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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

226–228

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Leppin, Volker

Titel/Untertitel:

Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln.

Verlag:

München: C. H. Beck Verlag 2016. 247 S. m. 13 Abb. Geb. EUR 21,95. ISBN 978-3-406-69081-5.

Rezensent:

Martin Brecht

Das Buch von Volker Leppin wird unter den Publikationen zum Reformationsjubiläum eine kantige Eckposition zuerkannt be­kommen, leitet es doch Luther vor allem von einer Wurzel, der spätmittelalterlichen Mystik, ab und stellt damit einen durch ihn bewirkten Epochenumbruch in Abrede. Der Vorwurf, Luthers mittelalterliche Prägung sei bisher verkannt worden, wird fast zu häufig wiederholt, schließlich war man in dieser Hinsicht auch bisher nicht einfach blind. Somit dürfte allerdings auch die Kritik auf den Plan gerufen sein. Der Vf. selbst präsentiert sich als Mediävist. Seine Behauptung in der Einleitung, Luther sei uns Heutigen fremd, dürfte einmal mehr auch Ablehnung und Widerspruch provozieren. Sie wird zum Glück schließlich auch nicht ganz durchgehalten. Von der derzeitigen Forschung insgesamt her kann man kaum anders, als der Konzeption des Buches Einseitigkeit vorzuwerfen. Wie kommt sie mit dem Bibelhumanismus und seiner exegetischen Ausrichtung oder mit der Nominalismuskritik oder mit dem sprachgewaltigen Schriftsteller, ja Dichter, überein? Eine gewisse Skepsis lässt sich so von vornherein kaum unterdrücken. Gespannt erwartet man darum, wie die neue Meistererzählung durchgeführt wird.
Die spezifische Ausrichtung von Luthers »spätmittelalterlicher« Frömmigkeit wird festgemacht an seiner Beziehung zu dem Ordensoberen Staupitz und an der Lektüre Taulers sowie etwas später der Theologia deutsch. Luther gilt mit seinen Auffassungen von Christus, Buße und Rechtfertigung als völlig integriert in den Staupitzkreis. Dort soll (mit B. Hamm) eine besondere »Frömmigkeitstheologie« bestimmend gewesen sein. Dieser Begriff ist m. E. jedoch problematisch, weil eigentlich jede Theologie ihre Frömmigkeit bei sich hat. Zutreffend ist jedoch, dass mit dieser speziellen Theologie eine besondere persönliche Betroffenheit verbunden war und kommuniziert wurde. Der Streit gegen die Scholastik und die alternative Berufung auf die Kirchenväter (dabei ist aber neben Augustin auch Hieronymus zu nennen!) erfolgte zwar in Verbindung mit den Humanisten, habe dabei aber den mittelalterlichen Rahmen nicht gesprengt. Auch die Ablassthesen werden trotz ihrer Geschliffenheit als Produkt der mystischen Bußgesinnung und mithin als keinesfalls epochal verstanden. Angeschlagen worden sollen sie auch nicht sein. Gegen beide Annahmen bestehen gewichtige Einwände in der Forschung, schließlich war der Ablass ein kirchenstützendes Element; jedoch unvereinbar mit der konsequenten Rechtfertigungslehre. Thesen verlangten überdies vorweg, angeschlagen zu werden, und so geschah es nach begründeter Ansicht gemeinhin auch. Auf den konstatierbaren Wechsel in Luthers Befindlichkeit im Herbst 1517 mit einer neuen Erfahrung von Freiheit wird merkwürdigerweise nicht eingegangen, eine kaum zu verstehende Übergehung.
Der an sich begrenzte Ablassstreit führte aufgrund der Reaktion Roms zum prinzipiellen Konflikt mit dem Papst. Man hätte erwarten können, dass an dieser Stelle der Epochenbruch konstatiert wird, denn ob man sich immer noch im Mittelalter befindet, kann bezweifelt werden. Aber der Vf. ist mit der Reichweite seiner Auffassung noch nicht am Ende:
Die Thesen der Heidelberger Disputation wandten sich mit der Kreuzestheologie und der Hinwendung von Aristoteles zu Plato zwar von der Scholastik ab, erörtert wurde davon jedoch kaum etwas, aber Luther gewann wichtige Anhänger, die allerdings eher vom Humanismus als von der Mystik geprägt waren. Die Lösung von der kirchlichen Autorität zeichnete sich im Augsburger Verhör durch Cajetan ab. In der Leipziger Disputation 1519 gerät Luther mit seiner Infragestellung der kirchlichen Autoritäten unter Druck durch Eck, aber die öffentliche Meinung fällt ihm schließlich zu. Die Heilige Schrift wird für Luther zur bestimmenden Autorität. Die Diastase steigerte sich mit der Bannandrohungsbulle und deren Verbrennung durch Luther zur Konfrontation von Ketzer und Antichrist. Dass dabei auf die Bedachtsamkeit Melanchthons abgehoben wird, wäre zutreffender unterblieben. Knapp und etwas überraschend wird im Folgenden Zwinglis Ablehnung einer kirchlichen Fastenvorschrift im Namen der Freiheit berührt. Vielleicht hätte man ihn angemessener zunächst als einen der Schüler des Exegeten Luther präsentiert. Vom Reichstag in Worms wird vor allem festgehalten, dass Luther als christusgleicher Märtyrer gesehen wurde. Auf die Normierung des weiteren Geschehens durch das Wormser Edikt wird nicht eigens eingegangen.
Beim Fortgang der Reformation werden »Transformationen der Mystik« festgestellt. Die Konzentration auf Christus sei übergegangen in die Beziehung zu seinem Wort und damit zum Schriftprinzip. So wird die Exegese in einer Linie mit der Mystik gebracht. Schon 1519 erfolgt die Einpassung der Sakramente (lediglich noch Buße, Taufe und Abendmahl) in die Rechtfertigungslehre. Ein Jahr später propagierte Luther in einer seiner großen Schriften die »Befreiung« von Taufe und Abendmahl. Die Kategorie Verheißung aus der Worttheologie (!) stand nunmehr im Zentrum. Die Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen wird, wenn auch mit eingeräumter Anstrengung, als die reformatorische Transformation des von Staupitz angenommenen Verhältnisses der Seele mit Christus ausgegeben. Diese Linienführung kann man akzeptieren, wenn sie nicht zu dick gezogen wird. Der Vf. vermag seine Herleitung der Reformation dann sogar bis in den Bereich der Politik durchzuführen. In der Schrift An den Adel wird vor allem die Obrigkeit mit dem allgemeinen Priestertum in Anspruch genommen. Auf die kriegerische Aktion Franz von Sickingens konnte sich Luther freilich nicht einlassen, vielmehr gelangte er zu seiner Unterscheidung der beiden Reiche. Neben der (Nürnberger) Stadtreformation wird noch einmal auf die Entwicklung in Zürich eingegangen. Die aufbrechende Differenz hinsichtlich Abendmahl und Bildern wäre wohl besser vom Humanismus herzuleiten. Auf das (soziale) Verständnis der Freiheit bei den Bauern wollte sich Luther nicht einlassen. Die Durchführung der Reformation mittels der Visitation schob er schließlich den Fürsten zu. Die Ansätze zu einer Gemeindereformation werden dabei übergangen. Die lutherischen Kirchenordnungen, Postillen und Katechismen sowie die Lieder, die gerade bei diesem Gesamtthema nicht hätten übergangen werden dürfen, prägten das kirchliche Leben. Die Großtat der Bibelübersetzung bleibt außer Betracht.
Die neue Qualifizierung des christlichen Lebens als Transformation der monastischen Existenz überzeugt schwerlich. Stärker als bei Luther soll das mystische Erbe bei Karlstadt und Müntzer, hier noch erweitert durch die chiliastische Ausrichtung, fortgewirkt haben. Auf das Problem der Glaubenstaufe bei den Täufern hätte man wohl differenzierter eingehen müssen. Die Gottsuche in der Innerlichkeit tat Luther als Schwärmerei ab. Bei Luther hielt sich ein Rest von Mystik vor allem in der Sakramentsfrömmigkeit. Später suchte A. Osiander erfolglos, die Realität des Christus in uns festzuhalten.
Ein Epilog konstatiert die völlige Distanzierung des Liberalismus und seiner Nachfahren von der Mystik. Deren heimliche Fortwirkung habe aber fortbestanden im Pietismus und schon bei dessen Vorläufern, sodann bei Schleiermacher, wie in großen Strichen ausgeführt wird. Zur Verflüssigung der Folgen der Kirchenspaltung wird die Rückwendung zu den Wurzeln von Luthers Frömmigkeit empfohlen.
Das Buch wird durch Abbildungen aufgelockert. Die kurz ge­haltenen Anmerkungen sind in den Anhang verwiesen. Auf dem Cover wird dem Buch eine wunderbar klare Schreibe bescheinigt. Jedenfalls darf man für eine verständliche Darstellung dankbar sein. Wie bereits erwähnt, fallen gewisse Lücken, was Quellen und literarische Ergebnisse anbetrifft, auf und lassen eine rasche Abfassung vermuten. So wäre auch noch das Betbüchlein mitzubedenken gewesen oder die schließlich das alte Dogma sprengende Christologie. Dass sich Luther aus diversen Wurzeln entwickelt hat, wird selbst in der monotonen Darstellung nicht verschwiegen. Deren Anliegen mitzuberücksichtigen, empfiehlt sich gleichwohl.