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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

445-447

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Mutschler, Bernhard, u. Gerhard Hess [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gemeindepädagogik. Grundlagen, Herausforderungen und Handlungsfelder der Gegenwart. M. e. Geleitwort v. Ch. Möller.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 252 S. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-04055-1.

Rezensent:

Günter Ruddat

40 Jahre nach der gleichzeitigen, aber voneinander unabhängigen Einführung des Begriffs »Gemeindepädagogik« in die wissenschaftliche Diskussion durch die ostdeutsche Dozentin für Ka-techetik Eva Heßler und den westdeutschen Dezernenten für kirchliche Bildungsarbeit Enno Rosenboom hatte die Evangelische (Fach-)Hochschule Ludwigsburg im Wintersemester 2013/2014 zum Start eines einschlägigen Studiengangs zu einer Vorlesungsreihe zum Thema eingeladen, an der nicht nur die beiden Herausgeber lehren, sondern in deren süddeutschem (württembergischem) Kontext auch die meisten der 14 Beiträge zu diesem »Containerbegriff« (K. Foitzik) entstanden sind. So wendet sich dieses Arbeits- und Studienbuch auch besonders an Studierende der Ge­meindepädagogik an Fachhochschulen, die etwa seit 1990 durch die berufliche Doppelqualifikation geprägt sind und jetzt als kirchliche »Hochschulen für angewandte Wissenschaft« firmieren.
Nach einer ersten zu markierenden Phase der wissenschaftlichen Konzeptionierung der Gemeindepädagogik mit den grundlegenden, didaktisch und inhaltlich durchaus unterschiedlich akzentuierten Studienbüchern von Gottfried Adam und Rainer Lachmann (Ge­meindepädagogisches Kompendium, 1987, 21994), Christian Grethlein (Gemeindepädagogik, 1994) und Godwin Lämmermann und Klaus Wegenast (Gemeindepädagogik, 1994) rundet der vorliegende Band eine zweite Phase der gemeindepädagogischen Diskussion ab: Eingeleitet durch die grundlegende Überarbeitung des Kompendiums von G. Adam und R. Lachmann (Neues Gemeindepädagogisches Kompendium, 2008) erfährt besonders die konzeptionell und systematisch ganz anders strukturierte Gemeindepädagogik (hrsg. von Peter Bubmann, Götz Doyé, Hildrun Keßler, Dirk Oesselmann, Nicole Piroth und Martin Steinhäuser, 2012) in diesem Werk eine in weiten Teilen anregende Fortsetzung und aktuelle Ergänzung. Gelegentlich erweist sich allerdings die regionale Beschränkung als aufzubrechende »Eng­führung«.
In der informativ kurzen Einführung (11–16) erläutern die beiden Herausgeber den Spannungsbogen dieser Gemeindepädagogik, die »aufgrund neuer gesellschaftlicher Entwicklungen […] vor neuen Herausforderungen und Umorientierungen« steht. Das wahrzunehmen und zu reflektieren, darüber nachzudenken und neue Ansätze exemplarisch und praktisch zu entfalten, das stellt dieses Buch – wie schon der Untertitel signalisiert – in zwei Hauptteilen vor: zum einen »Grundlagen und Herausforderungen« (17–144), zum anderen »Gegenwärtige Handlungsfelder der GP« (145–241). An die jeweils sieben Kapitel der beiden Teile sind unterschiedlich ausführliche Literaturverzeichnisse angefügt. Zum Abschluss geben Mutschler und Hess für Studium und Praxis ein knappes »Resümee: Konsequenzen, Kompetenzen und Perspektiven« (241–249), in dem sie einerseits die Ausrichtung eines gemeindepädagogischen Studiums und der darin zu erwerbenden Kompetenzprofile diskutieren und andererseits fünf aktuelle Perspektiven der Gemeindepädagogik herausstellen: »Vielfalt entwickeln – Inklusion üben (im Blick auf Personen und Themen); Vernetzung mit anderen Menschen und Institutionen; Persönliche Beziehungen stärken; Pluralitätsfähigkeit stärken und Identität bewahren (Vorsicht vor falschen Entgegensetzungen); Bibel gegenwartsorientiert lesen lernen«. Das angehängte Autorenverzeichnis (251–252) lädt mit den angegebenen mail-Adressen zum weiterführenden Dialog ein.
Im Vergleich zu den bisherigen gemeindepädagogischen Entwürfen ist der thematische »Türöffner« für eine Kirche als »Lerngemeinschaft« außerordentlich bemerkenswert: Bernd Mutschler, Professor für biblische Theologie/Gemeindediakonie, setzt mit dem ersten Beitrag einmal nicht mit der bisherigen Entwicklung von Gemeindepädagogik als Wissenschaft und Profession o. Ä. his­torisch ein, sondern bringt – was auch Christian Möller (Heidelberg) in seinem Geleitwort (5-6) unterstreicht – kreativ anregend »Jesus von Nazareth und die Frage der gemeindlichen Zielgruppenorientierung« (19-43) miteinander ins Gespräch. In diesem Fragehorizont werden aktuelle Stichworte wie Inklusionsorientierung, Diversitäts- und Gendergerechtigkeit reflektiert, die indi-viduelle, therapeutische und ganzheitliche Zuwendung Jesu herausgestellt und zugleich damit sichtbar werdend ein »universal weiter Himmel«, der jenseits nationaler und religiöser Grenzen Gottes Güte und Großzügigkeit markiert und zum Lob im Alltag führt. Aus diesen biblisch fundierten Motiven entwickelt M. die »gemeindliche Zielgruppenorientierung«, die den ganzen Menschen in seinem ganzen Lebenszusammenhang und die ganze Welt ins Zentrum der gemeindepädagogischen Orientierung stellt, ba­sierend auf einem barrierefreien theologischen Denken und Handeln jedes Einzelnen, das immer wieder neu zu durchdenken und zu modifizieren ist.
Peter Bubmann (Erlangen) entfaltet anschließend im Kontext der EKD eine »Landkarte« der »aktuellen Entwicklungen und Herausforderungen« (45–61) der Gemeindepädagogik. Horizonterweiternd stellt Dirk Oesselmann (Freiburg) die Gemeindepädagogik in eine globale Perspektive der »Weltverantwortung« (63–70). Claudia Schulz bringt die angemessene Nutzung von »Milieu- und Lebensstilanalysen« (71–86) ein, um Menschen in der Gemeinde vor Ort zu erreichen. Annette Noller diskutiert im Kontext aktueller Kirchenreformdebatten »Diakonische Gemeinde heute« (87–103) am Beispiel des württembergischen Praxisprojekts »Diakonat – neu ge­dacht, neu gelebt« und zielt auf »inklusive Gemeinde an pluralen Orten im Sozialraum«. Norbert Collmar spannt den Bogen seiner »berufssoziologischen und theologischen Perspektiven« zwischen »Charisma und Profession« (105–125) von der urchristlichen Ge­meinde bis in die aktuelle Situation. Daran knüpft Nicole Piroth (Hannover) an, wenn sie bei ihrer Reflexion der beruflichen Aufgaben und Kompetenzen des Gemeindepädagogen und des Diakons an »die Rückkehr des eierlegenden Wollmilchschweins« (127–144) erinnert und für dessen »neue Wertschätzung« plädiert.
In dieser generalistischen Perspektive konzentriert sich der zweite Teil auf ausgewählte Handlungsfelder – mit deutlich regionalem Einschlag: Kindergottesdienst und Konfirmandenarbeit, Jugendgemeinde und Jugendkirche, Familien- und Seniorenarbeit in Württemberg. Daneben wird die systematische Förderung Ehrenamtlicher nach dem Konzept von Freiwilligen-Management ins Gespräch gebracht oder der »besondere« Glaubenskurs »Stufen des Lebens« (inzwischen 17 verschiedene Kurse) vorgestellt. Diesen »good-practice«-Beispielen hätte in der Regel eine über Württemberg hinausgehende Einordnung und Reflexion gut getan und die übergreifende Brauchbarkeit des Buches erhöht.
Charlotte Fischer, eine Theologiestudentin aus Wuppertal, um ihre Einschätzung des Buches gefragt, begrüßt
»die beibehaltene ursprüngliche Vortragsform, die die Lesbarkeit vereinfacht. Auch sind dadurch die einzelnen Aufsätze gut strukturiert, was ein gutes Verständnis der Argumentation und des Aufbaues ermöglicht. Das Werk verwendet größtenteils eine einfache Sprache und erklärt viele Fachausdrücke. Der zweigeteilte Aufbau des Werkes hilft gerade Studienanfängern, sich sowohl der Theorie um den Begriff ›Gemeindepädagogik‹ als auch der Praxis der damit verbundenen vielseitigen Handlungsfelder auf einem kompakten Seitenumfang zu nähern. Zum Verstehen des Gesamtwerkes wird kein großes Vorwissen und Fachsprache benötigt. Der Wunsch der Herausgeber, mit dem Werk ein ›Arbeitsinstrument‹ (vgl. 16) für sowohl Studienanfänger und -anfängerinnen als auch schon Praktizierende zu schaffen, ist gelungen. Das Werk regt mit seinen vielen unterschiedlichen Themengebieten und teilweise neuen Ansätzen zur Diskussion an. Der Leser wird beim Lesen des Werkes aufgefordert, sich an der Debatte um die Gemeindepädagogik […] zu beteiligen und Ideenansätze weiterzudenken.«