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Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

539–541

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Leslie, Andrew M.

Titel/Untertitel:

The Light of Grace. John Owen on the Authority of Scripture and Christian Faith.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 300 S. = Reformed Historical Theology, 34. Geb. EUR 90,00. ISBN 978-3-525-55090-8.

Rezensent:

Martin Ohst

John Owen (1616–1683) lernte und lehrte zunächst in Oxford und diente dann unterschiedlichen Gemeinden als Geistlicher. Ur­sprünglich Presbyterianer, radikalisierte er sich im Bürgerkrieg zum Kongregationalisten und Independenten. Im Protektorat agierte er in der engeren Umgebung Cromwells. Nach der Restauration verweigerte er sich der kirchlichen Neuordnung und stritt als eminent fruchtbarer theologischer Schriftsteller für reformierte Rechtgläubigkeit. Andrew M. Leslie, der an einer überkonfessionellen evangelikalen theologischen Bildungsanstalt in Sydney lehrt, untersucht sein Glaubens- und Schriftverständnis in ihrer wechselseitigen Interdependenz, und zwar im Zugriff auf Owens Gesamtwerk.
Nach rückwärts konstruiert er Verbindungslinien zu Calvin, vor allem jedoch in die Hoch- und Spätscholastik. Bisweilen gibt er innerreformierte Bezüge von Owens Argumenten an, während die Verweise auf zeitgenössische papstkirchliche Gesprächspartner ebenso pauschal und blass bleiben wie die auf späthumanistisch-frühaufklärerische Autoren; Debatten rekonstruiert er nicht. Das ist schade, denn andernfalls wäre das Problemsyndrom, welches Owens Argumentationen hervorgetrieben hat, noch präziser sichtbar geworden. Es waren die durch konfessionelle Frontstellungen erst wirklich brisant werdenden text- und kanongeschichtlichen Vexierfragen, von welchen her seit dem 17. Jh. die aus Spätantike und Mittelalter überkommene Anschauung von der Autorität des Gottesbuches allmählich zersetzt wurde: In der Papstkirche wurde sie zum Anhängsel der alles überragenden Autorität der Kirche, und im aufgeklärten Protestantismus entstand ein nicht mehr auf formale Autorität abgestütztes, konsequent nachkatholisches Verständnis der christlichen Religion. Angesichts dieser sich allmählich an seinem Horizont abzeichnenden Möglichkeiten will Owen den Glauben allein auf die als empirisch gegebene Größe, also letztlich als Bibelbuch, verstandene Schrift gegründet wissen, und zwar ohne die Dazwischenkunft jedweder anderen vorgängigen Vergewisserungsinstanz – sei es die Autorität der lehrenden Kirche, sei es die human-vernünftige Plausibilität bestimmter biblischer Sachgehalte. Das reformatorische sola scriptura, welches in der polemischen Situation aus der herkömmlichen Höchstgeltung der Bibel im kirchlichen Normenkanon erwachsen war, ist also in ganz andersartige Problemkontexte übergegangen und hat in ihnen auch selbst eine weithin neue Gestalt angenommen. Wie der Vf. eindrücklich zeigt, hat Owen zu diesem Behufe eine theologische Theorie der als Ganzheit verstandenen Schrift konstruiert: Diese ist von Gen 1,1 bis Apc 22,21 im Ganzen wie im Einzelnen ein Werk Christi in seinem prophetischen Amt – in seiner Präexistenz, in seinem Erdenwandel und in seiner erhöhten Gottmenschheit. Zu­mindest auf Owen trifft also die gemeinhin vertretene Ansicht nicht zu, die Verbal- bzw. Literalinspiration der Hl. Schrift sei die theoretische Hauptstütze einer Wertschätzung der Schrift gewesen, durch welche sich die christliche Religion wohl dem Selbstmissverständnis als Buchreligion so stark angenähert hat wie nie zuvor.
Diese Theorie der Bibel steht ihrerseits im wechselseitigen Verweisungszusammenhang mit einer Theorie des Glaubens, welche die Autorität der Schrift zu ihrer Voraussetzung hat: Einen reineren Zirkelschluss wird man kaum irgendwo finden. Die Glaubenstheorie greift weit hinter den empirischen Menschen in die Lehre von Urstand und Sündenfall aus: Postlapsarisch ist dem Menschen im Inventar seiner Fähigkeiten auch ein Maß an Gottes- und Selbsterkenntnis geblieben, welches ihn schlecht und recht durch die diesseitige Welt zu geleiten vermag und ihn angesichts seines Versagens gegenüber der göttlichen Forderung unentschuldbar macht (Röm 1,20). Aber es kann schlechterdings nichts zu seinem ewigen Heil beitragen. Es befähigt den Menschen auch nicht zur Erkenntnis der Schrift als des rettenden Gottesworts. Hierzu bedarf der Mensch der rein gnadenhaften Erleuchtung, die Gott als Gnadenhabitus allein den von ihm Erwählten zuteilwerden lässt. Diese Erleuchtung wiederum schenkt dem Menschen den Glauben an die Bibel als ein Ganzes, als ein Gottesbuch, sowie das wahrhaft heilsame Verstehen und Befolgen ihrer Inhalte. Am Zustande-kommen der Erleuchtung bzw. der Gnadeneingießung, wie Owen gern formuliert, ist das Dokument von Gottes geschichtlichem Heilshandeln ursächlich nicht beteiligt – die Heilsbedeutung Jesu Christi erschließt sich also a posteriori allein dem, der zuvor die Erleuchtung bzw. Gnadeneingießung empfangen hat.
Wie der Vf. zeigt, arbeitet Owen hier allenthalben mit erstaunlicher Kenntnis und großem Geschick an und mit scholastischen Theorieansätzen. Dogmengeschichtlich scheint mir damit allerdings noch nicht die eigentliche Pointe erreicht zu sein. Die scholastischen Gnadentheorien sind ja allesamt eingebettet in höchst subtile Konstruktionen, welche transzendentalpsychologisch das In- und Miteinander von göttlicher Gnadeninitiative und -hilfe sowie menschlicher Mitwirkung und Reaktion durchzubestimmen suchen und so zu einer Verhältnisbestimmung zwischen beiden streben, gemäß welcher der Mensch nur mit Hilfe Gottes zum Heil kommen kann, mit der göttlichen Hilfe jedoch auf jeder noch so kleinen Wegstrecke kooperieren muss.
Diese Bemühungen, Gottes Gnadenwillen, sein geschichtliches Heilshandeln und des Menschen Dabeisein sauber zu unterscheiden und gerade so beieinander zu halten und ineinander zu fügen, sind ihrerseits ein vielstimmiges Echo auf die entscheidenden Im­pulse Augustins, der seine prädestinatianische Gnaden-, Erwählungs- und Geisttheorie mit der an Kirche, Sakramenten und Bibel orientierten Erlösungslehre zwar äußerlich zu kombinieren, aber nicht innerlich zu verbinden vermochte. Und es will mir scheinen, dass Owen mit seinem entkernenden, weil aus seiner Sicht ›synergistische‹ Gedankengänge konsequent ausschaltenden Rückgriff auf die scholastischen Theoriestücke letztlich wieder bei Aporien ankommt, die denen sehr ähnlich sind, in welchen einst Augustin steckengeblieben war.
Als historische Detailstudie liest man dieses Buch mit reichem Gewinn. Es will jedoch selbst mehr und anderes sein, nämlich ein systematischer Beitrag zu den Themen »Schrift« und »Glaube«. Damit es als solcher Anerkennung finden könnte, müssten al-lerdings die kritischen Bemerkungen, die der Vf. an einigen Stellen fast verschämt einflicht, erheblich verfeinert und vertieft werden.