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Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

561–563

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Rose, Miriam, u. Michael Wermke [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religiöse Reden in postsäkularen Gesellschaften.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. 286 S. = Studien zur Religiösen Bildung, 7. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-04303-3.

Rezensent:

Martin Weeber

Der Band dokumentiert eine internationale und interdisziplinäre Tagung, die im Februar 2015 in Jena stattgefunden hat. Der Titelbegriff »postsäkular« bezeichnet dabei »im Anschluss an Jürgen Habermas pluralistisch-demokratische Gesellschaften, die mit einer bleibenden Bedeutung von Religion für Teile der Gesellschaft rechnen und die daher der Religion und ihren ambivalenten Potentialen eine wiedererwachte öffentliche, wissenschaftliche und kulturelle Aufmerksamkeit entgegenbringen. Postsäkulare Gesellschaften setzen die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates voraus und sind geprägt vom Rückgang traditioneller religiöser Prägekräfte.« (7) Dieses weite Beobachtungsfeld wird in dreierlei Hinsicht erschlossen: im Blick auf die »religionspolitischen Thesen« von Habermas, im Blick auf die »empiriegestützten Forschungen zur Konfessionslosigkeit« und im Blick auf die Frage nach der »Gestaltung theologisch verantworteter religiöser Rede in der Ge­genwart«.
Wie kaum anders zu erwarten, sind die Beiträge vom methodischen Zugriff, von der Problembeschreibung, von der Deutung der Phänomene und von den entworfenen Handlungsstrategien her alles andere als einheitlich. Darin spiegelt sich einerseits der Facettenreichtum des Tagungsthemas, andererseits der Sachverhalt, dass die jeweiligen Grundüberzeugungen von Autoren bei jedem Thema, das man ihnen vorlegt, durchschlagen.
So ist es nicht verwunderlich, dass Ulrich Körtner darauf insis­tiert, es führe kein Weg von den Sinnfragen der Menschen zu einer der biblischen Offenbarung angemessenen Rede von Gott. Ebenso wenig staunt man darüber, dass Martina Kumlehn sich auf eine »religionshermeneutische Spurensuche« in einem Gegenwartsroman begibt und dabei auch fündig wird. Niemand entkommt seiner Perspektive. Umso wichtiger ist es, dass die aus den verschie-denen Perspektiven gewonnenen Einsichten miteinander ins Ge­spräch gebracht werden.
Aufschlussreich und anregend sind eigentlich alle Beiträge des Bandes – besonders dann, wenn sie sich entschlossen auf die eigenen Erfahrungshintergründe einlassen. So sind etwa Körtners Überlegungen zu einer »Theologie der Diaspora« im Anschluss an Ernst Lange und den österreichischen lutherischen Theologen Wilhelm Dantine (1911–1981) ermutigend im Blick auf die Zukunftschancen eines »Minderheitenprotestantismus«. Und Monika Wohlrab-Sahrs nüchterne Beschreibungen der »forcierten Säkularität« Ostdeutschlands sind erhellend im Blick auf das mentale Umfeld eines solchen Protestantismus. Die beiden Genannten sind sich einig im Plädoyer für »Theologen als öffentliche Intellektuelle« (54) bzw. eine »öffentliche Theologie«, die von Körtner differenzierungsstark beschrieben wird.
Alle Beiträge des Bandes sind geprägt vom Willen, sich die wahrgenommenen Probleme nicht durch Großtheorien kleinreden zu lassen. Ein kurzer Überblick über die noch nicht genannten Beiträge: Klaus Dicke beschreibt als die Aufgabe der Theologie »das Absichern noch vorhandener Reste und de[n] Aufbau hinreichender Kompetenzen an Lesbarkeit und Verständnis religiöser Rede und Bilder« (36). Gert Pickel schildert die »säkulare Schweigespirale« und die aus ihr resultierende »sinkende kulturelle Anschlussfähigkeit« religiöser Kommunikation (87). Hans-Joachim Höhn aktiviert Motive der »intellektuellen Tradition der theologia negativa« (107). Der in Bratislava lehrende Lubomír Batka knüpft an Ingolf U. Dalferths Unterscheidung von Glaubensrede und theologischer Rede an und schließt mit dem Rat Martin Luthers, es solle von Gott »in einfacher Weise geredet werden« – völlig einleuchtend vor dem Hintergrund der Diasporasituation der evangelischen Kirche in der Slowakei.
Winfried Gebhardt beschreibt den »spirituellen Wanderer« als »Idealtypus moderner Religiosität« und als »eine spätmoderne Form des religiösen Virtuosen im Sinne Max Webers« (151). Dieser wird in seinen verschiedenen »Spielformen« zu einer »stets präsenten Herausforderung für Amtskirchen und andere traditionale religiöse Autoritäten und deren jeweilige Theologien« (163).
Johanne Stubbe T. Christensen geht unter besonderer Bezugnahme auf Merleau-Ponty und Pannenberg der Eigenart religiöser Rede nach und kommt zu dem Schluss: Religiöse Rede »gewinnt ihre Eigenart nicht durch irgendein abstraktes – oder ›göttliches‹ Ziel oder ihren Ausgangspunkt […], nicht durch ihre ›religiöse‹ Form oder ihren Inhalt, sondern indem sie in ihrem konkreten leiblichen Vollzug als religiös erfahren und empfangen wird.« (179)
Martin Jäggle stellt die »Funktion religiöser Bildung in der postsäkularen Gesellschaft« dar, ausgehend von je einem Beispiel aus der Arbeitswelt und aus dem Alltag. Er skizziert den Umgang von OSZE und Europarat mit dem Thema der religiösen Bildung und nimmt Bezug auf die Arbeiten von Jürgen Baumert und Stefan Altmeyer, die religiöse Bildung aus bildungstheoretischer Perspektive als »unersetzbar« ansehen.
Ansgar Kreutzer plädiert aus katholischer Perspektive für eine »›Konversion‹ zum Stil der Gastfreundschaft« (235), bemerkt freilich, dass »ein solcher Habituswechsel von einem Stil institutioneller Selbstbewahrung zum Stil uneigennütziger Gastfreundschaft […] in der kirchlichen Bildung wie in den kirchlichen Institutionen erst langsam Raum zu greifen« scheint (236). Diese Beobachtung dürfte für den evangelischen Bereich ebenso zutreffen.
Stephanie Dietrich bedenkt die Rolle der Diakonie für die »Vermittlung des Evangeliums« in postsäkularen Gesellschaften: Diakonie stellt »glaubwürdige religiöse Rede im öffentlichen Raum« dar (251) und ist schon aus diesem Grunde hoch zu schätzen.
Ina Ter Avest entfaltet die Idee eines interreligiösen Religionsunterrichts als »eine Art von Fremdsprachenunterricht«, der die Schüler zu »inter-weltanschaulicher Kommunikation« (261) befähigt: »Das Erwecken der Kraft bei Schülern in einem pluralen Klassenkontext, die Kraft, sich ein Bild von dem zu machen, wohin wir gehen, um darüber zu kommunizieren, betrachte ich für Religionspädagogen als die wichtigste Aufgabe unserer Zeit.« (262) Es wäre nicht das erste Mal in der neueren Theologiegeschichte, dass sich aus der Perspektive der Religionspädagogik Impulse ergeben, die sich als richtungsweisend für das Ganze der Theologie herausstellen. Der schulische Kontext macht eben Selbstabschließungen weniger leicht möglich als der kirchliche.
Ein Beitrag von David Käbisch schließt den Band ab: Er plädiert dafür, sich religionspädagogisch von einem Religionsverständnis leiten zu lassen, welches erstens »eine Unterscheidung von Reli-gion und Nicht-Religion« ermöglicht und damit zweitens auch an­schlussfähig ist an das »Alltagsverständnis« von Religion und Nicht-Religion und schließlich drittens dem »Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften« entspricht. Erst in einem Folgeschritt könnten dann auch Konzepte von »privatisierter, impliziter und unsichtbarer Religion« thematisiert werden (283). Auch hier geht vom schulischen Kontext ein wichtiger Beitrag zu religionstheoretischen Debatten aus: der Ruf zur Nüchternheit und Klarheit.
Der Band ist sehr leserfreundlich aufbereitet: In einer Einleitung fassen die Herausgeber die Beiträge bestens zusammen, stellen die nötigen Zusammenhänge zwischen ihnen her und stellen sogar das Ergebnis der Tagungsdebatten noch in Thesenform zu­sammen. Selbstverständlich bietet keiner der Beiträge und auch nicht der Band als Ganzer eine abschließende Beschreibung der Problemlage religiöser Kommunikation in postsäkularen Gesellschaften. Anregung zu eigener Wahrnehmung von Herausforderungen und Chancen religiöser Kommunikation in der vieldeutigen Gegenwart bieten die Beiträge freilich alle.