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Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

543–545

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schreiber, Gerhard, u. Heiko Schulz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kritische Theologie. Paul Tillich in Frankfurt (1929–1933).

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. VIII, 459 S. = Tillich Research, 8. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-044126-0.

Rezensent:

Peter Haigis

Seit vielen Jahren macht sich Erdmann Sturm um die Edition der Texte aus dem Nachlass Paul Tillichs verdient. In regelmäßiger Folge erscheinen dabei vor allem die Vorlesungen, Vorträge und bislang unveröffentlichten Niederschriften aus den Jahren, in de-nen Tillich als Dozent, außerordentlicher Professor und ordentlicher Professor an den Universitäten Berlin, Marburg, Dresden und Frankfurt am Main tätig war.
Im Blick auf Tillichs Zeit in Frankfurt wurde bereits 1995 von Erdmann Sturm in der Reihe »Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken Paul Tillichs« als Band 8 dessen Frankfurter »Vorlesung über Hegel« aus den Jahren 1931/32 herausgegeben. 2007 folgten »Vorlesungen über Geschichtsphilosophie und Sozialpädagogik« aus Tillichs Frankfurter Zeit, speziell aus den Jahren 1929/30, als Band 15 und im Jahr 2013 »Frankfurter Vorlesungen (1930–1933)« als Band 18 der Reihe.
Mit diesen Editionen liegt nun eine Fülle an Material auf dem Tisch für weitere und ausgiebige Tillich-Forschung. Im Jahr 2014 hat sich eine Tagung an der Goethe-Universität Frankfurt der Sichtung, Auswertung und Diskussion eines Teils dieses Materials gewidmet. Vom 25. bis 28. Juni trafen sich eine Reihe von Tillich-Forschern aus Deutschland, Österreich, Großbritannien, den USA und Kanada zu einer Konferenz mit dem Titel »Kritische Theologie. Paul Tillich in Frankfurt (1929–1933)«. Der hier zu besprechende Band gibt die dort gehaltenen Vorträge in überarbeiteter Form, zum Teil als ausführliche und detailliert belegte Aufsätze zu Tillichs Wirksamkeit in Frankfurt wieder. Er ist als Band 8 in der Reihe »Tillich Research/Tillich-Forschungen/Recherches sur Tillich« erschienen und enthält die Tagungsbeiträge in originalsprachiger, das heißt in diesem Fall entweder deutscher oder englischer Version.
In der Einleitung zum Band geben die beiden Herausgeber Gerhard Schreiber und Heiko Schulz Auskunft über den Gegenstand der Tagung: die ausgesprochen produktiven Jahre Tillichs als Professor der Philosophie und der Soziologie, einschließlich der Sozialpäda­gogik an der damals noch jungen Universität Frankfurt. Sie listen Tillichs Veranstaltungsprogramm vom Sommersemester 1929 bis zum Sommersemester 1933 auf (Letzteres wegen Tillichs Amtsenthebung durch die Nationalsozialisten im April 1933 nicht mehr realisiert), geben einen Überblick über die Publikationen Tillichs aus dieser Zeit, was sich als imponierende Liste ausnimmt, und stellen kurz den Aufriss des Tagungsbandes vor. Im Einzelnen handelt es sich um eine Textgruppierung anhand von fünf thematischen Aspekten: Zwei Referate beleuchten den »zeit-, kultur- und universitätsgeschichtlichen Kontext« von Tillichs Frankfurter Jahren (1.), fünf Aufsätze widmen sich »ausgewählte(n) Themenkomplexe(n)« aus Tillichs materialreichem Schaffen dieser Zeit (2.), drei Beiträge dienen »der werkgenetischen und rezeptionshistorischen Erschließung« des Verhältnisses Tillichs zur so genannten Frankfurter Schule (3.), ein Aufsatz geht auf Tillichs Beziehungen zum Judentum und zu seinen jüdischen Kollegen in Frankfurt ein (4.) und ein Beitrag »lotet […] Möglichkeiten und Grenzen einer Aneignung der Tillichschen Ressourcen im Gegenwartskontext aus« (12), nämlich hinsichtlich einer »empirischen Theologie« (5.).
Themenblock 1 enthält Gesche Lindes Text mit dem Zitat-Titel »daß Leute, die den Kapitalismus stützen, von uns als Vertreter des Protestantismus im echten Sinn nicht angesprochen werden können« über Paul Tillich und Erich Foerster in Frankfurt (13–132) sowie Markus Wriedts Beitrag »Theologie am Ende der ersten deutschen Demokratie. Frankfurt am Main und Paul Tillich« (133–194).
Im zweiten Themenblock, der fünf Referate versammelt, widmet sich Heiko Schulz in seinem Beitrag »Sein und Geschehen« »Tillichs Metaphysikverständnis der 1920er Jahre« (269–288) und entsprechend hierzu leuchtet Michael Moxter in seinem Vortrag »Symbolischer Realismus« »Tillichs Mythostheorie im Horizont der Zwanziger Jahre« aus (195–213). Die sich in diesen beiden Themenaspekten im Werk Tillichs andeutende »existenzphilosophische und anthropologische« Wende während seiner Frankfurter Zeit wird von Werner Schüßler in seinem Beitrag »Der Mensch und die Philosophie« auf den Punkt gebracht (215–249). Peter Slater steuert mit »Tillich’s Critical Theology of Principled Human Being« einen Aufsatz über die philosophisch-ontologische Grundlegung der Theologie Paul Tillichs bei (289–305) und Yiftach Fehige nimmt in »More than Sand Castles: Paul Tillich, Christianity, and Science« Tillichs Wissenschaftsverständnis aus dieser Zeit unter die Lupe (251–267).
Themenblock 3 eröffnet mit einem Aufsatz von Christian Danz, betitelt »Geschichte und Utopie«, über die Geschichtsphilosophie Tillichs im Verhältnis zu Max Horkheimer (307–322). Damit ist der eine der beiden großen Protagonisten der sogenannten Frankfurter Schule in den Blick genommen; dem anderen, Theodor W. Adorno, widmet sich der Beitrag von Christopher Craig Brittain »Adorno’s Debt to Paul Tillich? On Parataxical Theology« (343–360). Bryan Wagoner untersucht in »Religious Socialism as Critical Theory« Tillichs Spuren politischer Philosophie und Theologie bis in die Frankfurter Zeit hinein und geht damit auf Tillichs Beziehungen zu »the Institute in Frankfurt« ein (323–342).
Mit jeweils einem Beitrag zu den Themenblöcken 4 und 5 be­schließen Christian Wiese (»Spuren des Dialogs mit Martin Buber in Paul Tillichs Reflexionen über Judentum und ›Judenfrage‹« [361–410]) und Hans-Günter Heimbrock (»Empirische Theologie mit Tillich?« [411–429]) den Band.
Die Seitenzahlen der Beiträge sind hier angegeben, um zu veranschaulichen, dass die versammelten Texte ihre jeweiligen Themen in durchaus unterschiedlicher Breite angehen. Der interessierte Leser wird hier anregende Anstöße, aber auch detailliert Ausgeführtes bis hin zur erschöpfenden Quellenanalyse finden.
Natürlich ist es nicht möglich, im knappen Rahmen dieser Rezension auf alle Beiträge gleichermaßen würdigend einzugehen. Hervorgehoben sei die ebenso gründliche wie kenntnisreiche Aufarbeitung des Quellenmaterials zur verwickelten Berufungsgeschichte Tillichs nach Frankfurt, die Gesche Linde in ihrem Beitrag präsentiert. Dass ein Theologe auf einen philosophischen Lehrstuhl »gehievt« wird (so muss man es wohl mit Rücksicht auf die Vorgänge nennen), hat für Unmut und auch reichlich Widerspruch gesorgt. Gleichwohl ist es ein für Frankfurt nicht analogieloser Vorgang, wie Linde am Parallelbeispiel der Lehrverpflichtung des Theologen und Kirchenhistorikers Erich Foerster ans Historische Seminar zeigen kann. Die beiden so unterschiedlichen Gelehrten (sowohl was die durch sie vertretene Generation betrifft als auch im Blick auf ihre theologische und politische Disposition) verkehrten in unterschiedlichen Gesprächszirkeln, ohne sich nachweislich nennenswert zu begegnen, geschweige denn zu beeinflussen. Ebenso quellenkundig wie die Berufungsgeschichte Tillichs nach Frankfurt referiert Linde dessen Entlassung aus dem akademischen Dienst 1933 durch die Nazis.
Den Entstehungsbedingungen der jungen Frankfurter Stiftungs- und Bürgeruniversität wendet sich Markus Wriedt in seinem Beitrag zu. Dabei geht er wie Linde ebenfalls auf intellektuelle Zirkel und Diskurse ein, an denen Tillich teilhatte, schildert auch (nochmals) den Berufungshergang (was man sich nach der ausführlichen Darlegung bei Linde sparen kann) und gibt einen Überblick über Tillichs politische Äußerungen und Wirksamkeit im Ho­rizont der Bewegung des Religiösen Sozialismus.
Besonders hervorzuheben sind ferner die Beiträge von Michael Moxter, Werner Schüßler und Heiko Schulz (aber auch von Christian Danz und Christian Wiese, auf die ich hier jedoch nicht näher eingehen kann). Heiko Schulz nimmt in Tillichs Schrifttum von 1923 (dem »System der Wissenschaften«) bis hin zur »Systematischen Theologie« von 1951 eine Tendenz zur Selbstrestriktion hinsichtlich des Verständnisses von der »Eigenart, Funktion und Leistungsfähigkeit der Metaphysik« wahr (270), die sich auch als Reflex der Beschäftigung Tillichs mit Heidegger deuten lasse. Michael Moxter entfaltet Tillichs Mythoskonzept in Auseinandersetzung mit Ernst Cassirers Mythostheorie und anderen Referenten der zwanziger Jahre. Seine Darstellung differenziert die mythoskritischen Aspekte Tillichs bei gleichzeitiger Betonung der Ambivalenz, die Tillich dem Mythos immerhin zuerkennt (etwa in »Die sozialistische Entscheidung«), was ihn, Tillich, in eine Anlehnung an Heidegger einerseits und in eine schroffe Differenz zu Adorno andererseits rückt. Werner Schüßler zeigt, ausgehend von Tillichs Antrittsvor-lesung in Frankfurt (»Philosophie und Schicksal«), wie Tillich – in Rückgriff auf eine bereits 1926 ausgeführte Gedankenfigur – ein verändertes Verständnis von Philosophie vorantreibt, das deutlich »existenzphilosophische und anthropologische« Akzentuierungen trägt und die philosophischen Veröffentlichungen Tillichs in der amerikanischen Zeit vorbereitet.
Ausgesprochen benutzerfreundlich sind die beiden beigegebenen umfangreichen Namen- und Sachregister sowie auch das Autorenverzeichnis, wobei man hier auch gerne noch zwei, drei Zeilen mehr über die Beiträger gelesen hätte. Ein knappes »Ab­stract« in der jeweils anderen Sprache der jeweils originalsprachlich publizierten Beiträge wäre ebenfalls wünschenswert gewesen, konnte aber im Unterschied zu anderen Tillich-Publikationen der internationalen Forschung offensichtlich leider nicht realisiert werden.