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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

431-433

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Blum, Christian

Titel/Untertitel:

Die Bestimmung des Gemeinwohls.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. VIII, 244 S. = Ideen & Argumente. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-037896-2.

Rezensent:

Hans-Jürgen Wolff

Auch die Berufung auf das Gemeinwohl ist von den Nazis missbraucht worden. Dennoch ist sie seit geraumer Zeit zurückgekehrt in hiesige politische Debatten und Gerichtsurteile, und sie dient der Rechtfertigung und Kritik von Absichten und Entscheidungen in unterschiedlichsten Zusammenhängen. Das lässt den Gemeinwohlrekurs kontrovers, diffus und inkohärent erscheinen. Ist er mehr als ein rhetorisches Gütesiegel für das jeweils Gewollte? Lässt sich nachprüfbar bestimmen, ob es in einer Angelegenheit überhaupt um das Gemeinwohl geht, was ihm dient, und wie man es erreicht? Diesen Fragen widmet sich die auf eine philosophische Dissertation zurückgehende, luzide Arbeit von Christian Blum, und sie kommt dabei zu Ergebnissen, die für viele Fachrichtungen und für die politische Praxis sehr hilfreich sind.
Die Studie ist in fünf Kapitel gegliedert. Im ersten untersucht B. die »Struktur der öffentlichen Rechtfertigungspraxis politischen Handelns«. In ihr sei das Gemeinwohl zu einem so bedeutenden Argument geworden, dass dringlich untersucht werden sollte, ob sich ein kohärenter Gemeinwohlbegriff bestimmen lässt (was Kritiker bezweifeln) und ob der mit demokratischen Verfahren kompatibel ist (was Kritiker verneinen, denn wäre das Gemeinwohl allein Sache adäquater Erkenntnis, dann käme ihm wahrscheinlich eine uneigennützige Expertokratie näher als der laienhafte, von vielerlei Interessen gespeiste Mehrheitswille – was dessen Legitimität tendenziell unterminierte).
Das zweite Kapitel ist der prozeduralistischen Gemeinwohltheorie gewidmet, dem am meisten verbreiteten Versuch, das Di­lemma bei den Hörnern zu packen, dass der Gemeinwohlbegriff einerseits schwer zu bestimmen ist und andererseits, je besser seine Definition gelingt, desto mehr in Spannung zu demokratischen Verfahren zu geraten scheint. Die prozeduralistische Gemeinwohltheorie »beruht auf der Kernthese, dass das Gemeinwohl im Output eines politischen Systems besteht, dessen Verfahren und In-stitutionen bestimmten normativen und funktionalen Adäquatheitsbedingungen genügen.« Die Theorie werde in einer ob­jekti-vistischen und einer subjektivistischen Variante vertreten. Für die Objektivisten lasse sich das Gemeinwohl wahrheitsfähig anhand moralischer Tatsachen erkennen, die unabhängig von den Mitgliedern des Gemeinwesens existieren. Sie bedienen sich des demokratischen politischen Systems als Erkenntnisinstrument. Das bedeute: Die Mehrheit könne sich über das wahre Gemeinwohl auch irren. Selbst wenn sie es aber richtig identifiziere, erscheine das nie als Akt souveräner Selbstbestimmung, sondern als Erkenntnisakt, und das verfehle das Proprium einer freiheitlichen Demokratie, die interessengeleitete Selbstbestimmung der Bürgerschaft. Die subjektivistische Variante der Theorie wahre dieses Proprium, denn sie betrachte die Bestimmung des Gemeinwohls nicht als Erkenntnis der Wahrheit, sondern als Ausdruck demokratischen Willens. Mit anderen Worten und natürlich stark vergröbernd: Die Mehrheit und ihre Interessen bestimmen, was das Gemeinwohl sei, wobei an die Weisheit und Informiertheit der Abstimmenden noch mehr oder minder hochgespannte Anforderungen gestellt werden können. Selbst dann bleibe jedoch der Einwand, dass in dieser Variante (anders als in der objektivistischen) kein Platz für Irrtümer der Mehrheit hinsichtlich des Gemeinwohls sei, obwohl es intuitiv plausibel und historisch erwiesen erscheine, dass sich demokratische Mehrheiten sehr wohl massiv darüber irren können, was ihrem Gemeinwohl dient. B. kritisiert sowohl die objektivistischen als auch die subjektivistischen Spielarten der prozeduralistischen Gemeinwohltheorie so akribisch wie durchschlagend, hält aber ihr Scheitern für instruktiv, weil es den Wunsch wecke, die Vorteile dieser einander ausschließenden Hauptvarianten der prozedura-listischen Theorie – demokratische Deutungshoheit über das Ge­meinwohl, aber mit inhaltlichen Begrenzungen des Mehrheitswillens – in einer »integrativen Gemeinwohltheorie« zu verbinden.
Diese integrative Theorie wird im dritten Kapitel entwickelt, ausgehend von dem das Prinzip der demokratischen Souveränität wahrenden subjektivistisch getönten Prozeduralismus. Demnach stelle »das Für-gut-Halten einer Handlung seitens der Gemeinschaftsmitglieder den ausschlaggebenden Grund dar, kraft dessen diese Handlung gemeinwohldienlich ist – es sei denn, diese Handlung verletzt die Rahmenbedingungen der Gemeinwohlbestimmung. In diesem Falle ist die Handlung nicht gemeinwohldienlich, sondern – je nachdem, in welcher Form sie die Rahmenbedingungen verletzt – gemeinwohlschädlich oder für die Beförderung des Gemeinwohls irrelevant.« Die Rahmenbedingungen gewinnt B. aus 1. »Kriterien zur Identifizierung von Gemeinwohl-Sachbereichen«, 2. sachbereichsspezifischen Verfahrenskriterien für den jeweils angemessenen prozeduralen Modus der Gemeinwohlbestimmung, 3. sachbereichsspezifischen Gemeinwohl-Grenzwerten und 4. sachbereichsspezifischen Gemeinwohl-Signifikanzschwellen, wobei die vielfältigen bereichsspezifischen Verfeinerungen na­turgemäß nicht Sache einer philosophischen Grundlagenarbeit, sondern der Fachwissenschaften seien.
Bei 1. lautet die »Kernthese […], dass das Identifikationskriterium […] für Gemeinwohl-Sachbereiche […] darin besteht, dass in diesen Feldern die Bereitstellung, Sicherung oder Vermehrung öffentlicher Güter thematisch ist«. Zu 2. werden die Vor- und Nachteile unterschiedlich partizipativer und zeitaufwendiger Verfahren der Willensbildung entwickelt und mit Merkmalen von Entscheidungslagen (z. B.: komplex, dringend, zivilgesellschaftlich bearbeitbar etc.) verbunden, was die dem jeweiligen Einzelfall angemessene Verfahrenswahl erleichtere. Zu 3. geht es um die Frage, »welche Effekte eine konkrete Handlung mindestens nicht haben darf, um nicht gemeinwohlschädlich zu sein«, bei 4. um Schwellen dafür, »welche Effekte eine Handlung mindestens haben muss, um für die Beförderung des Gemeinwohls nicht irrelevant zu sein.«
Das vierte Kapitel plausibilisiert die integrative Gemeinwohltheorie, indem ihre Kriterien auf zwei Fallbeispiele angewendet werden: auf die Kontroverse um die nachträgliche Sicherungsverwahrung für Straftäter, die gemäß gutachterlicher Einschätzung auch nach dem Verbüßen ihrer Haftstrafe ein Gefährdungsrisiko für die Allgemeinheit darstellten, und auf den Streit über den Bau der Dresdner Waldschlösschenbrücke. Die Theorie erweist sich als wirksames und hilfreiches Instrument, um Gemeinwohlbelange zu identifizieren und sie sowohl hinsichtlich ihrer Behandlungsweise als auch ihrer Entscheidung zu strukturieren, was die Qualität der politischen Debatten über das Gemeinwohl und die Kritik an gemeinwohlrelevanten Entscheidungen zu verbessern verspricht.
Im fünften Kapitel rekapituliert B. seine Argumentation und deren Ergebnisse und weist auf das beachtliche interdisziplinäre Potential seiner Theorie hin. Sie dürfte für alle von großem Interesse sein, die sich in Theorie und Praxis um die Bestimmung des Gemeinwohls bemühen.