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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

82–84

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Werrell, Ralph S.

Titel/Untertitel:

The Blood of Christ in the Theology of William Tyndale. Cambridge: James Clarke (Lutterworth) 2015. 165 S. Kart. £ 20,50. ISBN 978-0-227-17487-6.

Rezensent:

Arne Dembek

William Tyndale (1491–1536) ist die zentrale Gestalt der Frühphase der englischen Reformation. Seine Bibelübersetzung aus den Ursprachen wurden prägend für alle nachfolgenden englischsprachigen Bibeln. Seine theologischen Schriften waren die ersten, die reformatorisches Gedankengut in englischer Sprache formulierten. Der emeritierte anglikanische Priester Ralph Werrell (* 1929) legt nun eine neue Interpretation von Tyndales Gesamtwerk vor, die in der Metapher des »Blutes Christi« das zentrale Leitmotiv des englischen Reformators findet. Jeder Bereich von Tyndales Theologie sei davon geprägt, »dass der Heilige Geist uns mit dem Blute Christi besprengt und unser Denken und Handeln dadurch heiligt« (»the Holy Spirit sprinkling Christ’s blood on us, sanctifying our every thought and action«, 9).
Seinem Vorsatz, Tyndale selbst zu Wort kommen zu lassen, versucht W. nachzukommen, indem er Zitate aus den Schriften des Reformators bestimmten dogmatischen Loci zuordnet. So stellt W. zunächst Aussagen Tyndales zu innertrinitarischen Beziehungen als Bundesgeschehen (»covenant«) zusammen (Kapitel 2), räumt jedoch zugleich ein, dass Tyndale selbst den Ausdruck nicht in diesem Kontext verwendet (15, Anm. 3). Wiederum Tyndale zitierend wird der Heilsplan des dreieinen Gottes, vom Sündenfall und der Gefangenschaft des Menschen unter dem Satan (Kapitel 3), bis zur Errettung durch das Opfer Christi, dessen Blut die Sünder freikauft, dargelegt (Kapitel 4). Dem Leben in der Gemeinschaft der Glaubenden und die Bedeutung der Sakramente ist das 5., den Irrtümern der Papstkirche, die Tyndale anführt, das 6. Kapitel gewidmet. Eine Zusammenfassung beschließt diese Darstellung von nur 100 Druckseiten. Ein 60-seitiger Anhang listet alle Textstellen aus Tyndales Werken auf, in denen vom »Blut Christi« die Rede ist.
W.s Ansatz wirft gleich mehrere grundsätzliche Fragen auf: Die Formulierung »Blood of Christ« wird von Tyndale zwar verwendet, jedoch so, wie bei anderen Reformatoren auch, als Metapher für das Versöhnungsgeschehen. Dieser Zusammenhang spielt für W. freilich keine Rolle, denn er verneint grundsätzlich – wie er in seiner »Theology of William Tyndale« (2006) deutlich gemacht hat – jede wesentliche Bezugnahme Tyndales auf andere reformatorische Theologen, vor allem auf Luther. Für ihn ist Tyndale ein Solitär, der – Impulse Wycliffs aufnehmend – eine eigenständige (und überlegene) Theologie erdacht hat. Tatsächlich war Tyndale jedoch, bei aller theologischen Originalität, in hohem Maße von anderen Theologen beeinflusst. Lutherschriften bildeten die literarischen Vorlagen etwa seiner Bibelvorreden oder seiner rechtfertigungstheologischen Hauptschrift »A Parable of the Wicked Mammon« (1528). Auch inhaltliche Übereinstimmungen mit oberdeutschen Reformatoren, wie Martin Bucer, sind eindeutig nachweisbar. W.s Bestreitung jeglichen Einflusses wird da lächerlich, wo er Tyndale zitiert und damit in Wahrheit dessen Lutherübersetzung (zu S. 24, Zitat 1 u. 4, vgl. Luthers Römerbriefvorrede von 1522, ebenso S. 45, Zitat 4, S. 49, Zitat 5, S. 94, Zitat 1; zu S. 34, Zitat 2, S. 39, Zitat 1, vgl. Luthers Vorrede zum Neuen Testament, 1522).
Tyndale hat keine dogmatischen Loci verfasst, sondern legte biblische Texte für die reformatorisch gesinnte Untergrundgemeinde in England aus. Dabei lässt sich eine theologische Entwicklung zwischen seinen frühen und seinen späten Schriften aufzeigen. Umso fraglicher ist W.s Methode, Tyndale-Zitate eklektisch aus ihrem Kontext zu nehmen und in den Rahmen eines von ihm selbst stammenden dogmatischen Gerüsts einzufügen. Das Buch wird so über weite Strecken zu einer mühsam lesbaren »Zitatcollage«. Auffallend ist, dass W. Begriffe wie »Sündenfall«, »Neugeburt«, »Teufel« ebenso wie das titelgebende »Blut Christi« in seinen erläuternden Zwischentexten nicht erklärt oder gar problematisiert, sondern lediglich Tyndales Worte paraphrasiert. Im Ergebnis entsteht eine »evangelikale« Theologie, welche die theologische Terminologie des 16. Jh.s unreflektiert übernimmt.
Nimmt man den Verzicht auf eine kritische theologische und historische Einordnung Tyndales, das Fehlen einer Auseinandersetzung mit anderen Forschungspositionen (neuere wissenschaftliche Arbeiten werden nicht zur Kenntnis genommen, das aktu-ellste angegebene fremde Werk zu Tyndale stammt aus dem Jahr 1964) und die offenkundig lückenhafte Kenntnis der Textgrundlage, ihrer Hintergründe und Quellen zusammen, lässt sich hier kaum noch von einer wissenschaftlichen Arbeit sprechen. Das Buch ist wohl eher einzuordnen als ein persönliches Bekenntnis W.s zu Tyndale und dessen Bedeutung für die eigene theologische Biographie (»When I started my research into Tyndale’s theology, I soon realised that I would have to make a lot of revisions in every theological position I had ever come across«, 95). Es stellt sich die Frage, ob das für Leserinnen und Leser, die etwas über Tyndale erfahren möchten, von Interesse ist.