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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

413-414

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hölterhof, Tobias

Titel/Untertitel:

Anthropologie des Leidens. Leidensphilosophie von Schopenhauer bis Scheler.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2013. 156 S. = Beiträge zur Philosophie Schopenhauers, 15. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-8260-5219-4.

Rezensent:

Philipp Stoellger

In seiner Dissertationsschrift untersucht Tobias Hölterhof das »Leiden« bei Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche und Scheler. Die vier Studien stehen unter dem programmatischen Titel einer »Anthropologie des Leidens«, womit die Voraussetzung geltend gemacht wird, alle untersuchten Autoren behandelten »dasselbe Leidensphänomen« (11). Der Vf. schließt an eine Studie E. Angehrns an (Das Leiden und die Philosophie, 2006), der den Leidensbegriff differenziert in passives Erleben, schmerzhaftes Erleiden und reflexives Leiden. Mit dem so differenzierten Begriff ist allerdings unwahrscheinlich, dass stets über ein und dasselbe »Leidensphänomen« gesprochen wird. Die Synthesis des phänomenal Heterogenen wird vor allem durch ein Vorverständnis des Vf.s geleistet (vgl. Einleitung, 7), in dem das schmerzhafte Erleiden dominiert. Dass auch Glück, Vergebung oder Gnade nicht gemacht, sondern im grammatischen Sinn »erlitten« werden, bleibt ungedacht. Damit einher geht die starke These, der »westlichen Philosophie« sei das Leiden erst zentrales Thema geworden, als das »Subjekt« fokussiert wurde. Das kann nur teilweise überzeugen, zumal wenn die lateinischen und griechischen Traditionen der Begriffs- und Problemgeschichte berücksichtigt würden.
Die vier Positionen werden schulmäßig behandelt, stets biographisch eingeleitet und an den einschlägigen Quellen entlang. Dabei wird am Leitfaden der Quellen deutlich differenzierter gearbeitet, als die Ausgangshypothese vermuten ließ. Schopenhauer (13–43; die Seitenzahlen des Inhaltsverzeichnisses stimmen leider durchgängig nicht) wird in seiner eigentümlichen Leidenspositivierung entfaltet, epistemisch, ontologisch wie ethisch. Dass mit »Mitleid« (33) indes deutlich anderes in den Blick kommt als »schmerzhaftes Erleiden«, hätte zur Modifikation der Leithypothese führen können, auch über Angehrns Vorgaben hinaus. Bei Kierkegaard (44–74) wird vom Vf. im Vorübergehen die Frage des Sprechens bzw. der Thematisierung gestreift (46 f.) und (selbstkritisch?) bemerkt: »Das Leiden ist kein einheitliches Phänomen.« (53) Bei Kierkegaard werde das Unglück vom »eigentlichen« Leiden unterschieden (53 f.). Ob dann noch behauptet werden kann, »Leiden und Schmerzen sind im Christentum ein persönlicher Weg zu Gott« (65)? Von den theologischen Problemgeschichten des Themas bleibt die Arbeit weitgehend unbehelligt (auch wenn D. Sölle er­wähnt wird, 66). Diese merkliche Beschränkung führt dann auch dazu, dass der Glaube als »Leidenschaft« nicht in den Blick kommt. Bei Nietzsche (75–97) wird im Rahmen seiner Ontologie (oder Interpretationstheorie?) des »Willens zur Macht« ein Doppelbegriff des Leidens identifiziert in der Unterscheidung des tragischen oder heroischen Leidens vom christlichen. Während Letzteres als arm und müde gelte, werde Ersteres als produktiv begriffen (96 f.). Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Dargestellten indes sucht man vergeblich. Bei Scheler (98–127) wird mit dem »Apriori des Fühlens« (100 ff.) der thematische Horizont geweitet auf die Tradition von Pathos und Pathe (ohne Rückgriff auf die philosophische Tradition dessen). Schelers eigene Untersuchungen traditioneller »Leidenslehren« werden kurz gestreift (115–117), um seine eigene Lehre vom »Sinn des Leidens« (117–123) darzustellen. Seine »Pathodizee« (120) wird mit »christlichen Vorstellungen« parallelisiert, so dass das leidliche Opfer niederer Werte für höhere ebenso tragisch wie christlich erscheint (121). »Diese Läuterung durch das Leiden ist eine im Christentum verankerte Deutung des Leidens, die sich auf die Passionsgeschichte von Jesus bezieht« (122), notiert der Vf. Hier wäre nähere Differenzierung ebenso möglich wie angebracht.
Die Zusammenfassung unternimmt die Entfaltung des Programmtitels einer »Anthropologie des Leidens« (128–145). Rückblickend notiert der Vf., alle von ihm behandelten Autoren machten ihre »eigene leidende Existenz« zum Gegenstand ihrer Lei­-densphilosophie (129), womit sich dann auch die biographischen Rück­kopplungen in der Darstellung erschließen. Dem zugrunde liegt die generelle These des Vf.s, »das Leidensphänomen« stelle ein »existentielles Erlebnis« dar, in das »der Mensch stets involviert« sei (131). So wenig man dem widersprechen könnte (von prekären Generalisierungen abgesehen), ist damit kaum der Geltungs- oder Deutungsmachtanspruch der dargestellten Anthropologien ge­troffen. Treffender vermutlich ist die weiterführende Beobachtung, dass in der Reflexion »mit dem Leiden anstatt über das Leiden« eine eigene »Methodik des Philosophierens« entdeckt werde (131). Damit ist eine Pointe entdeckt, die die diversen Funktionalisierungen des Leidens (140–145) ebenso unterläuft wie überschreitet. Schade nur, dass sich der Vf. an diesem Punkt das Gespräch mit den theologischen Traditionen hat entgehen lassen.