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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

248–251

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Grundtvig, N. F. S.

Titel/Untertitel:

Schriften in Auswahl. Hrsg. v. K. E. Bugge, F. Lundgreen-Nielsen u. Th. Jørgensen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. II, 942 S. Geb. EUR 110,00. ISBN 978-3-525-56002-0.

Rezensent:

Hermann Deuser

In Kreisen der Reformpädagogik durchaus bekannt (Volkshochschulbewegung und Erwachsenenbildung) blieb der Historiker, Mythenforscher, Kirchenliederdichter, Theologe und Politiker Nikolai Frederik Severin Grundtvig im deutschen Sprachraum doch weitgehend unbekannt. Der Göttinger Praktische Theologe Götz Harbsmeier hat 1972 versucht, G.s Theologie und Menschenbild als »Alternativen zu Kierkegaard« in die Diskussion einzuführen, Eberhard Harbsmeier übersetzt 1983 den Werk und Wirkung umfassend repräsentierenden Sammelband »Tradition und Er­neuerung« (hrsg. v. Chr. Thodberg u. A. P. Thyssen), und schließlich erscheint 1991 der von dem Kölner Pädagogen P. Röhrig edierte Kongressband »Um des Menschen willen«, der die »weltweite Be­deutung« des großen Dänen belegen will. Ob alle diese Versuche doch noch von Erfolg gekrönt sein werden, hängt jetzt entscheidend von der ersten groß angelegten Werkausgabe in deutscher Übersetzung ab. Bisher waren nur Einzelschriften, vor allem aber (Kirchen-)Lieder G.s deutsch zugänglich, jetzt liegt die lange erwartete und von einem großen Kreis von (interdisziplinären) Spezia-listen übersetzte Auswahl des Gesamtwerkes vor.
Die drei Herausgeber, K. E. Bugge (Pädagogik), Th. Jørgensen (Theologie) und F. Lundgreen-Nielsen (Nordistik), verantworten gemeinsam mit jeweiligem fachlichen Schwerpunkt (erkennbar auch an der wechselnden Reihenfolge der Hrsg.-Namen) je einen des drei »Bände« umfassenden Buches: I. »Historisch-poetische«, II. »Pädagogische und politische«, III. »Theologische und kirchliche Schriften« (versehentlich ist in der ersten Inhaltsübersicht [3] der Titel von Bd. III nicht korrekt notiert, vgl. dann 629). Zu jedem Band gehören eine knappe und klare bibliographische, biographisch-werkgeschichtliche Einleitung und Anmerkungen zu den einzelnen Texten, etwa der Nachweis von Bibelstellen, die in G.s Stil ebenso extensiv wie implizit genutzt werden. Das alles ist sehr übersichtlich, sinnvoll und hilfreich angelegt (versehentlich sind nur die Kopfzeilen 900 u. 936 ff. nicht korrekt).
G.s Leben (1783–1872) hat die genialischen Züge eines Schriftstellers, der sich ganz auf eigene Rechnung die nordische Mythologie, die Welt der Helden und Sagen erschließt, in einem freien Übertragungsvorgang literarische, politische und theologische Bilderszenen aktualisiert, die quer zum gängigen Wissenschaftsideal in Stellung gebracht werden – das Verfahren erinnert an Richard Wagners Opernwelt; und da ist G., der zugleich als Prediger, Redner und Zeitschriftenautor (und Herausgeber) die freie, kirchen- wie gesellschaftskritische Diskussion meisterhaft beherrscht – was an Ralph Waldo Emerson erinnert. Es ist in letzter Konsequenz G.s Sprachauffassung, die diese Aktivitäten, seine Ursprungs- und Freiheitstheorien zusammenhält und die die selbstbewusste Ab­lehnung des naturwissenschaftlich-objektivistischen Denkens fundiert. Letzteres hat er mit seinem Antipoden Søren Kierkegaard gemein. Doch G. ist bei allem Stolz auf die Muttersprache und die dänische Nationalität ein westeuropäisch, England orientierter Verteidiger der Freiheit und der politisch um 1848 virulenten Freiheitsrechte, nicht zuletzt gegenüber der Staatskirche – das hat gerade im praktisch-politischen Engagement (G. war u. a. Mitglied der verfassunggebenden Reichsversammlung und des Folketings) mit Kierkegaard nichts gemein!
Was dieses Lebenswerk bis heute interessant sein lässt, ist zu­nächst die prägende Persönlichkeit G.s in ihrer für Dänemark nach­wirkenden und nicht wegzudenkenden Bedeutung (ähnlich wie Martin Luther und Paul Gerhardt für Deutschland). Es sind aber darüber hinaus die folgenden drei Motivkreise und die damit verbundenen Sachfragen, die den besonderen Rang von G.s Schriften auszeichnen: 1) Der Umgang mit der Krise des protestantischen Schriftprinzips aufgrund der historisch-kritischen Forschung, 2) die schöpferische, fundamentale (mythologische) Be­deutung der Muttersprache, 3) der Begriff »Volklichkeit« (»folkelighed«) als an­thropologische Basiskategorie.
1) G. hat 1825 den liberalen, dem theologischen Rationalismus nahestehenden Theologieprofessor der Kopenhagener Universität, H. N. Clausen, öffentlich angegriffen und das unter der Überschrift »Gegenrede der Kirche«. Die Universitätstheologie muss als »un­christlich« gebrandmarkt werden, weil sie sich auf kritische und skeptische Verfahren gegenüber der Bibel eingelassen hat, anstatt sich an der christlichen Kirche als »große beispiellose Tatsache« (647) zu orientieren. Mit dieser später expliziten Wendung zu Taufe und Bekenntnis als letzter christlicher Begründungsinstanz – anstelle der Schrift – will dieses Konzept dem Zwang zur historischen Kritik entgehen und greift zurück auf »Tatsachen« wie die 1800 Jahre Christentum; und für diese spricht allein das »Zeugnis« (715), wie es in Taufe und Bekenntnis dauerhaft gegeben ist. Natürlich ist hier einzuwenden, dass alle solche Tatsachen selbst wieder historisch sind. Die Dogmenkritik gilt allen Dokumenten der Vergangenheit, das hat schon Kierkegaard in der Unwissenschaftlichen Nachschrift (1846) festgehalten; doch ebenso gilt, dass G. mit dem Verweis auf das Taufbekenntnis ja nicht die Welt von Schriftstü-cken der Buchgelehrsamkeit (»Bücherwürmer«) meint, sondern das »mündliche Wort«, dem eine dem »Leben« verpflichtete Kirchenlehre/Wissenschaft entsprechen muss. Diesem »Leben« gilt G.s ge­ballte Eloquenz – in der Passion einer rückhaltlos biblischen Hermeneutik der »Erfahrung« dessen, was das gegenwärtige, lebendige »Wort« bedeutet (722). Wenn Kierkegaard hier vom »Abrakadabra des lebendigen Wortes« spricht, so ignoriert das die schöpfungstheologische Verankerung des für G. entscheidenden Fundamentes der »Muttersprache«.
2) Dichtung und Mythologie halten am schönsten fest, dass es eigentlich unüberspringbar zur »Natur des Menschen« gehört (303), in schon vorhandene Sinnstrukturen hineingeboren zu werden. Die »Vereinigung von Geist und Leib« in »Sprache« und »Bild« (289) dichtet das Kirchenlied zu Ps 89,16 f. (Str. 7) so: »Glückselig die Sprache, der Mutter und wir / verliehen Laut, / in welcher am bes-ten tritt Liebe herfür, wenn ’s Gott gern schaut […]« (228/229: »Lyksaligt det mål, som vor moder og vi / gav stemme til, / som kærlighed bedst åbenbares i, / når Gud så vil […].« Die zahlreichen Lieder sind dankenswerterweise zweisprachig ediert. Die Übersetzung ins Deutsche ist generell eine große Leistung; sie ist an Reim und Rhythmus der dänischen Vorlage orientiert, was bisweilen unvermeidlich zu einem sperrigen Satzbau im Deutschen führt.) Wegen ihres Alters und der mündlichen Tradition zählt G. das Dänische zu den besonders ausgezeichneten Sprachen (neben Hebräisch, Griechisch und Latein), von denen allerdings die römische verwissenschaftlichte Schulmeister-Tradition durchweg negativ zu bewerten ist. Maßstab ist die wirkliche Lebendigkeit auch der entsprechenden Wissenschaften (vgl. 269 f.). Hier liegt der Grund für G.s Initiativen zur Einrichtung von Volkshochschulen, die die notwendige Bildungsleistung der Bevölkerung sicherstellen müssten (vgl. die »pädagogischen Texte« in Bd. II), aber nicht zuletzt auch der Grund dafür, die Imago Dei des Menschen in den Sprachbildern der Muttersprache zu erkennen: »Mutters Name ist Himmelsklang, / soweit wie das Meer sich blauet […]« (Str. 1 des Liedes »Muttersprache«, 518). G.s Programmbegriff »Zuerst der Mensch« (»Menneske først«) ist deshalb missverstanden, wenn damit (von einer allgemeinen Anthropologie ausgehend) theologisch etwas bewiesen werden sollte. Denn zugrunde liegt bereits das sprach- und kulturgebundene Gottesverhältnis, das Muttersprachen-Argument verlangt das »Zuerst der Mensch«: »Erst einmal Mensch und dann ein Christ, / nur so sind’s Lebens Stufen […]« (793, Str. 1). Die dogmatische Frage (im Anschluss an Irenäus), ob und wie weitgehend das »Ebenbild Gottes« durch die Sünde zerstört worden ist, beantwortet sich dann so, dass der Struktur nach die Sprach- und Antwortfähigkeit des Menschen schöpfungstheologisch gesehen natürlich durchgängig vorausgesetzt werden muss. Das ist der theologische Rang von Muttersprache und »Zuerst der Mensch«, und inzwischen ist gezeigt worden, dass G. und Kierkegaard gerade in diesem Verständnis von »Wiedergeburt in Christus« sich näher stehen als bislang gedacht (vgl. N. J. Cappelørn: Gottebenbildlichkeit und Sündenfall, in: Theologie zwischen Pragmatismus und Existenzdenken, hrsg. v. G. Linde, Marburg 2006, 429–467).
3) Mit dem Muttersprachen-Argument ist auch G.s nationales Selbstbewusstsein und der Bezug zur nordischen Mythologie verbunden. Das alles summiert sich in dem ganz und gar dänischen Begriff der »Folkelighed«: Das Bedeutungsspektrum reicht von grobem Nationalgefühl über alle Formen von Volksnähe bis zum religiös konnotierten Gefühl der Heimat in Familie, Kirche und Gesellschaft. Die Übersetzung ins Deutsche ist eigentlich unmöglich, »völkisch« und »volkstümlich« kommen nicht in Frage, also bleibt entweder der Wechsel kontextbedingt verschiedener Übersetzungen oder die direkt wörtliche (»Volklichkeit«), die im Deutschen ungewöhnlich bleibt. Die Edition entscheidet sich konsequent für den zweiten Weg, d. h. das dem Dänentum so nahe Wort wirkt wie ein Fremdwort im Deutschen. Gerade das ist kirchlich, politisch und wissenschaftlich bezeichnend für den relevanten Unterschied zwischen Nachbarländern mit so viel gemeinsamer Geschichte: » Volklich soll nun sein das Ganze / rings im Land von Kopf bis Fuß; / etwas Neues ist im Werke, /selbst ein Tor es sehen muss […]« (567, 1. Str.).