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Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

515–517

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wilckens, Ulrich

Titel/Untertitel:

Theologie des Neuen Testaments. Bd. III: Historische Kritik der historisch-kritischen Methode. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2017. XI, 384 S. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-7887-1909-8.

Rezensent:

Marius Reiser

Dieser Band bildet den würdigen Abschluss der »Theologie des Neuen Testaments« von Ulrich Wilckens. Er greift damit noch einmal die Thematik seiner 2012 publizierten »Kritik der Bibelkritik« auf (vgl. ThLZ 138 [2013], 604 f.), dieses Mal aber gründlicher und umfassender. Das Buch ist nach der Einleitung in drei Teile geteilt, die grob gesprochen das 18., 19. und 20. Jh. umfassen. In der Einleitung unterscheidet W. zwei Richtungen in der Exegese: Da ist einerseits eine »radikal-kritische Bibelkritik«, die in den biblischen Schriften nur menschliche Stimmen hört, die sachkritisch darauf zu prüfen sind, was sie uns »noch zu sagen« haben. Ihr gegenüber stehen Exegeten, denen die biblischen Texte als Heilige Schrift gelten, die keine Sachkritik zulassen, da in ihnen Gott spricht und Gottes Handeln in der Geschichte bezeugt wird. Die Vermittlung und Überwindung dieser gegensätzlichen Positionen ist W.’ Ziel.
W. zeigt durchgehend auf, wie Theologie und Philosophie bis heute von den Prämissen der Aufklärung bestimmt werden. Die Aufklärung ging von der völligen Autonomie des Menschen aus und machte die Vernunft zum alles bestimmenden Kriterium. Die Folge dieser (durchaus nicht selbstevidenten) Prämissen war eine Subjektivierung und Moralisierung der christlichen Religion und Kirche, aber auch die Verdrängung der Theologie durch die Philosophie als Leitwissenschaft. Von diesen Prämissen und Entwicklungen ist nicht nur die »radikal-kritische« Exegese gezeichnet, sondern auch die Apologetik der pietistischen und neupietistischen Exegese. Das ist der Grund, warum sich große Teile des besprochenen Buchs mehr mit Philosophie und Theologie befassen als mit Exegese. So behandelt das Kapitel VI »Gott in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts« (105–180). Darin sind die Ab­schnitte über Nietzsche und Kierkegaard besonders eindrucksvoll. Das entscheidende Manko aller von der Aufklärung bestimmten Theologie und Exegese sieht er in der Unfähigkeit, »Gott in der Wunderbarkeit seines Handelns als geschichtliche Wirklichkeit ernst zu nehmen« (344). Aber »weder Schleiermacher noch Baur konnten eine Theologie entwerfen, deren ›Gegenstand‹ Gott selbst ist und nicht ein ›Aggregat‹ verschiedener ›Begriffe‹ von Gott oder ein durch bestimmte innere religiöse Erfahrungen bestimmtes christliches Selbstverständnis« (211). Diese Unfähigkeit geht auch im 20. Jh. weiter: »Sowohl bei Barth als auch bei Bultmann bleibt der Gottesbezug im Entscheidenden abstrakt. Dass Gott durch das Ereignis von Kreuz und Auferstehung am Menschen handelt, als eigenes Subjekt im Gegenüber zum Subjekt des Menschen und als eigenes Geschichtshandeln Gottes, ist für viele heute immer noch tief problematisch« (344).
Das alles zeigt W. durch sorgfältige, gut lesbare Referate der Quellen. Die Kritik seiner Autoren ist immer sachlich, nie polemisch. Die Urteile sind sorgfältig abgewogen. Wo ein Autor Recht hat, wird ihm Recht gegeben. Das macht die Lektüre erfreulich und teilweise regelrecht spannend. Ein Beispiel sind die Abschnitte über Ferdinand Christian Baur, das seinerzeit berühmte Haupt der evangelischen »Tübinger Schule«. Seine Deutung der Lehre Jesu wird historisch passend im Anschluss an David Friedrich Strauß behandelt (97–104). So sehr Baur Strauß »methodisch überlegen war, so wenig war er sich der theologischen Problematik ›rein historischer‹ Sicht Jesu bewusst, die Strauß vorausgesehen hat und an der dieser [nämlich Strauß] schließlich gescheitert ist« (103). Eine echt historische Erklärung der neutestamentlichen Schriften hat sich Baur schon »dadurch verstellt, dass er alles ›Wunderbare‹ darin von vornherein ausschied« (103). Das gilt bis heute von einem Großteil der sogenannten historisch-kritischen Exegese. Baur wird noch einmal ausführlich behandelt in einem Abschnitt über sein tendenzkritisches Geschichtsbild (248–259). Wieder muss W. feststellen, dass die Lehre Jesu, wie Baur sie vorträgt, »als ganze kein Produkt historischer Textforschung [ist], sondern eine auf dogmatischer Setzung beruhende Deutung, wie er sie eigentlich ganz und gar abzulehnen gedachte« (258). Auch das gilt mutatis mutandis von vielen vermeintlich auf rein historischem Weg gewonnenen Ergebnissen heutiger Forschung. »Daraus ist zu lernen: Weil Exegese nie ohne ein je leitendes Vorverständnis geschehen kann, muss eine in dieser Einsicht begründete Vorurteilskritik aller ›tendenzkritischen‹ Auslegung vorausgehen.« (256) Aber noch ein drittes Mal figuriert Baur in dem angezeigten Buch: im Abschnitt über die Auseinandersetzung, die er mit Johann Adam Möhler führte (317–323). In dieser Auseinandersetzung bekräftigt Baur die Bibel als Heilige Schrift und dies mit solcher persönlicher Überzeugtheit, »als wäre er ein ganz und gar orthodoxer Lutheraner« (322). Demgegenüber wird Möhler mit auffallender Sympathie referiert. Für Möhlers Schmerz über die Kirchenspaltung »hat Baur keinerlei Verständnis« (320). Dabei sieht W. in Möhlers »Symbolik« einen ökumenischen Vorstoß von großer Bedeutung, »was auf evangelischer Seite kaum beachtet, geschweige denn gewürdigt worden ist« (321). »So ist der durchaus ernsthafte Versuch Möhlers, eine Wiedervereinigung der Kirchen – und damit der Gewinnung eines ge­meinsamen geistlichen Verständnisses der Heiligen Schrift – total misslungen.« (323) Freilich habe sich dieser Versuch auch »innerhalb der katholischen Kirche in keinerlei Weise ausgewirkt« (323). Wäre es nicht endlich an der Zeit, diesen Versuch erneut zu machen – gerade im Jahr des Reformationsgedenkens? Und könnte man das angezeigte Buch nicht als Anlass dafür nehmen? – Die Lage nach dem Ende der Vorherrschaft »dialektischer Theologie«, sei es im Sinne Barths oder Bultmanns, sieht W. ziemlich desolat.
»Wir leben gegenwärtig in einer Zeit weitgehender Glaubensleere.« (375) »Was wir brauchen, ist eine nochmalige Kehre zu einem Mut, den für uns gekreuzigten und wahrhaft auferstandenen Christus nicht nur als theologischen Gedanken oder nur als Ausdruck psychischen Empfindens, sondern als unser aller lebendigen Herrn zu bekennen, seine persönliche Nähe und trostvolle Ansprache im Gottesdienst konkret zu erfahren und uns im Glaubensgehorsam ihm ganz hinzugeben.« (344)
Die Voraussetzung dafür sieht W. im Ernstnehmen des Namens Gottes, wie er in Ex 3,14 und Ex 34,6 f. offenbart ist. Die Wirkungsgeschichte dieses Namens ist »in Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft primär für Sünder und im Heilsgeschehen seines Sühnetodes und seiner Auferstehung zu ihrer Vollendung gekommen« (383). Eine Basis für die nochmalige »Kehre« sieht W. in Pannenbergs Konzeption einer heilsgeschichtlichen Theologie, die nicht umsonst auch aufseiten der katholischen Kirche und Theologie ein besonders hohes Ansehen genieße. »Ja, es gibt gute Gründe, ihn als den führenden ökumenischen Theologen der gegenwärtigen evangelischen Kirche zu sehen.« (382)
Auf evangelischer Seite wird man kaum einen bedeutenden Namen finden, den man bei dieser Thematik vermissen würde. Auf katholischer Seite hätten auf jeden Fall Richard Simon und Marie-Joseph Lagrange eigene Kapitel verdient. Was die ökumenische Ab­sicht angeht, wurde Richard Simon ebenso verkannt wie Möhler. Man mag in dem Buch hie und da neuere Sekundärliteratur vermissen, aber solche Lücken fallen angesichts des Erreichten nicht ins Gewicht. Seinem ökumenischen Herzensanliegen wünscht man ansteckende Wirkung.