Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/1999

Spalte:

1141–1143

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Hauschild, Wolf-Dieter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Profile des Luthertums. Biographien zum 20. Jahrhundert.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1998. XII, 770 S. gr.8 = Die Lutherische Kirche. Geschichte und Gestalten, 20. Kart. DM 168,-. ISBN 3-579-00386-0.

Rezensent:

Ute Mennecke-Haustein

Der anzuzeigende Band versammelt auf gut 750 Seiten 36 Artikel, die dem Leben und Werk der "für die Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts" maßgeblichen "Männer und Frauen" gewidmet sind und jeweils mit einer Bibliographie wichtiger Primär- und Sekundärliteratur abschließen. Naturgemäß fallen die Beiträge in einem Sammelwerk formal, inhaltlich und auch bezüglich des Abstands, den ein Autor zu seinem jeweiligen Gegenstand hält, unterschiedlich aus. Ich möchte im folgenden weniger einzelne Beiträge rezensieren als vielmehr die zustandegekommene Sammlung im Ganzen zu charakterisieren suchen.

Die getroffene Auswahl wird im sehr knappen Vorwort des Herausgebers kurz begründet: Laien, Kirchenmänner und wissenschaftliche Theologen sollten gleichermaßen berücksichtigt werden; der Schwerpunkt des Wirkens sollte in Deutschland und deutlich im 20. Jh. liegen, und die jeweiligen Personen sollten schon gestorben sein. (Dadurch liegt das zeitliche Schwergewicht des Bandes auf den ersten zwei Dritteln des Jahrhunderts, und etwas kurz kommt so auch die jüngere, nur durch Krummacher vertretene Kirchengeschichte der DDR). Vorgabe ist vor allem eine lutherische Prägung, die zu charakterisieren Sache der einzelnen Beiträger ist.

Das eindrucksvolle Spektrum der vertretenen Persönlichkeiten reicht so von den ältesten, noch um die Mitte des 19. Jh.s geborenen Männern (A. v. Harnack 1851, L. Ihmels 1858, R. Seeberg und W. v. Pechmann 1859) bis zu den um die Jahrhundertwende bis 1910 Geborenen, die dann die Nachkriegszeit in BRD bzw. DDR mitgestalteten (H. Ehlers, E. Gerstenmaier, K. Ihlenfeld, H. J. Iwand und H. Lilje, deren beider 100. Geburtstag in dieses Jahr fällt, W. von Löwenich., H. Sasse, H. Thielicke, F. W. Krummacher, auch H. Asmussen). Zu dieser Generation gehören auch jene, die die NS-Zeit nicht überlebten: D. Bonhoeffer, H. Distler und J. Klepper.

Zwischen den Generationen steht erkennbar K. Holl (1866), der Begründer der neuzeitlichen Lutherstudien. Etwas später geboren ist die Gruppe der bedeutenden Kirchenrepräsentanten der Weimarer Zeit und der Kirche unter der Nazi-Herrschaft (Th. Wurm 1868, F. v. Bodelschwingh 1877, A. Marahrens 1875, O. Dibelius 1880, H. Meiser 1881). Extrem fruchtbar bes. für die wissenschaftliche Theologie waren dann interessanterweise die 80er Jahre, in denen ungefähr ein Drittel der vertretenen Personen geboren ist (W. Stählin 1883, R. Bultmann 1884, W. Elert 1885, H. Hahn 1886, H. Girgensohn und F. Gogarten 1887; 1888 allein vier: P. Althaus, E. Hirsch, H. Rendtorff und G. Ritter; auch noch R. von Thadden-Trieglaff (1891). Vertreten ist neben Klepper und Ihlenfeld auch der Dichter R. A. Schröder (1878), leider nicht Ricarda Huch und auch nicht Ina Seidel, und - auf diese Weise als einzige Frau - die Religionspädagogin Margarete von Tiling (1877). Lücken werden vom Hg. - ohne Namensnennung - zugestanden. Ein paar eventuell zu vermissende Namen seien dennoch genannt: Heinrich Bornkamm, Karl Heim, Rudolf Hermann, Otto Riethmüller, Hanns Rückert, Kurt Scharf, Edmund Schlink, Carl Stange, und doch wohl auch Martin Niemöller. Leider ist auch keiner der großen Alttestamentler vertreten und unter den Neutestamentlern im Grunde auch nur Bultmann.

Der Untertitel des Bandes verspricht "Biographien zum 20. Jahrhundert"; nicht systematische Abhandlungen, auch nicht lediglich Theologiegeschichte, sondern die unauflösliche Verbindung von persönlichem Lebensweg, Zeitgeschichte und (theologischem) Werk darf der Leser also erwarten. Dies ist ein hoher Anspruch, dem die meisten Autoren erkennbar verpflichtet sind. Programmatisch und höchst erhellend etwa analysiert F. W. Graf in seinem 60seitigen Aufsatz über Reinhold Seeberg "innere Zusammenhänge zwischen Lebensgeschichte und theologischer Problematik" (619). Eilert Herms behandelt hingegen Emanuel Hirschs "Leben und Schriften" in einem 20seitigen hochkonzentrierten systematisch-theologischen Aufsatz! Ausführlicher könnten die biographischen Informationen auch etwa über Dibelius, Holl und Sasse ausgefallen sein.

Dabei ist die für die Kirchengeschichte des 20. Jh.s neuralgische NS-Zeit überall als Problemstellung gegenwärtig und meist auch ausführlich behandelt (vgl. u. a. Hans Ottes besonnene, Pauschalisierungen wie Apologetik meidende Darstellung von Marahrens). Doch für die Zeit des ersten Weltkriegs gilt dies nicht in entsprechendem Maße, obwohl die 1. Weltkriegsgeneration, die im Band ja stark vertreten ist, die Theologie des 20. Jh.s bestimmte. Noch der junge Jochen Klepper wurde, wie aus Joachim Mehlhausens eindrucksvollem Porträt deutlich wird, als Gymnasiast durch die Ereignisse lebensbestimmend geprägt.

Die biographisch-zeitgeschichtliche Darstellung der Weltkriegsjahre und deren Rückkoppelung an die theologische Reflexion nimmt angesichts dessen vergleichsweise geringen Raum ein (vgl. etwa zu Bultmann, Dibelius, Gogarten, Hirsch und Holl, Sasse, Schröder, Stählin). Hilfreich sind hierzu außer dem Seeberg-Artikel, der das "August-Erlebnis" thematisiert und auch weiterführende Literatur dazu nennt, Walter Sparns Artikel über Paul Althaus, der die Erfahrung der "Bedrohung des Deutschtums im Osten" benennt - für die Theologen aus dem baltischen Raum (vgl. zu Hahn, Girgensohn) von eigener traumatischer Bedeutung -, und über Werner Elert, der auf die theologische Inanspruchnahme des "Schicksal"-Begriffes ein-geht (165 ff.). Dezidierter wünschte man sich verschiedentlich auch die Thematisierung der Weimarer Republik. Der souveräne Artikel des Herausgebers geht auf Harnacks Haltung ein, der als Alt-Liberaler wohl nahezu als einziger bereit war, für die Republik einzutreten, und der am Weimarer Verfassungswerk (Kirchen-und Schulartikel) aktiv mitwirkte; und Kurt Novak reißt im Artikel über Gerhard Ritter die Bedeutung des ersten Weltkriegs als "Kulturschock"-Erfahrung für die Lutherstudien der 20er Jahre an (583 f.) Die drei wichtigen Lutherjubiläen dieser Zeit (1917, 1921, 1930) kommen sonst in diesem Band so gut wie gar nicht vor!

Übereinstimmend einläßlich haben die Autoren das ökumenische Engagement der Theologen und Kirchenmänner gerade in der ersten Hälfte des 20. Jh.s dargestellt, das die Vorstellung, die kirchliche Aktivität dieser Zeit sei überwiegend im völkischen Horizont steckengeblieben, eindrucksvoll zurechtzurücken vermag (und dieses wohl auch soll).

Kurz zu thematisieren ist abschließend das, was der Hg. als "imposantes Profil des Luthertums" bezeichnet und der Obertitel des Buchs wohl zutreffender im Plural formuliert, um die von liberal, bekenntnistreu, erweckt, modern-positiv bis nur modern oder existentialistisch reichenden Möglichkeiten der Annäherung an Luther und Luthertum im 20 Jh. zu dokumentieren. Doch dem Leser dieses Bandes vermittelt sich das "Luthertum" auch nicht nur als nebulöse Größe - dank der Bemühungen der Autoren, die mit wenigen Ausnahmen (Ihmels, Sasse) das Lutherische an der Theologie ihrer Protagonisten aufzuweisen suchen und dafür Kriterien benennen müssen. In einigen Fällen geht dies allerdings nicht ganz ohne Anstrengung; etwa bei den durch die Kirche der Union geprägten Dibelius und Bodelschwingh. Krumwiedes Nachweis der Lutherizität Bonhoeffers gerät ein wenig apologetisch, und Grafs Iwand-Portrait süffisant ("barthianisch modifiziertes antikonfessionalistisches Neuluthertum"). "Harnacks Werk als Bestandteil des Luthertums zu verstehen", bezeichnet der Autor selbst als noch weiter zu verfolgende "Aufgabe" (286 f.) "Schattenhaft" wirke das lutherische Profil seiner Position nach (293). Im Fall von Bultmann und Gogarten erweist sich die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als der theologische Locus, der spezifisch lutherische Identität konstituiert. In großer Übereinstimmung artikuliert sich darüberhinaus - nicht überraschend - in der Zwei-Regimenten-Lehre und der Vorstellung von den Schöpfungsordnungen ein (letztlich in der Rechtfertigungslehre begründetes) lutherisches Verhältnis des Christen zur Welt, das sich auch im Leben in der Welt zu bewähren sucht und das trotz theologischer Fehldeutungen und Einseitigkeiten auch nach dem 2. Weltkrieg seine bleibende, identitätsstiftende Bedeutung für christlich-lutherisches Weltverständnis und die Wahrnehmung von politischer und gesellschaftlicher Verantwortung behalten hat (vgl. Ehlers, Gerstenmaier)- insofern hat es eine innere Logik, Biographien zu präsentieren! Gelegentlich leuchtet spezifisch Lutherisches auch noch allgemeiner als Festhalten an der Bedeutung der von der Krisistheologie preisgegebenen historischen Dimension für Glauben und Frömmigkeit (Elert, Hirsch, Lilje), ja ein Bewußtsein für die Bedeutung des Äußeren als Vermittlungsinstanz für den Glauben auf, etwa in Abendmahlslehre und Liturgie (vgl. zu Stählin).

Der historische Bogen, den der Band spannt, ist groß, doch die anfänglichen Zweifel, ob es sinnvoll war, ihn so weit in das 19. Jh. hineinreichen zu lassen, lösen sich am Ende in der Einsicht auf, daß es so doch eine ganze Sache ist, die hier zur Darstellung kommt. Denn stand, wie überwältigend deutlich wird, die Lutherinterpretation unterschiedlicher Couleur nach dem 1. Weltkrieg überwiegend in der Frontstellung gegen den als dekadent geziehenen liberalprotestantischen Subjektivismus und im Zeichen der Suche nach dem Überindividuell-Bindenden, den gesetzhaften Ordnungen, so gewann nach dem Krieg wieder die Frage nach der Freiheit und Verantwortung des Individuums stärkeres Gewicht (vgl. zum späten Gogarten und Thielickes Ethik) und wurde damit deutlich, daß das Erbe des 19. Jh.s nicht abgetan ist. Der Band enthält viele einzeln sehr lesenswerte, teils brillante Porträts, die nicht alle ausdrücklich genannt worden sind, aber es lohnt auch die Mühe, ihn ganz zu lesen.