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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

71–73

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Watt, Jan G. van der, Culpepper, R. Alan, and Udo Schnelle [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Prologue of the Gospel of John. Its Literary, Theological, and Philosophical Contexts. Papers read at the Colloquium Ioanneum 2013.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XXII, 342 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 359. Lw. EUR 134,00. ISBN 978-3-16-154771-3.

Rezensent:

Klaus Scholtissek

Dieser Sammelband zum Johannesprolog geht auf die erste Tagung des neu gegründeten Colloquium Ioanneum im Jahre 2013 auf Patmos zurück und dokumentiert die dort gehaltenen Vorträge. Als Initiatoren und Herausgeber dieses Bandes haben sich drei erfahrene und hochangesehene Johannesforscher zusammengetan: Jan G. van der Watt, R. Alan Culpepper und Udo Schnelle, die für die hohe Qualität der Forschungsdiskussion bürgen.
Der Einstieg des neuen Colloquiums mit dem Johannesprolog legt sich nicht nur rein formal nahe (Joh 1,1–18 sind nun mal die ersten Verse des JohEv), sondern auch aus inhaltlichen, methodischen und forschungsgeschichtlichen Gründen: Der Johannesprolog ist ein anspruchsvoller Text, an seiner Auslegung scheiden sich die Geister, hier werden oftmals methodische und hermeneutische Vorentscheidungen getroffen, die die Auslegung des gesamten Evangeliums, wenn nicht des gesamten Corpus Johanneum beeinflussen.
Die 14 Aufsätze sind in zwei Gruppen eingeteilt: »Confronting the Challenges of the Prologue« und »Reading the Language and Concepts of the Prologue in Their Philosophical Context«. Den ersten Teil eröffnen programmatisch zwei Antipoden: R. A. Culpepper deutet den Prolog als »Theological Prolegommenon to the Gospel of John«, während J. Ashton es ablehnt, Joh 1,1–8 als »Prolog« zu klassifizieren. Eine inhaltliche Zwischenposition hierzu vertritt Jean Zumstein, der eine theologische Differenz zwischen Prolog und Corpus annimmt, aber dem Prolog eine hermeneutische Rahmenbedeutung für das Corpus Evangelii zuspricht.
Ausgehend von den »five divine initiatives« in Joh 1,1–8 (the work of creation through the Logos in V. 3; the giving of the Law through Moses in V. 17; the send-ing of John the Baptist in V. 6–8.15; the coming of the light in V. 9/the incarnation of the Logos in V. 14 und the birth of the children of God in V. 12–13) und ihren Wiederaufnahmen im JohEv zeigt R. Alan Culpepper nachdrücklich auf, wie eng und wie vielfältig die theologischen Verbindungen sind zwischen Prolog und Corpus. So betont er z. B., dass in den Aussagen über die Sendung des Täufers insbesondere mit dem juristisch relevanten Zeugnismotiv bereits das Thema des Prozesses, den Jesus »der Welt« macht und der Jesus gemacht wird, antizipiert wird. Culpepper schlussfolgert überzeugend: »Its [the Prologue] rela-tionship to the themes and theology of the Gospel is such that it becomes increasingly clear that the Prologue provides readers of the Gospel with the theological framework that is needed to understand the significance of Jesus’ ministry, death, and resurrection as it is understood in the rest of the Gospel, and especially its images, ironies, misunderstandings, and interrelated themes« (25). »The theological themes and concepts introduced in the prologue und developped subsequently in the Gospel form the core of Johannine thought« (26).
Eine deutliche Gegenposition vertritt J. Ashton in seinem Beitrag: »Really a Prologue?«, in dem er die vorhandenen Differenzen zwischen Prolog und Corpus auswertet: So werde die Logos- und Inkarnations-Christologie des Prologs nicht mehr in gleicher Weise im Corpus Evangelii aufgegriffen; der Begriff logos komme im Corpus gar nicht mehr in der Weise vor, wie er im Prolog verwendet werde: »How is it possible to move from the use of this single word to the complex Christology of the body of the Gospel, where there is not so much as a hint of incarnation, and Jesus’ entry into the world is always referred to either as a descent (as Son of Man) or a mission« (31). Ashtons literarkritische Rekonstruktion des JohEv insgesamt rechnet mit einem ursprünglich selbständigen Logoshymnus, den ein Redaktor des JohEv zunächst erweitert und dann dem JohEv vorangestellt habe – im Zuge einer Überarbeitung, die auch zur Integration der neuen Kapitel 6 und 17 geführt habe. Die folgenden Beiträge wenden sich exemplarischen Teilthemen der Prologforschung zu:
In direkter Antithese zu der Position von J. Ashton betont William R. G. Loader die Kohärenz der soteriologischen Aussagen des Prologs mit denen des Corpus Evangelii: »For while the term Logos does not recur in the rest of the Gospel, the imagery belonging to the tradition which identified Logos/Wisdom/Torah certainly does. Time after time we find Jesus in conversation, offering this life and confronting those who reject it« (51). »The prologue does not tell the whole story, but its soteriology is thoroughly consistent with what one finds in the Gospel. The Son offers life. That’s the Gospel’s ultimate goal: ›that you may have life‹ (20:30–31).« (52)
Jan van der Watt diskutiert intensiv die grammatikalischen und syntaktischen Fragen, die sich zu V. 1,1 stellen: Für die Deutung, hier handele es sich um ein Rätsel (riddle), kann er keine grammatikalischen oder syntaktischen Anhaltspunkte finden. Dafür verweist er auf eine bedeutende theologische und hermeneutische Schlussfolgerung: »No final decision on the ›correct‹ reading is really possible, as re-reading and re-thinking in light of the rest of the Gospel seems to be invited. At first reading, one is not supposed to understand fully what is going on, and is left guessing: but, as the Gospel unfolds, the meaning becomes more transparent.« (77)
Catrin H. Williams betont in ihrem Beitrag »(Not) Seeing God in the Pro-logue and Body of John’s Gospel«, dass sowohl der Prolog (Joh 1,18) als auch das Corpus Evangelii das unmittelbare Gott-Sehen nur Jesus Christus zuschreiben. Jesaja habe nach Joh 12,41 – entgegen dem ursprünglichen Sinn von Jes 6,10 und 53,1 – Gottes Herrlichkeit vorausgreifend gesehen, aber nur insofern diese in Jesu irdischem Leben aufleuchtet.
Am Beispiel Johannes des Täufers »as a Character in the Fourth Gospel« erkundet Ruben Zimmermann die kohärente narrative Strategie, die der Evangelist im Prolog und im Hauptteil des Evangeliums verfolgt: Johannes der Täufer wird als »Türöffner (gatekeeper)« (vgl. 10,3) und »Freund« des »Bräutigams« (3,29–30) vorgestellt. Zimmermann zitiert Catrin Williams zustimmend: »John is characterized as a connecting link […] between heavenly and earthly, the eternal and the historical, the old and the new […] he emerges at a point of transition – both spatialy (in the wilderness) and chronologically (on the first day). […] His legacy as a character is that he fulfills a bridge-like role.« (113)
Nach Michael Theobald ist ein Redaktor verantwortlich für das Vorkommen der joh Zeugnisterminologie an den »Schaltstellen der vier Schriften« (119) – dem JohEv und 1–3Joh. Seiner Überzeugung nach ist die »Komposition des Corpus […] der letzte literarische Akt, der entweder nach der Hinzufügung von Joh 21 zum Evangelium oder gleichzeitig mit ihr erfolgte« (126).
Für eine literarisch und theologisch kohärente Lektüre von Prolog und Evangelium plädieren die Ausführungen von Christos Karakolis, der das Logos-Konzept des Evangelisten als dramatische Ironie interpretiert: »It is dramatically ironical that while on the one hand the implied readers know the real identity of Jesus as the Logos, and are in a position to understand the absolute authority and significance of his words, on the other hand the characters of the narrative are not able and/or willing to do so.« (148) Weiterführend ist seine Beobachtung, dass die ›dramatische Ironie‹ Personen, die nicht oder noch nicht an Jesus glauben (z. B. Nikodemus), gerade nicht stigmatisiert, sondern im Gegenteil Sympathie für sie weckt (vgl. 153–156).
Den zweiten Hauptteil eröffnet ein programmatischer, weiterführender Aufsatz von Udo Schnelle zur »Philosophischen Interpretation des Johannesevangeliums« (und nicht nur des JohEvs): Schnelle weist überzeugend darauf hin, dass die schnelle Verbreitung des frühen Christentums mit den beiden führenden Theologen Paulus und Johannes und allen neutestamentlichen Schriften nicht möglich gewesen ist ohne die denkerische Auseinandersetzung mit den maßgeblichen Bildungstraditionen ihrer Umwelt:
»Ein Vergleich mit philosophisch-theologischen Denkern des 1./2. Jahrhunderts n. Chr. wie Seneca, Plutarch, Dio von Prusa oder Epiktet zeigt, dass insbesondere Paulus und Johannes ihnen gegenüber auch in denkerischer Hinsicht in nichts zurückstehen. Zwar waren neutestamentliche Autoren wie Paulus oder Johannes zweifellos nach antiken Kategorien keine Philosophen, aber ihre Theologie weist eine denkerische Kraft auf. Sie zeigt sich vor allem in der Umsetzung von religiösen Erfahrungen und Überzeugungen, die Systemqualität gewinnen mussten, bevor sie eine solche Wirkungsgeschichte entwickeln konnten.« (173)
Schnelle belegt diese These für die joh Schriften an den Themen: Logos, Wahrheit und den Gottesdefinitionen (Licht, Liebe, Geist). Seine Schlussfolgerung ist konsequent:
»Die philosophische Interpretation des Johannesevangeliums ist nicht nur eine Ergänzung der bisherigen Methoden und Fragestellungen, sondern sie verändert unsere Wahrnehmung der Texte: Sie sind nicht nur religiöse, sondern auch denkerische Leistungen, die Menschen damals wie heute unmittelbar ansprechen.« (187)
Die folgenden Aufsätze greifen markante Leitbegriffe johan-neischer Theologie auf und vertiefen die Frage nach ihrer entstehungs- und rezeptionsgeschichtlichen Affinität zu geistes- und kulturgeschichtlichen Kontexten: Logos (Jörg Frey mit einem gründlichen Plädoyer für die Wahrnehmung des hermeneutischen Potentials der joh Logos-Christologie); Geist (Craig R. Koester); Parresia (George L. Parsenios); Licht (Marianne Meye Thompson); Zeichen (Jean Zumstein).
Der Sammelband führt die aktuelle Forschung zum Johannesprolog auf hohem Niveau vor Augen. Dabei sind aus Sicht des Rezensenten insbesondere folgende Beobachtungen weiterführend: Die Brücken zwischen Prolog und Evangelium sind intensiver und zugleich vielfältiger als mitunter angenommen. Das gilt für Begriffe, Motive, Metaphern und Themen ebenso wie für narrative Strategien des Evangelisten. Das gilt für das hermeneutische Potential und die denkerische und sprachliche Kraft des Johannesevangeliums ebenso wie für die schrittweisen Neucodierungen bzw. Decodierungen von Leitwörtern in christologischer Absicht.