzen. Diese Konstruktion evoziert insbesondere an zwei Punkten Kritik: (1.) Im Blick auf die schon seit 133 v. Chr. unter römischer Herrschaft stehende Provinz Asia am Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts von einer Romanisierungswelle zu sprechen, ist sicherlich nicht zutreffend. Viel eher geht es hier um Hellenisierungstendenzen. (2.) Dass der Apokalyptiker seine Rezipienten zu aktiver missionarischer Arbeit aufforderte, lässt sich am Text der neutestamentlichen Apk jedenfalls nicht erweisen. Ihm geht es vielmehr ausschließlich darum, die in der Apokalypse angeschriebenen Christen zu Standhaftigkeit und Glaubenstreue aufzurufen.
e) Auch das soziorhetorisch ausgelegte vierte Kapitel geht an zentralen Aussagen der Apk genauso wie auch an wesentlichen Einsichten der Apk-Forschung vorbei. Dies zeigen beispielhaft Ausführungen C.s zu Apk 2,5, einem Vers aus dem Sendschreiben an den Engel der Gemeinde zu Ephesus. Hier formuliert er: »Wie ihr [d. h. der ephesischen Christen] Verhältnis zu Nachbarn […] und Nikolaiten […] zeigt, sollen sich Christen nicht vom sozialen Leben zurückziehen und zwischenmenschliche Spannungen in ihrer Stadt nicht vermeiden« (195). Eine auch nur oberflächliche Lektüre des Textes dieses Sendschreibens zeigt, dass diese Aussage C.s exegetisch nicht haltbar ist.
Bei hohem Respekt vor der Person ihres Verfassers und vor der außerordentlichen Leistung seiner deutschsprachigen Dissertation sei folgendes Fazit gezogen: C.s Werk stellt nur außerordentlich bedingt einen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion über die Apk und ihre Probleme dar. Angesichts der aufgezeigten grundlegenden Schwächen lohnen sich weder dessen Lektüre noch dessen Anschaffung.