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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

414-416

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Meyer-Hansen, Ralf

Titel/Untertitel:

Apostaten der Natur. Die Differenzanthropologie Helmuth Plessners als Herausforderung für die theologische Rede vom Menschen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XV, 475 S. = Religion in Philosophy and Theology, 73. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-152739-5.

Rezensent:

Gregor Etzelmüller

Diese Monographie stellt die leicht überarbeite Fassung einer von Michael Moxter betreuten Dissertation dar, die in »Anknüpfung an die Differenzanthropologie Plessners eine Selbstklärung und Profilierung der theologischen Anthropologie« (445) ermöglichen möchte. Plessner wird dabei von Ralf Meyer-Hansen sachangemessen als ein Denker rekonstruiert, der den Geist als eine Gestalt des Lebens versteht, um so jede Form eines cartesianischen Dualismus zu unterlaufen. In Plessners Bemühen, Geist und Natur nicht zu trennen, aber zu unterscheiden und so die Spezifika des Menschseins zu wahren, ohne in einen Dualismus zu verfallen, sieht M.-H. die größte Nähe Plessners zur protestantischen Anthropologie.
»Grundlegend konvergieren die Differenzanthropologie Plessners und die moderne evangelische Theologie darin, zwar Duale zur Beschreibung des Menschen zu benutzen, einen Dualismus aber unter allen Umständen zu vermeiden. Mit dem Exzentrizitätstheorem und infolge des Unergründlichkeitsprinzips gelingt es dem philosophischen Anthropologen Plessner, in den Begriff vom Menschen die Unschärfe und Offenheit der Wesensbestimmung mit hinein zu nehmen. Diese Gebrochenheit ist es, die Geschichte ermöglicht, sie gibt dem Menschen Macht, weil sie ihn nicht festgelegt sein lässt, weder durch seine Vergangenheit noch durch seine Gene.« (432)
Plessners Anthropologie biete die Möglichkeit, Dualismus und Naturalismus ebenso zu vermeiden wie Essentialismen. Gegen jegliche Wesensbestimmung des Menschen wolle Plessner die An­thropologie gerade »in ihrer Offenheit für die Geschichte be­greiflich machen« (12; vgl. 392). Um diese These zu begründen, ist M.-H. genötigt, Plessners Hauptwerk »Die Stufen des Organischen und der Mensch« mit dessen geschichtsphilosophischer Schrift »Macht und menschliche Natur« zusammenzulesen (Kapitel II und III). In dieser überzeugenden Zusammenschau ergibt sich die Er­kenntnis: »Die Bestimmung kann nicht absolut und damit ab­schließend ge­schehen, sondern ist der Politik und der Geschichte aufgegeben.« (370) Diese Verknüpfung von Bestimmung und Geschichte hat freilich auch Konsequenzen für die theologische Anthropologie: Weil die »Unterscheidung ›zwischen einer privaten Sphäre des Heils der Seele und einer öffentlichen Sphäre der Gewalt‹ […] anthropologisch nicht zu rechtfertigen« sei (433), gelte es, »die politische Di­mension konstitutiv in die theologische Rede vom Menschen mit einzubeziehen« (442).
Eine Einsicht Hans-Peter Krügers (vgl. 109) aufgreifend stellt M.-H. die geschichtsphilosophische Deutung von Plessners An­thropologie in den Horizont von dessen früher Beschäftigung mit Kant (Kapitel I). Ausgehend von der Kritik der Urteilskraft (vgl. 58. 119) rekonstruiere Plessner Kants Philosophie als »Selbstkritik der Vernunft« (85), die die Selbstabschließungen des modernen Naturalismus aufbreche (vgl. 20.102). Plessners Leistung liege darin, dass er »die Subjektivitätstheorie der Kritik der Urteilskraft fortschreibt, indem er sie konstitutiv an die Leiblichkeit bindet« (113; vgl. 143). Die Urteilskraft ist immer schon verkörpert. Hinter diese von M.-H. überzeugend herausgearbeitete Einsicht Plessners sollte niemand zurückfallen, der im Interesse einer Überwindung von Dualismus und Naturalismus auf Kants dritte Kritik zurückgreift.
Die ihm durch seine Kant-Studien aufgegebene Verhältnisklärung »von Leib und Autonomie« (144) bearbeite Plessner im Kontext einer Philosophie des Lebendigen (vgl. 150), die, weil sie die »Alternative von Körper und Geist unterlaufen« wolle, »weder direkt beim Subjekt noch direkt beim Objekt der Erfahrung« einsetze (152). Plessner verstehe den Körper als immer schon »in Beziehung seiend« (164). Als »autonomes System« (Plessner; vgl. 182) realisiere der Körper aber seine Grenze selbst (vgl. 163) und bestimme dadurch seine Beziehungen, in denen er steht, mit (vgl. 191). Deshalb gelte mit Plessner: »Das lebendige Dasein besitzt ein Surplus gegenüber den unbelebten Dingen, da es im Jetztpunkt immer schon ein Noch-nicht-Sein beinhaltet, es ist ein ›im Jetzt stehendes Nochnicht‹« (182). Während diese Einsicht auf alles lebendige Dasein zutreffe, entfalteten sich mit den verschiedenen Stufen des Organischen auch unterschiedliche Formen der Freiheit: Erst der Mensch sei sich seiner selbst als im Jetzt stehendes Nochnicht bewusst. »Mit der Konsequenz, dass ihm in der so ermöglichten Selbstdistanz einerseits ein höchstes Maß an Macht und Freiheit zufällt, andererseits die Einsicht in die eigene Nichtigkeit aufgeht.« (225)
M.-H. legt eine reichhaltige, in sich differenzierte Deutung der Anthropologie Plessners vor, von der die Theologie in der Tat lernen kann: Dem »Unterschlagen der Natur« in der theologischen An­thropologie (413) kann mit Plessner so entgegengearbeitet werden, dass die Anthropologie nicht vermeintlichen Essentialismen verfällt, sondern die Zukunftsoffenheit des Menschen herausarbeitet. »Das Werden zur Gottebenbildlichkeit ist nicht im Sinne eines Identischwerdens zu verstehen, der eine gottgewollte vorgegebene Identität zugrunde liegt, sondern es ist als ein offenes Werden im Sinne einer offenen Möglichkeit Gottes zu explizieren.« (430) Insofern kommen theologische Anthropologie und Plessners Religionskritik in einer Kritik jeglicher Religion zusammen, die den Menschen auf ein bestimmtes Bild fixiert und ihn so jeglicher Flexibilität beraubt, d. h. in der Kritik an einem »fixierenden Gottesbegriff« (393).
Es soll die vielfältigen Verdienste des zu besprechenden Werkes (die geschichtsphilosophische Deutung der Anthropologie Plessners, die Rekonstruktion ihres Hintergrundes in den Kant-Studien des frühen Plessners sowie die nachzeichnende Klärung des Verhältnisses von Leib und Autonomie) nicht schmälern, wenn ab­schließend gefragt wird, ob der Versuch, die theologische Sachthematik gerade über das Phänomen der Religion an Plessners Anthropologie anzuschließen, wirklich überzeugen kann.
Obwohl M.-H. selbst ausführlich darlegt, »dass Plessner mit seiner Anthropologie implizit eine Religionskritik formuliert« (7; vgl. dazu 263–284.353–383.397–411), deutet er dessen Anthropologie auch religionsphilosophisch, um zu zeigen, dass Religion »weiterhin eine berechtigte Möglichkeit darstellt, um sich gegen den Ma­terialismus und andere reduktionistische Konzeptionen abzugrenzen« (411). Doch warum sollte noch einmal religiös gesagt werden, was man auch a-religiös (etwa in Gestalt der Anthropologie Plessners; vgl. 422) erkennen kann? Der Hinweis darauf, dass Plessner als Denker letzter Unabgeschlossenheit auch die Gottesfrage offen lassen müsse (vgl. 401), gibt hierauf jedenfalls keine Antwort. M.-H. rekurriert auf »die individuelle Frage nach dem Sinn des Lebens« (375).
Während nach Plessner der Mensch »die Sinnbezüge seiner selbst« im Raum des Politischen gewinne (vgl. 374), stellt M.-H. den »Unbedingtheitscharakter« der Sinnfrage in den Vordergrund, vor dem die Politik bewahrt werden müsse (442) – indem die Theologie »an das Andere der Macht [erinnert], das selbige be­grenzt« (442). Wenn deshalb schließlich das bundesrepublikanische Staatskirchenrecht als in der »Fluchtlinie« von Plessners Überlegungen stehend »plausibilisiert« wird (440), darf man die Frage stellen, ob hier gegen die Intention M.-H.s (vgl. 386) nun nicht doch Plessners Anthropologie kirchlich-theologisch vereinnahmt wird. Demgegenüber wäre zu erwägen, ob man Plessners Religionskritik nicht so würdigen könnte, dass man die theologische Sachthematik nicht über das Phänomen der Religion, sondern über einen gehaltvollen Gottesbegriff ins Gespräch mit der philosophischen Anthropologie bringt: Als Schöpfer, der seinen Geschöpfen an seiner eigenen Kreativität Anteil gibt, lässt Gott den Menschen leben, etsi deus non daretur. In dieser Situation der Abwesenheit eines fixierenden Gottes inspiriert der Heilige Geist die Geschöpfe, komplexere Formen des Lebens zu verwirklichen. Er orientiert sich dabei an Jesus Christus, in dessen Leben, Tod und Auferstehung die Bestimmung des Menschen offenbar wurde, ohne verfügbar zu werden.