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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

94–96

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Helmer, Christine, and Bo Kristian Holm[Eds.]

Titel/Untertitel:

Lutherrenaissance Past and Present.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 256 S. m. 2 Abb. = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 106. Geb. EUR 80,00. ISBN 978-3-525-56415-8.

Rezensent:

Christian Neddens

Die Lutherrenaissance war Anfang des 20. Jh.s nicht nur der »andere« (H. Assel) theologische Aufbruch neben der Dialektischen Theologie. Sie war zugleich ein internationales, genauer ein deutsch-skandinavisches Ereignis, dem eine große Bandbreite sehr unterschiedlicher Protagonisten angehörte. Für Deutschland wären hier neben K. Holl etwa C. Stange, E. Hirsch, P. Althaus, R. Hermann oder W. Elert zu nennen, für Skandinavien A. Nygren, G. Aulén oder A. Runestam. Auch jüngere Theologen wie D. Bonhoeffer, H. J. Iwand oder R. Prenter erhielten von diesem Aufbruch entscheidende Prägungen. Die Lutherrenaissance war keine bloß innertheologische Erneuerungsbewegung, sondern hatte ihren Ursprung in einem interdisziplinären Gelehrtendiskurs, in dem es um die modernitätstheoretische und politisch-theologische Ortsbestimmung des Protestantismus in der Moderne ging. Diesen Gelehrtendiskurs repräsentierten beispielhaft Karl Holl und Max Weber auf der einen, Ernst Troeltsch auf der anderen Seite.
Der internationale und interdisziplinäre Aspekt dieses »anderen Aufbruchs« wird in »Lutherrenaissance Past and Present« nun erstmals in den Fokus der Forschung gerückt. Die durch Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg abgebrochene Internationalität wird mustergültig in der Konzeption des Bandes in Erinnerung gerufen, indem hier Beiträge zweier Tagungen versammelt sind, die 2011 in Aarhus und 2012 in Evanston stattfanden und Spezia-listen aus Nordamerika, Skandinavien und Deutschland zusammenführten. An die damalige Interdisziplinarität wird angeknüpft, indem die Wechselwirkungen zwischen einem aktualisierenden Lutherstudium zu Sozialtheorie und Religionsphilosophie, Psychologie und Anthropologie neu in den Blick genommen werden – hinsichtlich der historischen Anfänge als auch einer zukünftigen Lutherrezeption.
Das macht diesen Sammelband zu einer anregenden Lektüre weit über die historischen Anfänge hinaus. Denn die Weichen der Lutherrezeption, die von Holl gestellt wurden, wirken in sehr un?terschiedlichen Rezeptionslinien bis heute nach. Hier zeigen sich exemplarisch Wege und Abwege eines aktualisierenden Lutherstudiums unter den Bedingungen der Moderne. Die reiche akademische Kultur der Berliner Gelehrtenwelt, die den Nährboden der Lutherrenaissance darstellte, und die hoffnungsvolle nordeuropäische Zusammenarbeit, deren Höhepunkt die internationale Tagung in Uppsala 1928 bildete, treten dem Leser ebenso vor Augen wie die unterschiedlichen und teils abgründigen politisch-theologischen Implikationen dieses Aufbruchs, die sich vollends 1933/34 abzeichneten und zu schmerzhaften Trennungen unter ihren Protagonisten führten.
Im ersten Teil, der sich den Anfängen widmet, entwirft Heinrich Assel zunächst einen konzisen Überblick zu den wichtigsten Entwicklungslinien und Kontroverspunkten der Lutherrenaissance in Deutschland von 1900 bis 1960. Dabei schildert Assel anhand bisher unbekannter Quellen zunächst die Berliner modernitätstheoretische Diskurslage zwischen Holl, Weber und Troeltsch, in der die Lutherrenaissance zu Beginn des 20. Jh.s ihren Ausgang nimmt. Assel gelingt dabei der Nachweis, dass die Entdeckung des jungen Luther von Anfang an in einem modernitätssoziologischen und politisch-theologischen Forschungsrahmen stand. Bereits bei We?ber geraten dabei zwei Typen politischer Theologie in den Blick, die dann wenig später in Hirsch und Iwand paradigmatisch Gestalt gewinnen. Hirschs Kreuzestheologie charakterisiert Assel als aporetische Theorie einer prinzipiell abgründigen und zweideutigen Offenbarung göttlicher Souveränität, während Iwand die Probleme der politischen Theologie in der Lutherrenaissance aufgriff, um sie zu revidieren. Gegenüber der völkisch-politischen Theologie des wagenden Opfers bei Hirsch schildert Assel Iwands Bemühen um eine kritische politische Theologie, die auf die Öffentlichkeit der politia Christi rekurriert: Ihr geht es »angesichts der deutschen Zivilisationskatastrophe« »um das politische Urteilen und um die Mitarbeit der Christinnen und Christen als Bürgerinnen und Bürger im Gebrauch der Institutionen und Rechte der rechtsstaatlich verfassten Gesellschaft im Horizont der Öffentlichkeit des Reiches Gottes und des göttlichen Gebots.« (52)
Die weiteren Beiträge zum ersten Teil ergänzen das Bild durch Einzelstudien. Am Beispiel Holls und Hermanns gibt Christine Svinth-Værge Põder den unterschiedlichen Typen der Lutherinterpretation in der Lutherrenaissance weitere Signifikanz. Auf der Grundlage der jeweiligen Rezeption von Luthers Römerbriefvorlesung zeigt sie die unterschiedliche Kontur von Glaubensgewissheit, die bei Holl ihren Sitz im innerlichen Gewissensakt, bei Hermann hingegen im dialogischen Verhältnis des Gebets hat. Peter Widman zeigt in einer quellennahen Interpretation von A. Ritschls Rechtfertigungs- und Versöhnungslehre, wie stark dessen Lutherinterpretation kantianisch beeinflusst war. Else Marie Wiberg Pedersen beleuchtet die Genese des Mystikbegriffs in der Lutherrenaissance und zeigt, wie der Begriff im Nationalsozialismus sowohl dafür genutzt werden konnte, Luthers Verbindung zu einem deutschen Modus religiösen Erlebens zu behaupten (E. Seeberg), als auch dazu, die innerweltliche protestantische Opferbereitschaft gegen die altgläubige Frömmigkeit abzugrenzen (E. Vogelsang). Der Zusammenhang von Reformation und Moderne wird von Peter Grove am Beispiel A. v. Harnacks und K. Holls diskutiert. Während für Holl mit Luther die Neuzeit als Zeit der Entfaltung religiöser Subjektivität anbreche, bleibe die Zuordnung bei Harnack ambivalent. »Harnack’s Luther is Janus-faced: one face looks back at the middle ages, the other forwards to modernity.« (113)
Der aktuelle zweite Teil fragt nach Innovationskraft und Bedeutung der Lutherrenaissance für zentrale theologische Fragen der Gegenwart.
Bo Kristian Holm bringt dazu Holls Interesse an den sozialen Auswirkungen der Rechtfertigungstheologie mit der neueren Gabe-Diskussion ins Gespräch. Das gegenüber Holl und dem Luthertum des 20. Jh.s insgesamt nötige Korrektiv sieht Holm in einem Konzept der Reziprozität, das sich zwischen Vertragstheorie und der Fiktion unilateraler »reiner« Gabe bewegt. Holl könne die neue Gemeinschaft mit Gott in der Regel nur in der Negativität, in der menschlichen Selbstpreisgabe sichtbar machen, weil ihm ein differenzierter Gabe-Begriff wie bei Pierre Bourdieu fehle, der die Alleinwirksamkeit Gottes in der Rechtfertigung mit der tätigen Reziprozität der Glaubenden untereinander in Beziehung zu setzen vermag.
Hier schließt sich Heinrich Assels Frage nach dem Beitrag der Lutherrenaissance für eine zeitgemäße lutherische politische Theologie an, bezogen auf den Kontext des wiedervereinigten Deutschlands seit 2001. Die Problematik, wie die imaginäre Freiheit der Christenbürger in der politia Christi übersetzt werden kann in Positionen und Argumente öffentlicher politischer Diskurse, bearbeitet Assel im Gespräch mit Cornelius Castoriadis’ Theorie des politisch Imaginären. Am Beispiel des Abendmahls zeigt er, wie das Sakrament als rhetorisch-performative Wirklichkeit zugleich als imaginäre politische Institution kenntlich wird, in der Gottes Souveränität in der politia Christi des allgemeinen Priestertums aller Getauften die wechselseitige Anerkenntnis von Freiheit und Würde impliziert.
Dem bleibenden Ertrag der liberal-protestantischen Lutherdeutung widmet Jörg Lauster eine Würdigung. A. v. Harnack, R. Otto und E. Troeltsch hätten nicht nur den Freiheitsimpuls in Luthers Denken gegenüber kirchlichen, sakramentalen und dogmatischen Zwängen sichtbar gemacht, sie hätten auch dadurch zur Freiheit der lutherischen Tradition beigetragen, dass sie Luther gegenüber starken hagiographischen Tendenzen historisch-kritisch kontextualisierten (wenn auch mit unterschiedlichem Ergebnis) und ihn so zur ertragreichen Ressource für eigene zeitgemäße Zugänge zur religiösen Erfahrung gemacht hätten.
Auch Christine Helmer fordert in ihrem Beitrag gegenüber vermeintlich kulturwissenschaftlich fundierten Konzeptionen konfessioneller Identität (G. Lindbeck) die Rückkehr zum historistischen Paradigma der Lutherrenaissance. Kritisch plädiert sie für eine Form lutherischer Theologie, die sich nicht vom akademischen Diskurs abkoppelt, sondern dem wissenschaftlichen Weltbild der Gegenwart, dem modernen Konzept von Subjektivität und der faktischen Pluralität von Religion Rechnung trägt.
Anders gewichtet Ronald F. Thiemann. In einem seiner letzten wissenschaftlichen Beiträge setzt er sich mit der These des kanadischen Philosophen Ch. Taylor auseinander, Luther sei maßgeblich für die Entzauberung der Welt in der Moderne verantwortlich zu machen. Wie Taylor reiht Thiemann Luther in die Reformbewegungen seit dem 13. Jh. ein und fragt nach dem ›sozialen Imaginären‹, also den Hintergrundüberzeugungen, die all diese Reformbewegungen angetrieben haben. Anders als Taylor sieht Thiemann diese Reformbewegungen aber nicht durchgängig als Avantgarden nicht-sakramentaler innerweltlicher Askese, sondern unterscheidet einen Traditionsstrang, der gerade auf sakramentalen Realismus fokussiert ist und zu dem auch Luther gehöre. Dieser Traditionsstrang zeichne sich durch die Vorstellung der ver-borgenen Gegenwart Christi in den profanen Dingen des Alltags aus (168 f.). Luthers christologisch grundierte Theologie göttlicher Gegenwart in der Profanität und seine Ethik des Naheliegenden und der Nächstenschaft bilden einen heilsamen Kontrapunkt zu zeitgenössischen Säkularisierungs- und Modernitätstheorien.
In zwei stärker experimentell angelegten Beiträgen fragen schließlich Marit Trelstad und Allen G. Jorgenson nach dem Erbe der Lutherrenaissance aus feministischer und nordamerikanisch-indigener Perspektive.
»Lutherrenaissance Past and Present« könnte der Anstoß sein für eine neue Lutherrezeption, die sich gegenwärtigen Fragen und Methoden stellt, Luther aus der vorwiegend deutschen Perspektive des 20. Jh.s herausholt und in heutigen nordamerikanischen, nordeuropäischen Kontexten – und darüber hinaus – zugänglich macht. Lange schienen die Fäden zwischen deutscher und skandinavischer Lutherforschung zerrissen. Und mancher beklagte das Verstummen einer engagierten öffentlichen lutherischen Stimme in Nordamerika (R. Cimino). »The vision of a ›global Luther‹ as an international community of Luther scholars is work that still needs to be done, which is to say that there is an important dimension of Luther scholarship yet to be recovered from the ashes.« (16) Für eine neue und globalere Ausrichtung lutherischer Theologie bietet dieser von Helmer und Holm verantwortete Sammelband nun eine gute Basis.