Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

121–123

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Hollweg, Arnd

Titel/Untertitel:

Lebensgrund in Gott. Erkennen im Glauben und Erkennen in den Wissenschaften in ihrem Verhältnis zueinander. In Zusammenarbeit m. A. Hollweg.

Verlag:

Berlin: Frank & Timme 2015. 736 S. = Theologie/Religionswissenschaft, 16. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-7329-0153-1.

Rezensent:

Manfred Richter

Dieser umfängliche Band, den Astrid Hollweg nach dem Tod des Ehemanns zur Drucklegung fertigstellte, ging aus ihrer langjährigen Zusammenarbeit hervor, wobei der erste Teil »Wissenschaftsgeschichte im Dialog« (25–222) Gespräche in einem interdiszi-plinären Gesprächskreis wiedergibt. Hier werden, wie eingangs vermerkt wird, beispielhaft die Positionen von drei Denkern (aus?gewählt aus dreizehn), die die Moderne wesentlich mit prägten, multiperspektivisch erörtert: Descartes, Pascal, Kant. Im noch umfangreicheren zweiten Teil wird die Frage nach dem »Erkennen im Glauben und in den Wissenschaften« (223–736) gestellt in Bezug auf gegenwärtiges Denken. Sie wird ausgeführt zunächst in Bezug auf Theologie allgemein (Kapitel 1: »Gegenwart Gottes durch seinen Geist in Jesus Christus im menschlichen Leben«, 225–368), sodann auf Schöpfungslehre und Naturwissenschaften, an denen ein besonderes Interesse dieses Buches besteht (Kapitel 2: »Welt und Mensch als Schöpfung Gottes und als Gegenstand von Wissenschaft und Technik«, 373–584) und schließlich in Bezug auf zeitgenössische ethische Herausforderungen (Kapitel 3: »Pneumatisch-anthropologische Orientierungen im globalen Zeitalter«, 585–713). Den Abschluss bildet die Bibliographie (715–732). Das detaillierte Inhaltsverzeichnis mag Register verzichtbar erscheinen lassen.
Die Leitfrage der Untersuchungen ist die nach der Beziehung der Denksysteme zur menschlichen Lebenswelt, eine Fragestellung, die das gesamte Werk durchzieht und gleichermaßen die bis heute nachwirkenden historischen philosophischen Denksysteme betrifft wie die modernen naturwissenschaftlichen, welche sich allesamt von der Erfahrung in der menschlichen Lebenswelt »ab?spalten« – der Grundvorwurf, der wiederkehrt. Hierbei sind die »mentalen« Denkformen metaphysischer (sie werden auch bei Kant gesehen) wie naturwissenschaftlicher Art (obgleich sie sich keineswegs als alternative Metaphysik verstehen, und ausdrücklich wird etwa der Wiener »logische Positivismus« oder Karl Popper analysiert) in gleicher Weise unfähig zu menschlicher Orientierung, gar für den Glauben. Es wird diesen insgesamt die »Abspaltung« von der empirisch-sozialen Erfahrungswelt vorgeworfen. Nicht über raschen darf, dass dies in gleicher Weise für die theologischen Denksysteme gilt, die sich in der von Metaphysik abhängigen Sprache der Dogmatik ausgedrückt haben. Sie sind dem Glaubenden wertlos, da auch sie ihn vom »Lebensgrund« wegführen.
Dieser Begriff, der dem Buch seinen Titel gibt, wird in dem Abschnitt II Kapitel 2 erörtert, wo er die in den Naturwissenschaften seiner Meinung und entsprechend beispielhaften Analysen zur Quantenphysik (Niels Bohr, Werner Heisenberg mit der Deutung der Kopenhagener Schule) und einer genetischen Theorie wie bei dem Physiker Schrödinger »unterschlagene« Frage stellt »Was ist Leben?«, die diese Theorien auch nicht beantworten können. »Das Apriori unseres Denkens und Erkennens liegt nicht in unserem Gehirn oder in unseren Augen, sondern in der geschichtlich-sozialen interpersonalen Lebensempirie, die alle Menschen auf Erden teilen«, woraus weder die (»symbiotisch-dichotomischen« oder sonst identitätsphilosophischen) Konstruktionen eines »abgespaltenen« »mentalen Ich« noch die Flucht in die Mystik einen Ausweg leisten können. Und nur in dieser empirisch-sozial konkreten Situation »stellt sich für den christlichen Glauben auch die Frage nach der Beziehung zum lebendigen Gott der Menschen« (485 f.). Die Antwort kann nur sein: »Der Grund in unserem Leben ist Gott selbst in seiner pneumatischen Beziehung zu uns und in unserer inneren Bindung an ihn« – mit Ps. 8 »Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?« Er kann nur dort gesucht werden, bleiben wir doch »in allem in unserem geschichtlich-sozialen Lebenskontext in der Welt, die uns der Relativität unseres Urteilens bewusst macht« (491) – worauf auch Descartes mit seinem vom Leib »isolierten Ich« keine Antwort geben konnte, so sehr seine drei Träume von seiner eigenen Lebenswelt ausgingen (27–70). Wie aber kommt »Gott selbst in seiner pneumatischen Beziehung zu uns« in diese Wirklichkeit hinein und so zu mir? »Wer ist Gott? Das kann ich weder denken noch erkennen noch in meinen menschlichen Worten an?gemessen aussagen. Ich erfahre ihn als den, der mich annimmt, wie ich bin« (492). Die Antwort ist die Erfahrung des Glaubens, die mir geschenkt ist. Welchen theologischen Ansatz verfolgen die Autoren?
In der Auseinandersetzung mit den aus der platonisch-aristotelischen Philosophie entwickelten Dogmabegriffen (bis hin zu deren Bestreitung, wie sie im Jesus-Buch von Joseph Ratzinger/ Papst Be?nedikt XVI. aus seinem »dogmatischen Konstruktionspunkt« und unter Voraussetzung der »Hellenisierung« der biblischen Botschaft im Neuen Testament erneuert werden, als »Missverständnis«, vgl. 267 ff.) wird solcher Ontologisierung die biblische Denkweise der Gotteserfahrung als Begegnungsgeschehen gegenübergestellt. Statt der Logoschristologie wird (auch in Interpretation von Joh 1 nach Berger, Wengst u. a.) eine Geistchristologie (in Aufnahme von Ergebnissen des christlich-jüdischen Dialogs und auch nach Paulus und Lukas) begünstigt, an Stelle des Begriffs der Christologie überhaupt der des Christusgeschehens, der klassischen Trinitätslehre mit ihrem missverständlichen Personbegriff wird der des »trinitarischen Geschehens« gegenübergestellt (270). Von der Be?gegnung mit Jesus gilt: »die Erfahrung der Präsenz Gottes in ihm hat einen unbedingten Charakter und wird darin zu unserem Lebensgrund im irdischen Leben«. Es wird eine Auseinandersetzung ebenso mit der Anselm’schen Sühne-Theorie geführt wie mit einer zugespitzten Kreuzestheologie unter Vernachlässigung der Fortsetzung des neutestamentlichen Offenbarungsgeschehens in der Sendung des Parakleten und der Geistausgießung, hinein in die pneumatische Wirklichkeit des christlichen Lebens.
Der Band resümiert eine lebenslange Auseinandersetzung mit den Erkenntnisansätzen in verschiedensten Wissenschaften, wie bereits im Erstlingswerk H.s »Theologie und Empirie« (1971), wo es um die sich neu entwickelnden Sozialwissenschaften ging, zumal in den USA und in dortigen Ansätzen veränderter kirchlicher Praxis, worin er damals wirkte und wohin er stets Beziehungen unterhielt. Hier liegt das Interesse in dem erhellenden Überblick über kosmologische und evolutionstheoretische Positionen und deren nicht selten inadäquate theologische Rezeptionsversuche. Solche Bemühungen verfallen seiner Radikalkritik. Nicht weniger freilich jede Art dogmatischer Theologie – also auch eine solche, die hermeneutisch geklärt Historie verstehen und übersetzen will, der Gottesfrömmigkeit aber Welthaftigkeit auch begrifflich verleihen möchte. Hierin besteht meine primäre Anfrage an die Autoren (von der monoton, zuweilen redundant wiederholten Grundthese jenes »kann nicht« und »abgespalten« einmal abgesehen).
Wenn auch in der Bibliographie nicht genannte Autoren gelegentlich im Zitat dennoch erscheinen, so fällt doch auf, dass etwa der Name Dilthey gänzlich zu fehlen scheint – als wären nicht zwischen Geistes- und Naturwissenschaften längst Unterscheidungs- und wiederum neue Zuordnungsdebatten geführt worden, auf die hier kein Rekurs genommen wird, sowenig etwa auch auf Husserls 1938 erfolgter (zuvor schon seines Schülers, des frühen Heidegger, theologisch von Bultmann, wenn auch in Engführung, rezipierter) Einbeziehung der Lebensweltproblematik in seiner Auseinandersetzung mit Descartes. Übrigens hätten, in den historischen Dialogkapiteln neben dem kaum bewerteten Martin Luther (entsteht seine Theologie nicht am direktesten aus »pneumatischer Lebenswelterfahrung«?) und dem zu Recht einbezogenen Calvin (mit seiner Akzentuierung der Christuspräsenz im Heiligen Geist) auch Comenius (der den »Weg des Lichts« aus Gott in »ganzheitliches Erkennen« nachzeichnet) und wiederum Schleiermacher (ihn zitiert er nur indirekt über Karl Barth, ohne aber dessen dritte und letzte Würdigung als eines »Theologen des dritten Glaubensartikels« zu berücksichtigen) überraschende Reflexions-Angebote machen können. Auch kann man scherzhaft fragen, weshalb »Hollweg nicht zu Hollenweger« fand (Isbert Schultz-Heienbrok), also den Ansatz der Pfingstlertums einbezog.
Ein Vorschlag: Spricht die Sozialwissenschaft von »teilnehmender Beobachtung«, so möge es eine »teilnehmende Theologie« geben können, die dem H.schen Verdikt der »Abspaltung« entgeht. Das müsste erlauben, die Fragestellungen von Teil II auch in der Theologie legitim in diskursiver und assertorischer Weise zu bearbeiten und ein in seiner pneumatischen Existenz in seinem Glaubensdenken welt-isoliertes Ich zu vermeiden. Auch ekklesiologisch bleiben Fragen offen. Doch wer sich auf die ausführliche und zu?gleich eindringende Darstellung einlässt, wird keinen geringen Informa-tionsg?ewinn haben.