Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2017

Spalte:

302–304

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Stolz, Jörg, Favre, Olivier, Gachet, Caroline, u. Emmanuelle Buchard

Titel/Untertitel:

Phänomen Freikirchen. Analysen eines wettbewerbsstarken Milieus. Aus d. Franz. v. E. Mainberger-Ruh.

Verlag:

Zürich: Pano Verlag 2014. 391 S. = CULTuREL, 5. Kart. EUR 34,80. ISBN 978-3-290-22025-9.

Rezensent:

Ralf Dziewas

Die zu besprechende Aufsatzsammlung enthält die deutsche Übersetzung einer Studie, die in den Jahren 2003–2011 in der französischsprachigen Schweiz durchgeführt und 2013 unter dem Titel »Le phénomène évangélique« erstmals publiziert wurde (357–373). Wie der französische Originaltitel zeigt, haben die Autoren nicht nur die traditionellen Freikirchen, sondern das evangelikale Milieu innerhalb und außerhalb der Großkirchen untersucht (271–297). Da der Begriff »evangelikal« jedoch einen »negativen Beigeschmack« habe, verwendet die Studie in der deutschen Übersetzung stattdessen zumeist den Begriff »evangelisch-freikirchlich« (9). Da der Begriff »Evangelisch-Freikirchlich« in der Bundesrepublik die Konfessionsbezeichnung für die Baptisten- und Brüdergemeinen im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden ist, entsteht, zusammen mit dem ebenfalls problematischen Titel »Phänomen Freikirchen«, bei deutschen Lesern der Eindruck, die Studie untersuche nur freikirchliche Gemeinden. Insofern wäre auch in der Übersetzung die Verwendung des Begriffs »Evangelikale« angezeigt gewesen.
Das Autorenteam geht von der Grundthese aus, dass es evangelikalen Gemeinden gelingt, der allgemeinen Säkularisierung zu trotzen, weil sie ihren Mitgliedern »sämtliche Bedürfnisse (Spiritualität, Beziehungen, Seelenhaushalt, Freizeit, Sinngebung) innerhalb des gleichen Milieus befriedigen« (14 f.). Dabei werde dieses wettbewerbsstarke soziale Milieu durch ein gemeinsames Normengeflecht legitimiert, strukturiert, stabilisiert und reguliert. Wie auch andere Untersuchungen unterscheidet die Studie drei unterschiedliche Strömungen im evangelikalen Bereich:
»Da sind einmal die konservativen Evangelisch-Freikirchlichen, die zur Abschottung von der Gesellschaft neigen und sich durch eine apokalyptische Weltsicht und einen starken Glauben an die Unfehlbarkeit der Bibel auszeichnen. Die charismatischen Evangelisch-Freikirchlichen wiederum legen den Akzent auf die emotionale Erfahrung der Gegenwart des Heiligen Geistes. Die klassischen Evangelisch-Freikirchlichen schliesslich unterscheiden sich von den beiden anderen Submilieus durch ihre größere Offenheit für die Welt und für andere Arten der Bibellektüre.« (16)
Der Band präsentiert zu allen drei Submilieus Ergebnisse quantitativer Erhebungen und qualitativer Interviews, in denen vor allem die Werte, Glaubensüberzeugungen und Praktiken sowie die Wettbewerbsstärke des evangelikalen Milieus in Freikirchen und Großkirchen untersucht wird (19.23).
Die Studie rechnet in der Schweiz mit einem evangelikalen Milieu von ca. 200.000–250.000 Personen, von denen 10,7 % der konservativen, 32,5 % der charismatischen und 56,8 % der klassischen Strömung zuzurechnen seien (36). Dabei ist die Mitgliederentwicklung dieses Milieus vor allem im charismatischen Submilieu steigend und in den anderen Submilieus stabil. Erklärt wird dies durch die Theorie, »dass Milieus, die auf soziale Abschottung und hohe Wettbewerbsstärke setzen [Herv. i. Orig.], in einer Situation starker religiös-säkularer Konkurrenz einen Vorteil besitzen gegenüber Milieus, die für Anpassung optieren« (51). Hier kann das evangelikale Milieu aufgrund seiner Kombination von verschworener Gemeinschaft und konkurrenzfähigen attraktiven Gottesdiensten, Freizeitaktivitäten und Unterstützungsangeboten seine Position in der Gesellschaft behaupten und ausbauen (58 f.).
Das Gesamtergebnis der Studie wird durch mehrere Einzeluntersuchungen gestützt. So zeigt Olivier Favre die Bedeutung von Bekehrungs- und Wiedergeburtserfahrungen (61–78) für die Konversion in das Milieu auf, dessen Frömmigkeitsstil man geradezu als »Bekehrungsprotestantismus« bezeichnen kann (61). Die emotionale Bekehrungserfahrung, die sich überwiegend im jugendlichen Alter oder im jungen Erwachsenenalter ereignet (67), kann, je nach Lebenssituation, als Bruch, Entwicklung, Zustimmung oder Bestätigung erlebt werden (75 f.). Außerdem analysiert Favre das in evangelikalen Kreisen tradierte konservative Familien- und Eheverständnis, das neben vorehelich praktizierter Sexualität eigentlich auch Scheidungen ablehnt, dennoch aber Wiederverheiratungen zulässt (167–188).
Emmanuelle Buchard beschreibt die für den Evangelikalismus wesentliche Vorstellung eines in der Welt aktiv handelnden personalen Gottes (81–84) und den am wortwörtlichen Verständnis der Texte orientierten Umgang mit der Bibel (84–89). Außerdem kann das evangelikale Milieu erfolgreich die Praxis der regelmäßigen Bibellektüre sowie des individuellen und gemeinsamen Gebets (89–101) tradieren. Daneben sieht die Autorin in der gemeinsamen Ablehnung von homosexuellen Beziehungen, vorehelichem Ge­schlechtsverkehr und Abtreibung identitätsstiftende Normen, die es dem Milieu ermöglichen, sich von der Gesellschaft zu unterscheiden (101–107). Außerdem wird in allen drei evangelikalen Submilieus eine regelmäßige Teilnahme am familiären Leben der Gemeinschaft (110–116) hochgehalten, wobei die modern gestalteten Gottesdienste von Spontanität und Beteiligung geprägt sind und je nach Submilieu eher eine starke Emotionalität (charismatisch), einen anbetenden und unterweisenden Stil (konservativ) oder eine diese Elemente verbindende Form (klassisches Submilieu) aufweisen (116–130).
Buchard beschreibt die Freikirchen als »hochgradig normierte Sozialgruppen« (141), in denen vor allem die Einhaltung biblischer Normen durch wechselseitige Sozialkontrolle (143–145) und pastorale Autoritäten (145–156) kontrolliert wird. Dabei ist die Ablehnung von Frauen im pastoralen Amt auf das konservative Submilieu beschränkt (162). Wenn die Autorin in diesem Kontext von einer »ethischen Hypernormativität« (164) oder einem »biblischen Hyperkonformismus« (140) spricht, wird allerdings ausgeblendet, dass auch die persönliche Freiheit und Verantwortung zur Gestaltung des Lebens ein konstitutives Element freikirchlichen Selbstverständnisses ist, die auch zu einem Wandel von Normen und Wertvorstellungen führen kann. Da 93,3 % der untersuchten Paare mit einem ebenfalls bekehrten Partner leben (191), sieht Buchard in der erfolgreichen religiösen Sozialisation und Weitergabe tradierter Normvorstellungen an die nächste Generation einen wesentlichen Faktor der Widerstandsfähigkeit des untersuchten Milieus gegen den gesellschaftlichen Wertewandel (167–214). Dabei setze das Milieu nicht auf Druck, sondern auf die »Verinnerlichung der göttlichen Autorität« (197), auf Motivation, Unterweisung, die Einbindung in die Gemeinschaft und die Filterung externer Einflüsse.
Jörg Stolz untersucht die verschiedenen Formen des Evangelisierens, mit denen das evangelikale Milieu neue Mitglieder gewinnt (215–241), und Caroline Gachet den »interdenominationelle[n] Charakter« (243) dieses Milieus, in dem die Bereitschaft zur konfessionellen Veränderung bei Wohnortwechsel, Eheschließung oder gemeindlichen Veränderungsprozessen relativ hoch ist, wenn man sich dadurch einer Gemeinde anschließen kann, die den eigenen Überzeugungen und Erwartungen besser entspricht (243–269). Nach Gachet gibt es auch in den reformierten Kirchen der Schweiz eine aktive Minderheit mit evangelikalem Frömmigkeitsstil, deren Kirchengemeinden entweder selbst eine evangelikale Frömmigkeit aufweisen, die bewusst ihre Milieuprägung im liberalen kirchlichen Kontext leben oder die neben einem Engagement in der reformierten Kirche zugleich an freikirchlichem Gemeindeleben teilnehmen (271–297). Gachet hat darüber hinaus die Aussagen von 17 Personen analysiert, die das evangelikale Milieu aufgrund individueller Entscheidungen verlassen haben. Dabei wird deutlich, dass vor allem das Gefühl, an­ders zu sein, also der Homogenität des Milieus nicht entsprechen zu können oder zu wollen, zum Bruch mit der früheren religiösen Prägung führte (299–324).
Die Stärke der hier vorgelegten Studie zur Freikirchen- und Evangelikalismusforschung liegt in ihrer Kombination von qualitativer und quantitativer Vorgehensweise. Es wäre wünschenswert, wenn vergleichbare Studien für den konfessionell deutlich anders zu­sammengesetzten Bereich der Freikirchen und der evangelikalen Bewegung in Deutschland durchgeführt würden.