Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

73–75

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Bumazhnov, Dmitrij [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Christliches Ägypten in der spätantiken Zeit. Akten der 2. Tübinger Tagung zum Christlichen Orient, 7.–8. Dezember 2007.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XI, 355 S. = Studien und Texte zu Antike und Christentum, 79. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-152777-7.

Rezensent:

Martin Illert

Während das Christentum im Nahen Osten gegenwärtig in schwerer Bedrängnis ist, scheinen in Europa die wissenschaftlichen Ressourcen zu schrumpfen, die ein wissenschaftlich vertieftes Verstehen der byzantinischen und der altorientalischen Kirchentraditionen ermöglichen. Initiativen zur Bewahrung einzelner Lehrstühle ist nur geringer Erfolg beschieden, obwohl die Beschäftigung mit den Traditionen des christlichen Orients in der aktuellen Situation helfen könnte, Stereotypen interreligiöser und interkonfessioneller Selbst- und Fremdwahrnehmung aufzubrechen. Nicht allein verfügen die altorientalischen Christen über eine jahrhundertelange Erfahrung religiöser Koexistenz, die auch für Europa und die westlichen Kirchen von Relevanz sein dürfte. Vor allem trägt die Herausarbeitung des theologischen Profils des altorientalischen Christentums dazu bei, diese Kirchen aus der Falle einer exklusiven Selbst- oder Fremddefinition als Opfer zu befreien, in die sie zunehmend hineingeraten.
Die im vorliegenden Band dokumentierte »Zweite Tübinger Tagung zum Christlichen Orient« wurde im Dezember 2007 von der Evangelisch-theologischen und der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität gemeinsam veranstaltet. Dass Tübinger Tagungen zum Christlichen Orient auf eine Initiative zur Bewahrung des dortigen Lehrstuhls für »Sprachen und Kulturen des Christlichen Orients« zurückgehen, die ihr Ziel nicht erreichte, schmälert die wissenschaftliche Bedeutung der Tagungen und der in ihnen vorgelegten Aufsätze nicht. Indem der Herausgeber die Beiträge der Tübinger Tagung durch Studien des Tübinger Kolloquiums »Mensch und Wüste: anachoretische Erfahrungen im Spiegelbild christlicher Traditionen« von 2008 sowie weitere Arbeiten zum spätantiken Ägypten ergänzt hat, ist ein Band entstanden, der ein facettenreiches Bild des christlichen Ägypten vor 600 zeichnet.
Sicherlich wäre es interessant gewesen, manche der Phänomene aus dem koptischen Bereich oder der alexandrinischen Theologie mit den in der »Ersten Tübinger Tagung zum Christlichen Orient« im Juni 2007 behandelten Traditionen des spätantiken Syriens zu vergleichen, um womöglich spezifisch ägyptische Antworten auf Fragen etwa nach der Motivierung der Askese oder nach der Gestaltung des monastischen Lebens mittels einer Zusammenschau koptischer, griechischer und syrischer Traditionen herauszuarbeiten. Doch bietet bereits der in diesem Band weitgehend auf den kop-tischen, griechischen und lateinischen Bereich beschränkte Blick eine Fülle von philologischen, historischen, kunsthistorischen und theologiegeschichtlichen Einsichten. Neben Arbeiten zu biblischen und apokryphen Schriften finden sich Beiträge zur Theologiegeschichte des 4. bis 6. Jh.s, zum frühen ägyptischen Mönchtum sowie eine Studie, die liturgiewissenschaftliche und ikonographische Ansätze zu verbinden trachtet. In allen Beiträgen wird deutlich, dass eine strenge Scheidung hellenistischer und koptischer kultureller Räume für das spätantike Ägypten einer unzulässigen Vereinfachung gleichkäme. Mag sich die städtische Kultur Alexandrias auch deutlich von den ländlichen Traditionen Ägyptens un?terschieden haben, so belegen die hier versammelten Arbeiten doch durchgehend die vielfache Durchdringung hellenistisch-griechischer und koptischer Sprachen, Milieus und Traditionen.
Ein zentrales Feld der kulturellen Interaktion im spätantiken Ägypten stellen die Übersetzungen und die Rezeption biblischer und apokrypher Schriften dar. Frank Feder gibt einen gegenüber Karlheinz Schüsslers Biblia Coptica um mehrere Papyri erweiterten Überblick über die koptischen Versionen des Proverbienbuches und kommt zu neuen Einsichten in die Textgeschichte der koptischen Fassungen dieses Buches. Jan Dochhorn arbeitet am Beispiel der Erzählungen von der Installation des Erzengels bei Ps.-Johannes, Theodosius von Alexandrien, Peter von Alexandria, Johannes Parallos und Ps.-Gregor von Nazianz die herausragende Stellung des Erzengels Michael in der koptischen Spiritualität heraus und zeigt, wie narrative Texte zur Bearbeitung dogmatisch-theologischer Interessen »zur Scheidung von Orthodoxie und Häresie« (39) genutzt werden konnten. Emmanuela Grypeou widmet sich in ihrem Beitrag dem interreligiösen Transfer, nämlich der »Rolle und Rezeption jüdisch-pseudepigraphischer Literatur im christlichen Ägypten« (44), indem sie dem Motiv der Himmels- und Höllenreise in der Vita des Pachomius und im Testament Isaaks nachgeht. Peter Nagel stellt den Beitrag der Koptologie zur Rekonstruktion und Erforschung der apokryphen Evangelien dar, ohne den »unsere Kenntnis von den apokryphen Evangelien um vieles ärmer geblieben« (69) wäre. Uwe-Karsten Plisch macht am Beispiel von Logion 29 aus dem Thomasevangelium Spuren einer kommentierenden Redaktion der dem Evangelium zugrundeliegenden Herrenwortsammlung wahrscheinlich und Alexander Toepel betrachtet Logion 6 desselben Evangeliums, dem es »um die Erkenntnis des eigenen Wesens« geht, »die durch äußere Gebotsbefolgung verdunkelt wird« (78), im Lichte der hellenistischen Philosophie.
Im Anschluss an die koptischen Bibelversionen und die Apokryphen kommen die kulturellen Interaktions- und Transformationsprozesse der Theologie und Spiritualität des 4. Jh.s in den Blick. Das Werk des Didymus von Alexandria »Über den Heiligen Geist« zählt Pablo Argárate in seiner Darstellung »unter die Pionierwerke der pneumatologischen Betrachtungen der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts« (91). Dmitrij Buzhmanov legt eine ideengeschichtliche Analyse zum Motiv vom Reigentanz der Tugenden in der spätantiken philosophischen Literatur und im ägyptischen Mönchtum bei Paul von Tamma vor und kann den Sinn einer Passage im Werk des koptischen Schriftstellers durch den Aufweis von Parallelstellen bei Philo und Plotin erhellen. Das Verhältnis der Göttinger arabischen Pachomiusvita zu den koptischen, den übrigen arabischen und den griechischen Versionen untersucht Ioannis K. Grossmann und gewinnt dabei erhellende Erkenntnisse in die äußerst komplexe Überlieferungsgeschichte der Vita. Irmgard Männlein-Roberts Studie zeigt mit der »Pluralisierung der Auffassungen über den Mittagsdämon« (158) bei Evagrius, Cassian, Hieronymus und Augustin eine besondere Art des Traditionstransfers und der theologischen Transformation innerhalb der frühen monastischen Bewegung.
Auf die Theologie des 5. und 6. Jh.s konzentrieren sich drei Beiträge. Ein koptisches Fragment zur Sündhaftigkeit aus dem Werk Schenutes mit Einleitung, Übersetzung und Kommentar sowie griechischem und koptischem Begriffsregister legt Joachim Cristea vor. In einer ausführlichen Analyse des Traktats »de sectis« des Abbas Theodor nennt Benjamin Gleede Gründe für die Einordnung des Textes als einer »Handreichung für die verbliebenen alexandrinischen Chalcedonier«, deren Grundausrichtung »in deutlicher Spannung zur Theologie des eigenen Patriarchen Eulogius und zur kaiserlich verfochtenen Religionspolitik steht« (216). Den Wüstenbegriff im ägyptischen und im europäischen Mönchtum untersucht Eva Schulz-Flügel und konstatiert einen Wandel in der Bewertung der Wüste als Paradies in der Antoniusvita und in der »Wüstenromantik« (220) des Hieronymus einerseits und andererseits in der Martinstradition, »die kontemplatives Leben mit dem Wirken in die Welt hinein verbindet« (226).
Methodisch erweitert wird der Zugang zum christlichen Ägypten durch die Studie Bärbel Dümlers, die dem liturgisch-kultischen Sitz im Leben der spätantiken Maiestas-Domini-Darstellungen in koptischen Klöstern nachgeht. Den philologischen Schlusspunkt setzt Jan Dochhorn mit der Publikation einer bohairisch/ sahidischen Synopse des Testamentum Isaaks mit Einleitung und Kommentar.
Religiöse, sprachliche und kulturelle Transferprozesse werden in diesem Band auf hervorragende Weise herausgearbeitet. Die sorgfältig erstellten Stellen-, Autoren- und Sachregister erleichtern den Lesern die Orientierung. Dem am Göttinger Courant-Forschungszentrum »Bildung und Religion« und am orientalistischen Seminar der Universität Halle-Wittenberg tätigen Herausgeber, der bereits in seinen Werken »Der Mensch als Gottes Bild im christlichen Ägypten« (Tübingen 2006) und zur »Visio mystica im Spannungsfeld frühchristlicher Überlieferungen« (Tübingen 2009) philologische, historische und theologische Perspektiven auf eindrucksvolle Weise verbunden hat, ist für diesen gelungenen Band zu danken.