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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

84–86

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Wien, Ulrich A., u. Volker Leppin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirche und Politik am Oberrhein im 16. Jahrhundert. Reformation und Macht im Südwesten des Reiches.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. VII, 480 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 89. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-153951-0.

Rezensent:

Norbert Haag

Auf nahezu 500 Seiten präsentiert dieser sorgfältig redigierte und gewohnt ansprechend gestaltete Band die Ergebnisse einer Forschungstagung, die vom 2. bis 5. April 2014 durch den Historischen Verein der Pfalz, das Institut für Evangelische Theologie (Campus Landau) in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Reformation der Universität Tübingen sowie den Verein für Pfälzische Kirchengeschichte und die Gesellschaft für mittelrheinische Kirchengeschichte an der Universität Koblenz-Landau veranstaltet wurde. Ein zentrales Ziel der Tagung war es, die Vielgestaltigkeit »der« Reformation jenseits ihrer Zentren Wittenberg/Sachsen einerseits, Zürich andererseits in den Blick zu nehmen und dergestalt zu diversifizieren – »Reformation« in regionaler Brechung sozusagen. Mit dieser Intention soll eine Landschaft in den Blick genommen werden, die bislang vor allem als ein Zentrum des Bauernkrieges bzw. der städtischen Reformation das Interesse der Forschung auf sich gezogen hat, die Region des Oberrheins. »Diese Landschaft«, so die beiden Herausgeber in ihrer prononcierten Einleitung, »wird im Folgenden entlang des Flussverlaufes etwa zwischen Konstanz, Basel und Main verortet, in der Ausdehnung von Westen nach Osten in etwa von den Vogesen und dem Pfälzer Wald bis zur Schwäbischen Alb und dem Kraichgau« (1).
Wie soll man den wissenschaftlichen Ertrag eines voluminösen Tagungsbandes auch nur einigermaßen seriös zu bewerten versuchen, der in drei Sektionen (I – Machtverhältnisse in Reich und Religion; II – Bildungslandschaft; III – Strategien und Konflikte in den reformatorischen Auseinandersetzungen) insgesamt 25 Aufsätze enthält? Fragen wir zuerst nach der Konzeption, die dieser Auf-teilung zugrunde liegt: Als vordringlichste Aufgabe des Bandes benennen die Herausgeber die Erfassung der komplexen regionalen Gemengelage, die es unter gebührender Einbeziehung territorial- und verwaltungsgeschichtlicher Fragestellungen (neu) »zu erheben und zu beschreiben« gelte. Dem ist die erste Abteilung über »Machtverhältnisse« gewidmet. Die zweite richte den Blick auf die genannte Region als »Bildungslandschaft«, während die dritte Sektion »den Akzent stärker auf die handelnden Akteure und den Zusammenhang von Strategie und Konflikten im Zuge der reformatorischen Auseinandersetzungen« lege (2). Dieser Zielsetzung ist der vorliegende Tagungsband insofern in hohem Maß gerecht geworden, als es den Beiträgern gelungen ist, unser Wissen über Dynamik und Vielfalt des reformatorischen Geschehens in Aneignung, Widerspruch und Ablehnung sowie die von ihm ausgehenden Impulse mit Blick auf die Landschaft des Oberrheins hochkompetent aufzubereiten und zu fokussieren. Dem Leser wird dergestalt ein hochaggregierter und facettenreicher Zugriff auf regionale Ausformungen von Reformation ermöglicht, der weitere Forschungen fraglos befruchten wird. Auch einige ausgesprochen innovative, unseren bisherigen Forschungsstand erweiternde Beiträge enthält der Band, etwa Susanne Schusters Ausführungen zur Flugschriftenliteratur am Oberrhein (271–284), Astrid von Schlachtas Beitrag über den Reichsabschied von Speyer 1529. Von den Schwierigkeiten antitäuferische Normen durchzusetzen (415–432) oder Walter Rummels Beitrag zu Hexenprozesse, Gesellschaft und Politik am Beispiel der Kurpfalz und Pfalz-Zweibrückens (433–452). Gelegentlich verwundert allerdings auch, was nicht zu finden ist – so etwa, wenn in einigen (keineswegs allen) Beiträgen, die Straßburg bzw. seinen führenden Politikern und Theologen gewidmet sind, das reichhaltige Œuvre von Thomas Brady Jr. keine oder allenfalls eine periphäre Rolle spielt oder wenn neuere Forschungsergebnisse zum Schmalkaldischen Bund und seinem »Umfeld« souverän ignoriert werden. Allzu hoch sollte dies allerdings nicht bewertet werden.
Gleichwohl bleiben einige grundlegende Fragen: Ist es für weitere Forschungen methodisch wirklich weiterführend, Region als Landschaftsbegriff – und damit letztlich statisch – zu erfassen, oder sollte nicht einem dynamischen Konzept von Region der Vorzug gegeben werden, das seine »Einheiten« in Abhängigkeit von der jeweiligen Fragestellung bildet? Und selbst wenn ich mich für einen landschaftlichen Begriff von Region entscheide – genügt es wirklich, deren Grenzen zu beschreiben und damit ohne jede weitere Begründung zu setzen?
Methodologische Vorbehalte sind auch in einem zweiten Punkt geltend zu machen: So sehr es zu begrüßen ist, wenn die klassischen politik-, kirchen- und theologiegeschichtlichen Fragestellungen in zwischenzeitlich erfolgter sozialgeschichtlicher Erweiterung nunmehr um die räumliche Dimension ergänzt (und ge?schärft) werden sollen, so sehr ist zu hinterfragen, was denn ge?- wonnen ist, wenn ich nunmehr die einzelnen Bausteine (im Sinne von Herrschaftsräumen) quasi isoliert betrachte – z. B. das Herzogtum Württemberg, die Reichsstadt Straßburg (die als städtisches Gravitationszentrum des Raumes mit einer reichhaltigen literarischen Produktion naturgemäß prominent vertreten ist) oder die (Erz-)Stifte Mainz, Basel und Konstanz? Lässt sich reformatorisches Geschehen in der Region wirklich adäquat erfassen, wenn ich die Wirkmächtigkeit von supraterritorialen Gebilden wie etwa dem schmalkaldischen Raum oder den Faktor »kaiserliche Präsenz/Ab?wesenheit« quasi ausblende? Autark war dieser Raum jedenfalls definitiv nicht (dies zeigt besonders eindrücklich der Beitrag von Alfred Kohler), und zentrale Grundsatzentscheidungen – etwa im Umgang mit Kirchengut – wurden eben nicht vor Ort getroffen, sondern im Gehäuse des Schmalkaldischen Bundes (und zwar unter Hintanstellung städtisch-theologischer Ansprüche zuguns?ten der politischen Obrigkeiten mit Hilfe einer juristischen Funktionselite).
Es ist, um ein Letztes anzumerken, selbstverständlich legitim, im konfessionellen Binnenraum die divergierenden Ansichten eines Martin Bucers und eines Jakob Sturms erneut zum Thema zu machen, und zwar durchaus mit Gewinn. Andererseits: Der württembergische Herzog Ulrich hat dem hessischen Landgrafen einmal zu bedenken gegeben: »Ob es nutz und gutt, das wir unnseren Theologis […] Inn Zeitlichen und Eusserlichen sachen ordnung und mass zugeben, gestatten, dann Sie sollenn […] damit nitz zuthun habenn. Sie griffen eins teils on das Je gern nach dem Zaum, wo In einicher Rom [d. i. Raum] gegebenn wurd, unnd sorgenn es wurd unns In keinem weg zu gutten erschiessen« (Hzg. Ulrich an Ldgf. Philipp am 10. Jan. 1540, HSTAM 3075, f.29–33). Diese Ebene des Verhältnisses der Fürsten (und Städte) zu »ihren« Theologen ist aber vergleichsweise wenig erforscht. Möglicherweise wäre dies aber lohnender als im Prinzip Bekanntes neu einzujustieren.
Wie zu sehen, bleiben Fragen offen. Allerdings sollte auch eine Forschungstagung nicht mit Ansprüchen überfordert werden – zumal »Zeit« für wirkliche innovative Forschungen unter den heutigen universitären Rahmenbedingungen als ausgesprochen knappes Gut zu bezeichnen sein dürfte. Und eines hat der vorliegende Band in jedem Fall erreicht: unser Bewusstsein zu schärfen, wie komplex der Forschungsgegenstand »Reformation« ist und wie wenig er sich gegenwärtig auf eine eingängige »Erzählung« reduzieren lässt.