Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

148–150

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Völker, Steffi

Titel/Untertitel:

Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt und Thüringen. Eine empirische Studie. M. e. Vorwort v. Th. Heller u. M. Wermke.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 291 S. = Studien zur religiösen Bildung, 8. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-04089-6.

Rezensent:

Andreas Obermann

An erster Stelle und zuvorderst ist hervorzuheben, dass es uneingeschränkt lobenswert ist, eine Studie zum Berufsschulreligionsunterricht (= BRU) zu verfassen. Noch immer steht der BRU zu Un?recht am Rand der religionspädagogischen Diskussion insgesamt. Die vorliegende Studie gibt allen Interessierten detaillierte Auskünfte über den BRU, denn sie will ein »umfassendes Bild des BRU in Sachsen-Anhalt und Thüringen« (17) zeichnen, indem die Ergebnisse aus drei Teilstudien vorgestellt werden: einer mündlichen Lehrerbefragung, einer schriftlichen Schülerbefragung sowie einer mündlichen Schülerbefragung. Die Studie von Steffi Völker be?nennt zudem die wesentlichen Fragen, die den BRU in Deutschland beschäftigen. Eine ausführliche Zusammenfassung bündelt unter thematischen Gesichtspunkten die Ergebnisse der drei Teilstudien. Ein ausführlicher Anhang dokumentiert die Gesprächsleitfäden für die mündlichen Interviews, den Fragebogen für die Schüler und Schülerinnen sowie die Porträts der 25 Schüler und Schülerinnen, mit denen vertiefende Gespräche geführt wurden.
Schon die Rahmenbedingungen der mündlichen Lehrerbefragung erweisen den BRU als Mangelfach in Sachsen-Anhalt und Thüringen bzw. auf dem Gebiet der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands (EKM): Von den insgesamt 52 in der EKM bekann-ten BRU-Lehrkräften unterrichteten zum Befragungszeitraum 37 BRU, weshalb sich auch die qualitative Methode des Interviews als geeignetes Instrument der Datenerhebung anbot. Insgesamt wurden 22 Interviews geführt, von denen 18 Lehrkräfte aktuell BRU unterrichteten, vier verfügten über zurückliegende Erfahrungen als BRU-Lehrkräfte (20).
Entsprechend der Anlage des Buches möchte ich die Ergebnisse am Beispiel des Berufsbezugs kritisch darstellen: Der Berufsbezug als der Zusammenhang vom zu erlernenden Beruf zur Religion ist nicht nur ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal des BRU zum »normalen« Religionsunterricht, sondern auch sein besonderes didaktisches Potential. Dabei ist festzuhalten, dass dieser Bezug in vielen Berufen materialiter nicht vorliegt und nur mit Innenansichten der Berufswelt kategorial zu erschließen ist. Interessanterweise betonen die 19 Äußerungen zum Berufsbezug, dass es schwer sei, den Berufsbezug im Unterricht umzusetzen (vgl. 58 ff.). Bei der quantitativen Schülerbefragung (N = 809) zeigten diejenigen, die einen beruflichen Abschluss anstrebten, ein höheres Interesse an Themen zu Arbeit und Beruf als Schüler mit dem Abschluss der Hochschulreife (vgl. z. B. 113; vgl. auch Frage 24 und 136 ff.), wie V. zu?vor dezidiert herausgearbeitet hat (vgl. 108 ff.). Dieser Befund wird auch durch die Schülerinterviews bestätigt (vgl. 180–185), so?fern vor allem Auszubildende aus dem kaufmännischen Bereich angaben, im BRU berufsrelevante Themen zu besprechen, wobei V. (181 u. ö.) auch eine in der Forschung gemachte Unterscheidung von konkreten (dort so genannten »materialen«) und allgemeinen (sogenannten »kategorialen«) Berufsbezügen macht. Zusammenfassend hat V. eine für die Forschung interessante und weiterführende Spannung herausgearbeitet: Dem Wunsch der Schüler nach Berufsbezügen im BRU steht eine Wirklichkeit gegenüber, in der sie Berufsbezüge kaum wahrnehmen und die Lehrkräfte zugleich betonen, dass ihnen die didaktische Umsetzung von Bezügen des Berufs zur Religion schwerfalle. In ihrer Zusammenfassung kommt V. zu wegweisenden Folgerungen für den BRU: Sofern im BRU »lebensrelevante und lebensnahe Themen behandelt werden, liegt es nahe, im BRU die Perspektive um einen allgemeinen Berufsbezug zu erweitern, ohne einen konkreten Berufsbezug anstreben zu« müssen, da dieser wie gesagt gar nicht immer vorkommt.
Und weiter führt V. aus: »Das Leben ist Privat- und Berufsleben und in jedem dieser Zusammenhänge ist der Umgang mit anderen und mit sich selbst bedeutend« (s. je 223). Hieraus erwächst die nicht nur für die EKM feststellbare Aufgabe einer genaueren Auseinandersetzung mit der wechselseitigen Erschließung von Religion und Beruf als didaktischem Bewährungsfeld für den BRU. Und dank der Studie V.s können wir aufgrund eines empirischen Befundes postulieren: Ein Berufsbezug muss bzw. sollte, um das Interesse der Schüler zu gewinnen, entweder konkret berufsbezogen sein oder die Bedeutung von Religion für die Persönlichkeit der Schüler dezidiert in den Fokus nehmen. Schön lässt sich so am Beispiel des Berufsbezugs zeigen, wie es V. nicht nur gelingt, ein umfassendes Bild vom BRU abzubilden, sondern auch auf Desiderate und deren Lösungsperspektiven hinzuweisen.
Für das konzeptionelle Profil der Studie wäre nach der Auffassung V.s eine noch stärkere Einbeziehung des Berufsbezugs im Blick auf eine noch differenziertere Erfassung der Einstellungen der Schüler und Schülerinnen von Vorteil gewesen: So sind beispielsweise die drei Szenarien der quantitativen Schülerbefragung, die je eine Berufsnähe herstellen sollten, als konkrete (»materiale«) Berufsbezüge zum einen so spezifisch auf ein Berufsfeld zugeschnitten und zum anderen so stark religiös handlungsorientiert fokussiert, dass viele Schüler den Berufsbezug nicht für sich übernehmen konnten und teilweise wohl auch von den religiösen Voraussetzungen überfordert waren. Deutlich wird dies besonders im ersten Szenario, in dem sie beantworten sollten, ob sie als Krankenschwester oder Pfleger in einem Altenheim der nachdrücklichen Bitte einer Bewohnerin nachkommen würden, mit ihr das Vaterunser zu beten (vgl. 152). Die Unsicherheit der Schüler bei dieser Frage lässt sich m. E. deutlich daran erkennen, dass von den 809 Befragten 297 diese Frage unbeantwortet lassen, weil die Anforderungssituation m. E. nicht die Kompetenz der Problemwahrnehmung und des reflektierten Unterscheidens und Entscheidens fordert, sondern eine persönliche Stellungnahme zur eigenen Gebetspraxis.
Um nicht missverstanden zu werden: Angehende Pfleger – in der Studie 22,1 % der Befragten (99) – bedürfen der Reflexion und Auseinandersetzung, dass sie im Berufsalltag auch religiös existentiell gefordert sein werden und von ihnen mitunter auch religiöses Handeln erwartet wird. Für diese Berufsgruppen ist der BRU der Ort der professionsorientierten Reflexion ihrer religiösen Einstellungen sowie Handlungsfähigkeiten und gegebenenfalls einer biographie- und religionssensiblen Einübung religiöser Handlungen für den Beruf. Grundlegend geht es im BRU um religiöse Bildung, das heißt um die Wahrnehmung und Beurteilung religiöser Phänomene im Zusammenhang mit dem beruflichen Handeln bzw. mit der eigenen Person, um gegebenenfalls die so erschlossenen Wahrheiten produktiv für das eigene berufliche Handeln zu nutzen. In dieser Linie hätte ein Szenario mit einem allgemeinen (»kategorialen«) Berufsbezug für alle Teilnehmenden kognitiv aktivierender wirken und ein breiteres Ergebnis erzielen können.
Insgesamt ist die Studie eine äußerst gelungene Darstellung des BRU mit seinen spezifischen strukturellen und didaktischen Rahmenbedingungen, seinen religionspädagogischen Herausforderungen sowie vor allem seinen meist noch unentdeckten religionsdidaktischen und kirchlichen – nämlich dem BRU als Lernort für die Kirche, wie sich eine religiöse Kommunikation in der Arbeitswelt ereignet – Potentialen. Als Ergebnis einer von der Kirche (hier EKM) selbst in Auftrag gegebenen Studie ist diesem Buch nur zu wünschen, dass es in den zuständigen Schulabteilungen der Landeskirchen dahingehend rezipiert wird, den BRU als kirchliches Arbeitsfeld im säkularen Raum detaillierter als bislang wahrzunehmen, sein Anliegen stärker in die eigenen Überlegungen einzubeziehen, vor allem den BRU als einen wesentlichen Ort von Kirche in der Arbeitswelt zu unterstützen und zu fördern.