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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

48–51

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Carr, David M.

Titel/Untertitel:

Holy Resilience. The Bible’s Traumatic Origins.

Verlag:

New Haven u. a.: Yale University Press 2014. XII, 322 S. m. 5 Abb. Lw. US$ 32,50. ISBN 978-0-30020456-8.

Rezensent:

Beate Ego

Durch den Bedeutungszuwachs der Kulturwissenschaften für die Exegese und im Gefolge neuerer literaturwissenschaftlicher Paradigmen spielt das Verständnis biblischer Texte als Trauma-Literatur in den letzten Jahren in der alttestamentlichen Wissenschaft (aber auch in der Paulusforschung) eine zunehmende Rolle. In diesen Rahmen gehört auch die hier vorliegende Monographie des renommierten New Yorker Alttestamentlers David Carr, der sich bislang vor allem durch Studien zur Pentateuchkritik, zur Schriftwerdung und Erinnerungskultur sowie durch literaturgeschichtliche Überblicke zum Alten Testament profiliert hat. Während die bisherigen Arbeiten, die sich dem Paradigma der Trauma-Literatur verpflichtet sehen, sich in der Regel auf einen ausgewählten Be?reich der biblischen Überlieferung beziehen, legt C. hier einen umfassenden Entwurf vor, der die gesamte Geschichte Israels ab der Königszeit bis hin in die Epoche des antiken Judentums nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n. Chr. und die Zeit des frühen Christentums als eine Abfolge verschiedener kollektiver traumatischer Erfahrungen begreift, die ihren Niederschlag in den einzelnen Schriften der biblischen Überlieferung bzw. in unterschiedlichen historischen Entwicklungen gefunden haben. Die Literaturwerdung sowie geschichtliche Prozesse im weitesten Sinne werden so als eine Reaktion, aber auch als Versuch der Bewältigung traumatischer Erfahrungen verstanden:
»Both Judaism and Christianity offer visions of religious life that emphasize religious community, whether the people of Israel or the church. More?over, the Jewish and Christian scriptures define these communities in ways that have helped these communities endure catastrophe, rather than be devastated by it. Perhaps most important, the scriptures of Judaism and Chris?tianity, written in part as a response to communal suffering, present suffering as a part of a broader story of redemption. In complicated ways, each tradition depicts catastrophe as a path forward.« (2 f.)
Dieser Zugriff wiederum erlaubt es auch, die biblischen Texte in ihrer aktuellen Relevanz zu verorten, da sie vor diesem Hintergrund über die Zeiten hinweg zu all denen sprechen können, die selbst Opfer von Gewalt und Trauma geworden sind. Die biblischen Texte sind keine Texte, die den Triumph und den Sieg in den Mittelpunkt stellen, sondern sie erzählen vom Leiden Gottes und vom Überleben in der Katastrophe. Diese Zusammenhänge bilden die Hintergründe für die Identitätsbildung des frühen Judentums und Christentums und können erklären, warum die biblischen Traditionen – im Gegensatz zu den vielen anderen altorientalischen und antiken Texten – die Zeiten in einem lebendigen Traditionsfluss überdauert haben.
Die hier vorliegende Darstellung basiert auf dem literaturgeschichtlichen Entwurf, den C. bereits in früheren Arbeiten entwickelt hat, und verbindet diesen mit der Perspektive, die Texte in Bezug auf erfahrene Traumata zu lesen. Die Anfänge des biblischen Schrifttums gehen in die Zeit vor der assyrischen Eroberung zurück (vor allem Literatur aus imperialen Kontexten, manche der Königspsalmen, ältere Texte aus Genesis, Exodus und Numeri sowie Überlieferungen des Hohenliedes) und können als »pretrauma scriptures« klassifiziert werden (Chapter One: Israel, Judah, and the Birth of Scripture, 11–23). Als Reaktion auf die assyrische Eroberung des Nordreichs, die nach C. die erste kollektive traumatische Erfahrung Israels darstellt, ist die Verkündigung des Propheten Hosea zu sehen, der seinem Volk sowohl Gottes Leiden an der erfahrenen Katastrophe vor Augen führt, aber mit dem Hinweis auf den Abfall zu anderen Göttern auch deren eigentlichen Grund nennt. Damit gelingt es dem Propheten Hosea, die Macht der Assyrer, die ja vordergründig für die politische Niederlage Israels verantwortlich zu sein scheint, zu hinterfragen und zu relativieren, denn »in Hosea’s prophecy it was Yahweh and only Yahweh who terrorized Israel. But this also meant that Israel could change its behaviour and regain control over its situation. In this way, Hosea offered a way of self-empowerment to his traumatized people« (33). Entscheidend für diese Denkfigur war es aber auch, dass nun die Schuld des Volkes nicht mehr, wie traditionell angenommen, darin bestand, nicht einer Vielzahl von Göttern des Pantheons die ihnen zustehende Verehrung gezollt zu haben, sondern dass jetzt der Fokus auf der entscheidenden Bedeutung der Verehrung des einen Gottes lag (40): »›Are you suffering beyond what you think you can bear?‹ the monotheistic faiths asked traumatized individuals and groups. ›Repent of your idolatry and be free‹.« (Chapter Two: The Birth of Monotheimus, 24–40)
Weitere Etappen der Geschichte Israel, die mit traumatischen Erfahrungen verbunden sind, werden in den folgenden Kapiteln genannt: Sanheribs Belagerung Jerusalems sowie die Kultreform Josias, die als Abkehr von einem kosmotheistischen Denken und damit als Trennung von nahen, übermächtigen göttlichen Kräften in der Natur verstanden wird (Chapter Three: Judah’s Survival, 41–66), die Zerstörung Jerusalems und das Babylonische Exil (Chapter Four, 67–90), die hellenistische Krise (Chapter Eight: Traumatic Crystallization of Scripture, 141–155), die Kreuzigung und der Tod Jesu von Nazareth (Christianity’s Founding Trauma, 156–173), die Bekehrung des Paulus als einer traumaanalogen Erfahrung und die Leiden des Apostels bei der Verbreitung des Evangeliums (Chapter Ten: The Traumatized Apostle, 174–194) sowie die Zerstörung des Jerusalemer Tempels (Chapter Eleven: The Traumatic Origins of Judaism and Christianity, 195–224). Sowohl historische Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen im weitesten Sinne als auch theologische Vorstellungen, die wiederum ihren Niederschlag in der biblischen Literatur finden, können als Reaktion auf diese traumatischen Erfahrungen verstanden werden. Neben dem »empow-erment« durch die Einsicht der eigenen Schuld zeigt sich im Zu?sammenhang mit der Eroberung durch Sanherib das Gefühl, zu einer Gruppe von Überlebenden zu gehören (cf. Jes 1,9; 51); die kosmotheistische Weltsicht bleibt über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende hinweg weiterhin eine Versuchung (56). Schließlich wird auch das Deuteronomium und seine Bundestheologie als Antwort auf die assyrische Traumatisierung gedeutet, welche die Identität Judas neu gestaltete (61–65). Vielfältig sind die Reaktionen auf die Katastrophe der Tempelzerstörung und des Exils: Stimmen des Schmerzes, der Selbstanklage und der Frage nach dem »Warum« werden in den Klageliedern und in Ps 89 geäußert (70–73); die Auseinandersetzung mit den eigenen Verfehlungen und dem Exil als göttlicher Strafe spielen auch in der Verkündigung Ezechiels eine wichtige Rolle (76 f.), während die Figur der Tochter Zion in der Überlieferung des Jeremiabuches den Traumatisierten ihre Stimme gibt: »Insofar as women were more vulnerable to trauma in the ancient world (as in the contemporary one), the feminine gender of the Daughter Zion image made that image a particularly powerfull expression of the suffering, dissociated ›self‹ of the Babylonian exiles« (80). Die Unfähigkeit Ezechiels zu trauern wird zum Zeichen einer Art psychischen Betäubung (»psychic numbing«) des Kollektivs (78). Die Figur des Gottesknechtes wird als Verkörperung ihres Leidens sowie auch ihrer Restaurationshoffnungen verstanden (85–90). Interessant ist die Erkenntnis, dass sich die Traumaerfahrung des Exils auch in einer gewissen Sprachlosigkeit zeigen kann, da es in der biblischen Überlieferung eigentlich so gut wie keine Erzählungen gibt, die im Exil spielen (74 f.).
In der Exilszeit werden auch ältere Traditionen überarbeitet, so die Abrahamüberlieferung. Das Motiv des Segens stellt einen eindeutigen Gegenpol zu dem Gefühl, unter dem Fluch zu stehen, dar, wohingegen in der Erzählung von der Bindung Isaaks mit dem Motiv der Opferung des Sohnes die Angst der Exilierten um ihre Zukunft zum Ausdruck kommt (Chapter Five: Abraham and the Exile, 91–109).
Als eine Erzählung von der Bedrohung und Befreiung des Volkes spricht die Geschichte von Mose zu den Exilierten, wobei der Feier des Passah eine ganz besondere Rolle zukommt, da hier die Ereignisse in der Erinnerung einer ständigen Wiederholung unterworfen sind. Dies wiederum steht in Bezug zu dem Verhalten von Überlebenden, die sich immer wieder aufs Neue die Frage nach dem Grund ihres Überlebens stellen (119). Aus der Vielzahl der Bewältigungsstrategien, die C. präsentiert, seien hier – um den vorliegenden Rahmen nicht zu sprengen – nur noch zwei weitere Beispiele herausgegriffen. So konnte dem Trauma der Jesusanhänger über das Leiden und den Tod durch eine Relektüre älterer Traditionen wie denen vom »Leidenden Gottesknecht« oder vom Exodus begegnet werden: »Their rereading of texts about Moses and the suffering servant allowed them to see Jesus’ death as empowering them« (169). Das rabbinische Judentum wiederum reagierte auf das Trauma der Tempelzerstörung, indem es dieser chaotischen Erfahrung mit der Bedeutung der Tora einen Fixpunkt gegenüberstellte (205).
Es folgen Epilog (244–252), Ausblick auf aktuelle Traumastudien (253–270) sowie Anmerkungs?apparat (271–302), Auswahlbibliographie (303–307; für eine ausführliche Bibliographie s. http://dx.doi. org/10.7916/D8H41PJW), Danksagungen (307–309) sowie ein Sach- und Namenregister (311–322).
Kritische Stimmen mögen einwenden, dass die hier genannten traumatischen Erfahrungen detaillierter klassifiziert werden sollten und zudem auch eine differenziertere Darstellung der Bewäl-tigungsstrategien wünschenswert gewesen wäre, die auch deutlicher auf die psychologischen Grundlagen dieses Ansatzes rekurriert. Diese Schwäche des Werkes ist letztlich aber der Preis für seine Stärke, die darin besteht, eine beeindruckende und stringente Ge?samtschau der Geschichte Israels und des antiken Judentums zu bieten, die auch durch ihre existentielle Dimension besticht. Hier wird eine wichtige Grundlage für weitere, konstruktive Forschungen gelegt, deren Aufgabe es nun ist, sowohl die Art des erfahrenen Traumas als auch die spezifischen Charakteristika von Trauma-Literatur sowie die textpragmatische Dimension dieser Überlieferungen noch deutlicher und profilierter herauszuarbeiten. Man möchte dem Buch auf jeden Fall viele Leser und Leserinnen und auch einen nachhaltigen Einfluss auf die deutsche exegetische Forschungslandschaft wünschen.