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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

57–59

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Spans, Andrea

Titel/Untertitel:

Die Stadtfrau Zion im Zentrum der Welt. Exegese und Theologie von Jes 60–62.

Verlag:

Göttingen: Bonn University Press bei V&R unipress 2015. 386 S. = Bonner Biblische Beiträge, 175. Geb. EUR 55,00. ISBN 978-3-8471-0368-4.

Rezensent:

Christl M. Maier

Die von Ulrich Berges an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn betreute Dissertation von Andrea Spans stellt die Zionsthematik in den Mittelpunkt der Interpretation von Jes 60–62. Die Untersuchung der literarischen Gestalt dieser drei Kapitel und ihrer Bezüge zu Jes 40–55 zielt auf die Funktion dieser Bezugnahmen für das Bild Zions in den Dimensionen von räumlicher und personaler Figuration – im Anschluss an Odil Hannes Stecks Diktum von Gelände und Gestalt –, ohne freilich aktuelle Theorien zum Raum zu bemühen (61). Gleichzeitig versucht sie, ein Textwachstum innerhalb von Jes 60–62 zu plausibilisieren.
Auf eine knappe Einleitung (I) und kurze forschungsgeschichtliche Orientierung (II) folgen detaillierte Auslegungen der drei Kapitel, jeweils getrennt in Exegese (III, V, VII) und diachrone Reflexion (IV, VI, VIII), eine kurze Synthese (IX) und das Literaturverzeichnis (X). Das Fehlen jeglicher Register erschwert den Zugriff auf Einzelergebnisse, was aber durch das ausführliche Inhaltsverzeichnis teilweise ausgeglichen wird.
Alle Exegesen haben denselben Aufbau: Auf eine Hinführung, die Ergebnisse zur Struktur bereits vorwegnimmt, folgt eine strophenweise Analyse, die vierfach gegliedert ist in Übersetzung, synchrone Struktur- und Kohärenzbeobachtungen, Herkunft und Funktion im Zionsbild sowie Resümee. Die im Leseablauf stets nachgelieferte Abgrenzung der kurzen Strophen ist nicht in allen Fällen plausibel begründet, insofern sie gelegentlich gegenläufig zu formalen Merkmalen auf rein inhaltlichen Beobachtungen basiert (vgl. 103 zu Jes 60,10; 231 zu Jes 61,5; 289 f. zu Jes 62,4). Methodisch verbinden die synchronen Untersuchungen Beobachtungen zur Textstruktur und lexikalische Verweise innerhalb der Kapitel 60–62 mit semantischen Analysen zentraler Begriffe und dem Aufweis literarischer Bezugnahmen auf Jes 40–55 und weitere Texte.
Die Einzelergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Jes 60 besteht aus drei Strophenclustern, die ausgehend von der weltweiten Ausstrahlung der Frau Zion als Lichtgestalt (60,1–9) die Stadt als offenes Heilsgelände charakterisieren (60,10 f.13–16; V. 12 ist späterer Nachtrag) und schließlich die innere Verfasstheit ihrer Bevölkerung in den Blick nehmen (60,17–22). In Jes 60 wird Zion durchgängig angeredet, bleibt selbst aber passiv, was S. auf die Betonung der Geländekonzeption zurückführt. Auch Jes 61 ist dreigeteilt und entfaltet eine Binnenperspektive im Sinne einer innenpolitischen Wende in Zion, die sich bereits in 60,17–22 andeutet. Zion tritt hier als Person auf, die über sich selbst Auskunft gibt (61,1–4.10–11) und ihrer trauernden Bevölkerung eine Statuswende ankündigt (61,5–9). Unter Rückgriff auf Beschreibungen des Gottesknechts (Jes 40,1 f.9; 42,1.7) und die göttliche Salbung des Perserkönigs Kyros (Jes 45,1) stellt sich Zion als königliche Heilsmittlerin vor. Sie entwirft das Bild einer Gesellschaftsordnung, die die Fremden als Teil einer sozialen Hierarchie ausweist, an deren Spitze aber ihre Adressaten als Priester Jhwhs stehen. Letztere sind Träger der Abraham zugesagten Bundesverheißungen von Landbesitz und Nachkommen. Jes 62 adressiert Zion abwechselnd als Raum und personale Gestalt, die freilich passiv bleibt und durch Handlungen verschiedener Akteure charakterisiert wird. Zions königliche Stellung verdankt sich allein Jhwh, der ihr einen neuen Namen verleiht und sie als Schmuckkrone in Händen hält (62,1–3), was als Ehebeziehung Gottes zu Stadt und Umland zu deuten ist (62,4–5) und woran die Wächter der Stadt Jhwh stets erinnern sollen (62,6–7). Jhwh bindet sich durch einen Eid, die Stadt an den Erträgen des Landes teilhaben zu lassen und sie somit als Lebensraum zu gestalten (62,8–9), und fordert die Wächter auf, den Weg zur Stadt hin zu bereiten, so dass die »Tochter Zion« am Ende als »Stadt, die nicht verlassen ist« erscheint (62,10–12). Jes 62 bringt den zionstheologischen Diskurs zum Abschluss, indem es die für Jes 60* konstitutive Außenwirkung des Stadtraumes mit der Binnenperspektive der personalen Figuration in Jes 61 verschränkt (366).
In den diachronen Reflexionen argumentiert S. auf einer Metaebene, die bisherige literarkritische Thesen auf deren Vorannahmen und Kriterien hin untersucht und in Auseinandersetzung mit diesen eigene Lösungsvorschläge unterbreitet. Da keine Analyse von Jes 60–62 an Stecks These, die tritojesajanische Sammlung sei Ergebnis einer mehrphasigen Buchfortschreibung, vorübergehen kann, arbeitet sich auch S. an dieser These ab. So referiert sie für größere Textpassagen jeweils Stecks Argumente ausführlich und stellt ihnen die Argumente vorheriger und nachfolgender Studien gegenüber. Dieses Referat verdeutlicht, wie sehr die literarkritischen Entscheidungen von den Leitfragen des jeweiligen Exegeten bzw. der Exegetin abhängig sind. Dies trifft auch auf S.s Analyse selbst zu: Da sie den Fokus auf die Darstellung Zions als Gelände und Gestalt legt, scheidet sie nur Verse als redaktionell aus, die sachlich außerhalb dessen liegen (60,12.17–22). Zwar weist S. in der synchronen Analyse literarische Bezüge zu anderen Texten im Jesajabuch nach. Sie wertet diese aber nur selten diachron aus, so dass sie Stecks These letztlich nicht entkräften kann, sondern lediglich aufweist, wie die sukzessiven Fortschreibungen durch Stichwortverbindungen und Erweiterungen des Zionbildes mit dem Nahkontext verknüpft wurden.
S.s eigene Positionierung im Blick auf Diachronie wird im Buch schrittweise entfaltet. Im Forschungsüberblick arbeitet sie die zwei Pole der bisherigen Forschung prägnant heraus, die Jes 60–62 als schriftgelehrte Prophetie und Fortschreibung der Heilsbotschaft Deuterojesajas (Steck, Lau) oder als Kern der Botschaft eines nachexilisch auftretenden Propheten (Koenen, Sekine, Berges) bestimmen. Demgegenüber reklamiert S. eine Mittelposition, die versucht »diachrone Thesen […] synchron zu plausibilisieren« (195), also die Endgestalt des Textes überzeugend zu interpretieren. Sie plädiert für ein Modell der Textentstehung, »das sich von der literarkritischen Prämisse einer klaren Schichtentrennung löst« (197), »Modell der Diskurstexte« (280) genannt und als relationale Chronologie exemplifiziert wird: Der Ausgangstext Jes 60,1–16 wird durch 61,1–11 erweitert, wobei 60,17–22 als Überleitung dient. Jes 62,1–12 ist literarisch einheitlich und »entweder mit der Anbindung von Jes 61 an Jes 60* […] zeitgleich oder später als diese erfolgt« (371). »Der Deuteschlüssel der Stadtfrau Zion sperrt sich gegen eine rigorose Schichtentrennung und legt innerhalb der Kapitelgruppe einen Diskurs frei, die Bedeutung der Stadt in der Welt zum Thema hat.« (Ebd.)
Da Jes 60–62 bereits vielfach ausgelegt wurde, kann sich eine neue These nur in Nuancen zur bisherigen Forschung artikulieren. S. meistert diese schwierige Aufgabe, indem sie die Entwicklung der Charakterisierung Zions in den Vordergrund rückt. Ihre auf die Stadtfrau Zion fokussierte Textauslegung kann die Einzelaussagen plausibel in ein Gesamtbild integrieren und bietet zahlreiche relevante Textbeobachtungen. Ob ihr Modell der Diskurstexte als Aufweis relationaler Chronologie von Strophenclustern aber einen Fortschritt in der Tritojesaja-Forschung darstellt, wird die weitere Diskussion zeigen müssen.