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Ausgabe:

November/1999

Spalte:

1149 f

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Hofmann, Gerald

Titel/Untertitel:

Hadewijch. Das Buch der Visionen. I: Einleitung, Text und Übersetzung.

Verlag:

212 S., 1 Farbtaf. II: Kommentar. 294 S. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann 1998. gr.8 = Mystik in Geschichte und Gegenwart, Abt. I: Christliche Mystik, 12 u. 13. Lw. DM je 48,-. ISBN 3-7728-1863-3 u. 3-7728-1864-1.

Rezensent:

Simon Gerber

Das Visionsbuch der flämischen Mystikerin, Dichterin und Gelehrten Hadewijch aus der ersten Hälfte des 13. Jh.s gehört zu den faszinierendsten Werken der mittelalterlichen Frauenmystik. Gerald Hofmann legt in seiner zweibändigen Dissertation eine Übersetzung des Visionsbuches aus dem Mittelniederländischen ins Deutsche der Gegenwart und einen neuen Kommentar vor. Der Textband enthält außer H.s Übersetzung nebst kurzer Einführung, Bibliographie und Bibelstellen- und Namensregister auch einen Abdruck der gültigen Textausgabe des Visionsbuchs von Joseph van Mierlo (Löwen 1924/25) ohne textkritischen Apparat sowie den Erstabdruck des Textes einer van Mierlo noch nicht bekannten Handschrift des letzten Stücks des Visionsbuchs, der "Lijst der volmaakten" (Liste der Vollkommenen) (Hs. Neerl. 385 II der Bibliotheek der Ruusbroecgenootschap Antwerpen).

Mit seiner Übersetzung will Hofmann einem bisherigen Mangel aufhelfen - die einzige vollständige neuhochdeutsche Übertragung des Visionsbuchs vor ihm durch Joseph Otto Plassmann (Die Werke der Hadewych, Hannover 1923) sei nicht mehr zeitgemäß -, dabei einen eigenen Interpretationsansatz bieten und dem Leser eine intensive Begegnung mit dem Werk ermöglichen (I, 11 f.). Übertragungen in modernes Deutsch aus einem Deutsch, das erst anfängt, eine feste grammatikalische Form herauszubilden und sich als Schriftsprache zu etablieren, sind immer ein Wagnis. H.s Übersetzung folgt dem Mittelniederländischen relativ frei, versucht jedenfalls keine konkordante Wiedergabe mittelniederländischer Wörter (so werden in Vision VII "ghenoech" und stammverwandte Wörter mit befriedigen, Genugtuung, entsprechen, Genugtun, genügen, eine Lust sein, Befriedigung übersetzt). Auch im Neuhochdeutschen identische Ausdrücke werden oft anders wiedergegeben, z. B. "aderen" (Adern) mit "Sehnen" (Vis. VII, 4), "groten" (großen) mit "riesigen" (Vis. VIII, 1), "mi was te moede" (mir war zumute) mit "ich war erfüllt" (Vis. VII, 5-7). Daß sich die Übersetzung bei allem nicht sehr flüssig liest, bewahrt davor, sie für etwas anderes zu nehmen als für eine Lesehilfe zum Original.

Der Kommentar bietet fortlaufende Erklärungen der erläuterungsbedürftigen Textpassagen. Er soll auf vier Ebenen zum Verständnis des Visionsbuches anleiten: als philologischer Kommentar, als Referat über Standpunkte und Meinungen der Forschung bis 1994 (wichtige Forschungsbeiträge u. a. von Esther Heszler und Frank Willaert konnten nicht mehr eingearbeitet werden), als literarisch-geistesgeschichtlicher Kommentar, der besonders Bernhard von Clairvaux, die Viktoriner und die mulieres religiosae der Diözese Lüttich wie Beatrice von Nazareth berücksichtigt, und als Kommentar, der Bezüge innerhalb des Visionsbuchs und des Hadewijch’schen Gesamtwerks herstellt (I, 13-18). Die philologischen Kommentare, für die es laut H. kaum Vorarbeiten gab, könnten noch erweitert werden, so um Informationen über Bedeutungsfeld und mögliche Übersetzungen mancher mittelniederländischer Wörter (z. B. ghenoech, vgl. oben) und um ein mittelniederländisches Wörterverzeichnis. Hofmanns Versuch, mit seiner Übertragung "auf begrifflicher und syntaktischer Ebene dem mittelniederländischen Text gerecht zu werden" (I, 12), wäre so noch besser zu würdigen. Wünschenswert wären mehr Querverweise zwischen den Einzelerklärungen des Kommentars, z. B. auf die grundlegende Erläuterung des wichtigen Begriffs ghebrukene - Genießen, fruitio (II, 12).

Vergeblich sucht man innerhalb der Dissertation nach einer grundlegenden Einführung in Person, Werk, Zeit und Umwelt Hadewijchs, nach einer Einleitung in das Visionsbuch (Entstehungsgeschichte, Einheitlichkeit, Komposition und Aufbau) und - abgesehen davon, daß H. mit guten Argumenten gegen einen Großteil der Forschung, der die 15 Einheiten des Buches zu ursprünglich 11 zusammenfassen will, die Selbständigkeit von Vision III, VIII und XIV und der Liste der Vollkommenen vertritt (I, 34-42) - nach einem Überblick über die ja nicht gerade spärliche bisherige Hadewijch-Forschung (vgl. die Bibliographie I, 187-203), über ihre Richtungen, Probleme und Kontroversen und über die neuen Einsichten, die H.s Arbeit bringt. Als Einleitung und Anleitung zur Lektüre zeichnet H. einige Grundstrukturen des Visionsbuches nach: die Schritte der Annäherung zwischen der Mystikerin und dem Göttlichen, die Zweiheit von "inden gheeste" (im Geist) und "buten den gheeste" (außerhalb des Geistes), die die visionäre Erfahrung bestimmt, die Stellung der Visionärin als Führerin innerhalb ihrer Gemeinschaft, die Rezeption der Johannes-Offenbarung (I, 21-34). Der Ertrag und Ausblick am Ende des Kommentars ist nicht die Synthese des H.schen Interpretationsansatzes, sondern die Feststellung, trotz einer Einordnung Hadewijchs in die Frömmigkeitsbewegung der mulieres religiosae ihrer Zeit und Umwelt und in die theologische Tradition des Pseudo-Dionysius Areopagita bleibe das Visionsbuch mit seiner Originalität, seiner kompositorischen Dichte, seiner pädagogischen Durchdringung, seiner hermetischen Geschlossenheit und seiner Fülle der inneren Bezüge doch ein Rätsel, dem man sich mit punktuellen Erklärungen und Analysen lediglich nähern könne, ohne es jedoch auszuschöpfen (II, 243-248). Wer nicht den kurzen Überblick sucht, sondern Hadewijchs Werk und geistige Welt für sich erschließen will, dem wird H.s Arbeit eine wertvolle Hilfe sein.