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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

242–244

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Aschenbrenner, Cord

Titel/Untertitel:

Das evangelische Pfarrhaus. 300 Jahre Glaube, Geist und Macht: Eine Familiengeschichte.

Verlag:

München: Siedler Verlag (Random House) 2015. 368 S. m. Abb. Geb. EUR 24,99. ISBN 978-3-8275-0013-7.

Rezensent:

Christopher Spehr

In den vergangenen Jahren fand das evangelische Pfarrhaus verstärkt wissenschaftliche, literarische und museale Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt durch die Ausstellung »Leben nach Luther. Eine Kulturgeschichte des Pfarrhauses«, die vom 25. Oktober 2013 bis zum 2. März 2014 im Deutschen Historischen Museum in Berlin gezeigt wurde und seitdem als Wanderausstellung an verschiedenen Orten zu sehen war, rückte die Pfarrhausthematik in den Vordergrund. Neben Fachbeiträgen, welche von der Genese des evangelischen Pfarrhauses bis hin zu gegenwärtigen Herausforderungen des Pfarrberufes und dessen Lebensumfeld handeln (vgl. ThLZ 140 [2015], 950 f.; 141 [2016], 507–509), erschienen Erzählungen und Berichte rund um diesen kulturträchtigen Lebensort.
In letztere Gattung reiht sich das von Cord Aschenbrenner vorgelegte und mit dem Georg Dehio-Ehrenpreis 2016 des Deutschen Kulturforums östliches Europa ausgezeichnete Buch zum evangelischen – genauer lutherischen – Pfarrhaus ein. Ursprünglich als Artikel in der Süddeutschen Zeitung erschienen, baute der Hamburger Journalist und Historiker, selbst Enkel und Großneffe evangelischer Pfarrer, seinen Beitrag zu einer umfänglichen Geschichte über eine lutherische Pfarrerdynastie aus. Herausgekommen ist eine faszinierende Abhandlung über das wechselvolle Leben der Familie Hoerschelmann, die seit fast 300 Jahren kontinuierlich – mittlerweile in der neunten Generation – Pastoren hervorbringt und somit zur Selbstrekrutierung dieser Berufsgruppe beiträgt. Die 27 Kapitel umfassende Erzählung, die den Untertitel »300 Jahre Glaube, Geist und Macht« trägt, basiert auf umfänglichen Erinnerungen der Hoerschelmanns, welche als unveröffentlichte Manuskripte A. aus dem Familienbesitz zur Verfügung gestellt wurden, sowie auf persönlichen Interviews und weiterem historischen Ma­terial. Ergänzt werden diese Familienerzählungen durch ein breites Spektrum von Fach- und Unterhaltungsliteratur, die als allgemein-, sozial- und kirchengeschichtliche Hintergrundinformationen in die Erzählungen eingespielt werden. Von ihrer Vielfalt zeugt das angehängte Quellen- und Literaturverzeichnis (355–360), das um die bis Ende 2014 erschienene Fachliteratur hätte ergänzt werden dürfen.
Wie verschiedene Pfarrhausbücher will auch A. der Wirkungs- bzw. Auswirkungsgeschichte des Pfarrberufes auf den Amtsträger und dessen Familie nachgehen, indem er die gesellschaftliche Position des ›offenen Hauses‹ – vornehmlich des Pfarrhauses auf dem Land – nachzeichnet und die sich um das Pfarrhaus rankenden Mythen problematisiert. Angetrieben wird A., der seinen Blick von »historische[r] Neugier« geprägt charakterisiert, da­bei von der Frage: »Wie sah das Leben einer Familie aus, die vorbildlich im Lebenswandel zu sein hatte und die zusammen mit allen anderen ihres Schlages lange Zeit tatsächlich auch als Vorbild der bürgerlichen Familie schlechthin galt?« (24) Hierbei erweist sich der familiengeschichtliche Ansatz als eigener Mehrwert, zu­mal historische Ereignisse mit dem Erleben der Hoerschelmanns informativ, unterhaltsam und zum Teil überaus spannend verquickt werden. Dass diese deutsche Pfarrerdynastie, die einst von Thüringen nach Estland auswanderte und nach dem Zweiten Weltkrieg nach Norddeutschland flüchtete, keineswegs typisch für die vielen territorial beständigen Pfarrfamilien ist, macht den Reiz ge­rade dieses Werkes aus. Gleichwohl ist das Milieu des deutschbaltischen Pfarr hauses, welches nicht zuletzt durch die häufig strengen Erziehungsmethoden des Pfarrherrn geprägt war (63–74), mit evangelischen Pfarrhäusern deutscher Territorien vergleichbar.
Der erste Pfarrer der Familie, Johann Heinrich Hoerschelmann (1704–1774), stammte aus Eisenach, studierte in Jena Theologie und bekleidete seine erste Pfarrstelle in Winkel bei Allstedt. Weil die bei ihm lebende Schwester sich 1742 einen nicht näher ausgeführten Fehltritt leistete, griff der Landesherr, Herzog Ernst August I. von Sachsen-Weimar, ein und entfernte den Bruder unverzüglich seines Amtes. Der arbeitslose Geistliche wandte sich in einem in Französisch abgefassten Bittgesuch an den Herzog, der ihn vor einer Audienz in ein Zimmer sperren ließ, damit jener ein Gedicht auf Französisch verfasste. Zur Überraschung des Herzogs konnte der Landpfarrer tatsächlich Französisch, was ihm den Aufstieg in die Superintendentur in Großrudestedt bei Erfurt eintrug. Wie aus A.s Buch zu erfahren ist, waren es diese und ähnliche Abhängigkeiten von den politischen Eliten, mit denen sich die Pfarrer immer wieder arrangieren mussten. Johann Heinrichs Söhne Ernst August Wilhelm (1743–1795) und Johann Heinrich (1749–1798) studierten ebenfalls in Jena Theologie, wanderten dann aber nach Estland aus, wo junge Akademiker gesucht wurden. Während der in Philosophie promovierte Ernst August Wilhelm in Reval (Tallin) am kaiserlich-akademischen Gymnasium Professor für Weltweisheit und Geschichte wurde und schon bald zur Revaler Stadtelite zählte, übernahm Johann Heinrich als Pastor die Gemeinde im livländischen Fennern. Jener Revaler Professor, der als Aufklärer und Neologe (die Charakterisierung von A. als »gemäßigter Rationalist« [44] greift zu kurz) zur Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts in der Provinz Estland beitrug, wurde zum Stammvater der umfangreichen baltischen Pastorendynastie.
Das Schicksal dieser Minderheit, die als deutsche Pastoren zum Stand der »Literaten« – der baltischen Bildungselite – zählten, wird sodann mitsamt den Spannungen zu den einheimischen Esten auf der einen und den deutschen Gutsherren auf der andern Seite anekdotisch und lebendig nachgezeichnet. Hierbei gelingt es A. trotz der bisweilen verwirrenden Namens- und Ortsvielfalt (Landkarten und eine Stammtafel im Buchinnendeckel erleichtern die Orientierung), die Pfarrfamilien im Horizont sowohl der politischen als auch der theologie- und kirchengeschichtlichen Veränderungen vom 18. bis ins 20. Jh. darzustellen. Dass sich bei diesen zahlreichen Miniaturen einzelne Ungenauigkeiten und Fehler einschleichen (z. B.: zwei Söhne von Ernst August Wilhelm Hoerschelmann studierten von 1790 bis 1793 Theologie in Jena, deren Theologische Fakultät sich gerade nicht mehr »dem orthodoxen Luthertum verpflichtet fühlte« [78], sondern der Neologie; auch Halle galt in den 1790er Jahre kaum noch als »Hort des Pietismus« [102]; Wuppertal-Barmen liegt im Rheinland und nicht in Westfalen [253]), tut der Qualität dieser Kirchen- und Sozialgeschichte in nuce keinen Abbruch.
Über das Biotop Pfarrhaus hinaus lernt der Leser Wegmarken der wechselvollen estnischen Geschichte mit ihren Konflikten kennen. Dramatisch und einfühlsam werden schließlich die Umsiedlungsaktion der Deutschen aus dem Baltikum in den Warthegau, der Zweite Weltkrieg sowie die Flucht der Pfarrfrau Eva Hoerschelmann geborene Thomson (1906–1997) mit ihren fünf Kindern und das Überleben des Ehemanns Gotthard Hoerschelmann (1903–1976) in zehnjähriger russischer Gefangenschaft geschildert. Ge­streift werden am Ende des Buches immerhin die seit den 1960er Jahren beginnenden funktionalen und sozialen Veränderungen des Pfarramtes, die als Abschied vom traditionellen (Land-)Pfarrhaus gewertet werden. Wer sich aus nostalgischen Gründen mit dem Phänomen Pfarrhaus befasst, als Pfarrerskind Erinnerungen an den einstigen Lebensort verlebendigen möchte oder einfach nur eine vergnüglich-lehrreiche Urlaubslektüre sucht, dem sei dieses Buch zur Lektüre empfohlen.