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Ausgabe:

April/2017

Spalte:

359-361

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gillner, Jens

Titel/Untertitel:

Gericht bei Lukas.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. XIV, 387 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 401. Kart. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-153751-6.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Etwa seit Beginn der 90er Jahre sind die Gerichtstexte des Neuen Testamentes wieder stärker in das Blickfeld der Exegese getreten. Nachdem sie lange Zeit verdrängt oder marginalisiert worden waren, setzte sich nun erneut die Erkenntnis durch, dass Gerichtsaussagen von der Täuferpredigt über den Horizont der Botschaft Jesu und die Paränese der frühchristlichen Gemeinden bis hin zu den Visionen der Offenbarung des Johannes einen festen Bestandteil frühchristlicher Theologie darstellen. Dabei konzentrierte sich das Interesse vor allem auf die Theologie des Paulus sowie die Gerichtsverkündigung Jesu – namentlich in ihrer Gestalt bei dem Evangelisten Matthäus (vgl. C. Böttrich in: V&F 58/2 [2013], 127–142). Den Evangelisten Lukas hingegen, der üblicherweise mit dem weiten Horizont der hellenistischen Bildungswelt in Verbindung gebracht wird, sucht man unter diesen neueren Arbeiten vergebens. Hier füllt die Arbeit von Jens Gillner eine ganz offenkundige Lücke. Auch Lukas hat das Thema des Gerichtes im Blick – und das gerade und pointiert da, wo er das Evangelium auf die Vertreter der griechischen Philosophie stoßen lässt (Apg 17,31). Es lohnt also, dieser Themenlinie zu folgen, was die vorliegende Arbeit – eine Erlanger Dissertation – mit großer Sorgfalt und Umsicht tut. Sie konzentriert sich dabei auf das Evangelium nach Lukas und fügt lediglich die Areopagrede in Apg 17 in Form eines Ausblicks an.
Die forschungsgeschichtliche Einordnung ist (unter »A. Einleitung«) relativ schnell erledigt. In monographischer Breite hat das Thema bislang noch keine Bearbeitung erfahren; die Bezüge zur (rekonstruierten) Gerichtspredigt Jesu oder zu den akzentuierten Passagen bei Matthäus werden später in den einzelnen Exegesen herausgearbeitet. Sehr viel größeren Umfang nimmt dafür die Darstellung des traditionsgeschichtlichen Erbes der lukanischen Rede vom Gericht Gottes (Teil »B. Der traditionelle Hintergrund …«) ein. In einem ersten instruktiven Überblick »Von Jesaja zu Jesus« passieren hier das Alte Testament, das Frühjudentum, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth Revue, basierend vor allem auf der umfangreichen Literatur der letzten 25 Jahre. Ein religionsgeschichtlicher Seitenblick gilt dem »Seelengericht in Griechenland und Rom«. Den Abschluss bilden die »Christlichen Anfänge« vor und bei Paulus sowie in den johanneischen und den übrigen Schriften des Neuen Testaments.
Im Hauptteil »C. Einzelstudien« schlägt das Herz der Arbeit. Hier werden in der Abfolge der lukanischen Erzählung zehn Referenztexte aus dem Evangelium einer gründlichen Analyse unterzogen. Das betrifft: 1. die Gerichtsrede des Täufers (Lk 3,1–18); 2. Jesu Weherufe über galiläische Orte (Lk 10,13–16); 3. das Zeichen des Jona (Lk 11, 16.29–32); 4. Ermutigungen im Kontext von Bekenntnissituationen (Lk 12); 5. zwei Unglücksfälle und das Gleichnis vom Feigenbaum (Lk 13,1–9); 6. das Bildwort von der engen Pforte (Lk 13,22–30); 7. das Gleichnis vom großen Gastmahl (Lk 14,15.16–24); 8. die Beispielerzählung vom Reichen und dem armen Lazarus (Lk 16,19–31); 9. die Worte vom kommenden Gottesreich (Lk 17,20–37); 10. die zweite/große Endzeitrede (Lk 21,5–36). Alle diese Einzelexegesen folgen (mit Modifikationen) dem Schema von: 1. Text – Gliederung – Kontext, 2. Tradition und Redaktion, 3. Deutung, 4. Zusammenfassung und Er­trag. Auch wenn der zweite Punkt mit seinem Rückgriff auf Q notgedrungen spekulativ bleibt, gewinnt doch die Eigenart der lukanischen Theologie in dieser Auslegung ein ausreichend klares Profil. Aus der Fülle der Beobachtungen können hier nur einige wenige Lesefrüchte und Anmerkungen herausgehoben werden.
Die Täuferpredigt zeigt, dass in der Theologie des Lukas die Heilsansage deutlich vor der Gerichtsverkündigung steht (69). Bei den Weherufen über galiläische Orte wäre das lukanische Motiv der »ärgerlichen Vorbilder« stärker herauszustellen. Dass der Feigenbaum bei Lukas ein Symbol für Israel wäre (161), möchte ich bestreiten; er steht für Fruchtbarkeit und Wohlergehen – oder eben für den Verlust derselben, mehr aber nicht. Generell wäre m. E. die Frage eines spezifischen Gerichtes über Israel noch einmal zu prüfen. Im Blick auf die lukanische Theologie hat es hier in den letzten Jahren nicht nur eine intensive Debatte, sondern einen regelrechten Paradigmenwechsel gegeben – weg vom »heilsgeschichtlichen« Deutungsschema hin zur Beziehungsfrage zwischen der christusgläubigen Gemeinde und Israel. Diese neue Perspektive erweist sich dabei jedoch als ausgesprochen ambivalent, weil gegenüber Israel Gericht und Heil gleichermaßen angesagt werden und weil Lukas die Eindeutigkeit seiner späteren Interpreten in dieser Frage eher scheut. In diesem Zusammenhang wäre auch noch einmal zu bedenken, inwiefern der gelegentlich erhobene Antijudaismus-Vorwurf bei Lukas zutreffend ist oder nicht. Gericht über Israel ist jedenfalls ein sehr vielschichtiges Thema, das noch weitere Ober- und Untertöne kennt. Die Frage, ob mit dem Weinbergsarbeiter in Lk 13 Jesus gemeint sein könne (163–164) erübrigt sich, wenn man in dem Text keine Allegorie sieht. Im Blick auf das Logion von der engen Pforte (192) scheint mir vor allem die Frage von Bedeutung zu sein, wie hier der Geschenkcharakter des Heils, den Lukas an anderen Stellen deutlich genug betont, gesichert werden kann. Für ein Gleichnis wie das vom großen Gastmahl (194) bietet die jüngere Gleichnisliteratur noch einige sozialgeschichtliche Beobachtungen, die auch für den Gerichtsgedanken relevant sind. Was den »Schoß Abrahams« in Lk 16,22 betrifft (230), finde ich nach wie vor eine Deutung auf den Ehrenplatz an der Brust des Patriarchen beim eschatologischen Freudenmahl am überzeugendsten. Dass hier keine topographische Beschreibung des Jenseits vorliegt, sondern im Gleichnis alles Interesse auf dem Motiv einer Umkehrung der Verhältnisse ruht (240), kann nur unterstrichen werden.
Teil »D. Ergebnisse« bietet auf zehn Seiten eine kompakte Zu­sam­menfassung – als Antwort auf sechs Fragestellungen. 1. Was ist das Gericht bei Lukas und wann findet es statt? Es ist »ein menschlichem Einfluss entzogenes Geschehen, das er für die Zukunft erwartet«; diese Zukunft steht sowohl im Horizont alter Naherwartung als auch unter dem Vorzeichen einer Streckung der Zeit; der Zeitpunkt steht fest, entzieht sich aber aller Kenntnis; das Gericht wird traditionell und bildhaft als »Tag« beschrieben und hat einen doppelten Ausgang; es spielt im Denken des Lukas eine erkennbare Rolle, ist jedoch nicht sein primäres Thema. 2. Wer richtet? Richter ist der kommende Menschensohn als Beauftragter Gottes, den die Leserschaft des Lukas mit dem Kyrios Jesus Christus zu identifizieren vermag. 3. Wen trifft Gottes Gericht? Es gilt allen – Juden, Christen und »Heiden« gleichermaßen; auffällig ist die starke Tendenz zur Individualisierung. 4. Was rettet im Gericht? Entscheidendes Kriterium ist die »Metanoia«, der das Hören und Sehen vorausgeht und die in konkretem Verhalten sichtbar wird. 5. Was bedeutet das drohende Gericht für die lukanische Jesuserzählung? Der Gerichtshorizont qualifiziert die Gegenwart Jesu als eine geschenkte Zeit, die Gelegenheit zur Umkehr bietet. 6. Welches Ziel verfolgt Lukas mit seiner Rede von einem göttlichen Gericht? Lukas geht es nicht darum, Angst zu schüren, sondern den homo corrigendus zur Umkehr zu motivieren.
Unter »E. Ausblick« wendet sich der Vf. noch einmal der eingangs schon anvisierten Areopagrede zu, weil Lukas hier sein Anliegen deutlicher artikulieren kann als in dem sehr viel stärker traditionsgebundenen Evangelium. Erneut liegt der Fokus auf der Chance zur Umkehr. Damit endet die Arbeit. Das Beispiel von Apg 17 zeigt noch einmal in aller Deutlichkeit, wie Lukas sein Konzept von »Gericht« vor dem Forum der hellenistischen Bildungswelt präsentiert. Ob es sich auch in unserer heutigen Zeit bewährt – etwa im Gegenüber zu der sehr viel drastischeren Gerichtspredigt (und -drohung!) eines Matthäus –, bleibt in diesem Zusammenhang offen.
Die Arbeit füllt eine große Lücke in der jüngeren Aufarbeitung der neutestamentlichen Gerichtstexte. Zum ersten Mal ist hier der Befund des Lukasevangeliums in seinem Zusammenhang aufgearbeitet worden. Nun liegt es an dem geneigten Publikum, diese Untersuchung aufzunehmen und für ein neues Gesamtbild der Gerichtsthematik im Neuen Testament fruchtbar zu machen.