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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

67–68

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Reiser, Marius

Titel/Untertitel:

Kritische Geschichte der Jesusforschung. Von Kelsos und Origenes bis heute.

Verlag:

Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 2015. 204 S. = Stuttgarter Bibelstudien, 235. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-460-03354-2.

Rezensent:

Ulrich Luz

Der Band enthält zwei Studien, eine längere, die ihm den Titel gegeben hat (11–151), und eine kürzere mit dem Titel »Grundsätze und Methoden der Jesusforschung« (152–201). Seine Grundthese formuliert Marius Reiser im Vorwort: Die moderne Jesusforschung gleiche einem kreißenden Berg, der eine Maus – oder vielleicht sogar gar nichts – geboren hat. Trotzdem ist »die Suche nach dem historischen Jesus ein theologisches Gebot, wenn man die von allen christlichen Bekenntnissen akzeptierten christologischen Aussagen«, dass Jesus wahrer Mensch war, »ernst nehmen will« (7). Die Frage nach dem »historischen« Jesus ist also vom chalcedonensischen Glaubensbekenntnis her geboten.
Unnütz ist sie nur, wenn man ihr die (dogmatischen!) Prämissen der Aufklärung zugrunde legt, wonach Jesus »vor Ostern ein bloßer Mensch war« (154), der keine echten Wunder getan haben könne, weil Gott – der Gott der Aufklärung! – nicht in die Geschichte eingreifen könne. Unnütz ist sie, wenn man die Evangelien nach der Art Bultmanns in Einzelperikopen atomisiert und diese von angeblich sekundären Übermalungen befreit. Unnütz ist sie, wenn man den Quellen von vornherein mit einer Hermeneutik des Verdachts begegnet. Historisch aber ist sie keineswegs aussichtslos: Die Quellenlage ist für Jesus viel besser als diejenige für Sokrates. Die »Weltfülle der synoptischen Evangelien« (W. Schadewaldt) ist beeindruckend (164 f.). Das Erinnerungsbild Jesu wurde in der kurzen Zeitspanne zwischen seinem Wirken und der Niederschrift der synoptischen Evangelien gut bewahrt. Der Gesamteindruck eines Menschen, in dem Gott in die Geschichte eingetreten ist, ist in allen vier Evangelien derselbe. Darum betont R. auch, dass das Differenzkriterium ein grundlegendes Kriterium für die Jesusüberlieferung bleibt, denn es betont, was an Jesus einzigartig ist (182 ff.). Kritiker dieses Kriteriums dagegen folgen der Logik der Aufklärung und nivellieren das Einzigartige an Jesus, indem sie ihn in die Geschichte des Judentums und des Frühchristentums einebnen.
R. beginnt seine erste Studie mit Celsus und Origenes. Er tut dies nicht ohne Grund, denn er kann zeigen, wie viel von den Prämissen des Celsus in der Aufklärung übernommen wurde. Gegen ihn sage Origenes mit Recht: »Niemals sieht Kelsos die Aussageabsicht unserer Schriften. Was er kritisiert, ist seine eigene Auslegung, nicht unsere Schriften« (C.Cels IV 17). Im Hauptteil der ersten Studie nimmt R. seine Leserinnen und Leser mit auf einen Streifzug durch die neuzeitliche Jesusforschung. Manchmal ist es überraschend, wo er seine Geistesverwandten und wo er seine Gegner findet. Natürlich führt Bultmann den Reigen der Gegner an; aber auch Geza Vermes (93 ff.), John P. Meier (103 ff.) oder Theißen-Merz gehören dazu. Zu R.s Geistesverwandten gehören – nicht überraschend – Marie-Joseph Lagrange (67 ff.), Charles H. Dodd (115 ff.) und Martin Hengel (129 ff.), aber auch – eher überraschend – Martin Dibelius (108 ff.), Graham Stanton (126 ff.) und – sehr überraschend – Milan Machovec (118 ff.). Recht eigentlich der Vater seines Denkens ist John Henry Newmann, dessen »Grammar of Assent« von 1870 R.s Hermeneutik prägt (vgl. die Ausführungen zum »illative sense«, 194 ff.). Natürlich findet er in Papst Benedikt XVI. und seinen Jesusbüchern einen engen Weggefährten. R.s Ge?genkritik von dessen historisch-kritischen Gegnern ist oft scharfsinnig.
Ich verdanke R.s Buch viele kleine Entdeckungen und einige echte Perlen. Dazu gehört z. B. Matthias Claudius als Leser der »Fragmente eines Ungenannten« (41 ff.) oder Mörike in einem Gedicht über den Straußenhandel (56 f.). Dazu gehört auch Henri Irénée Marrous Büchlein über die historische Erkenntnis, des-sen deutsche Übersetzung 1973 erschien, und vieles andere mehr. Als Fazit seines Titelaufsatzes formuliert R.:

»In Wirklichkeit hat die Unfähigkeit einer dreihundertjährigen Jesusforschung, ein überzeugendes Bild eines rein menschlichen Jesus hervorzubringen, das Dogma von Chalcedon eher bestätigt als erschüttert.« (144)

R.s Buch liest sich gut, denn er hat eine spitze Feder. Es tut gut, durch seine Augen auf die eigenen philosophischen Prämissen, die zugleich diejenigen der meisten Jesusforscher diesseits und jenseits des Atlantiks sind, zu blicken und darüber nachzudenken. Ich möchte deshalb die Lektüre gerade jenen, die das normalerweise nicht tun, wärmstens empfehlen. Allerdings muss ich gestehen, dass ich selber R.s Versuch, sich von den Denkvoraussetzungen der Aufklärung durch einen »Salto Vitale« in die kirchliche Tradition zu befreien, nicht folgen kann. Für mich sind die Aufklärung und ihre Folgen für die Frage nach Jesus Denkschicksale, die wir nicht einfach abschütteln können. Vielmehr möchte ich über die durch die Aufklärung gesetzten Denkvoraussetzungen selbstkritisch reflektieren und ihre Grenzen erkennen, um das eigene Nachdenken über Jesus zu vertiefen. Mehr als ein alt-neues Bild des irdischen Jesus, das natürlich nur ganz vorläufig sein kann, kann ich so nicht erreichen. Das ist vielleicht nur ein neues Mäuslein, das der kreißende Berg in die Welt gebiert. Aber es ist mehr als nichts.