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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

3–18

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Martin Hein

Titel/Untertitel:

Umstrittene Reformation

Anmerkungen zum Ertrag der »Lutherdekade« und zum anstehenden Reformationsjubiläum



I Das Ende der Selbstverständlichkeiten

»Umstrittene Reformation«1: Gegen Ende der so genannten »Lutherdekade« und an der Schwelle zum Jahr des Reformationsjubiläums ist keineswegs selbstverständlich, was gemeint ist, wenn wir von »Reformation« sprechen. Die Einheit des »Reformationsnarrativs« ist zerbrochen, oder besser gesagt: Es ist zu sehen, dass sie schon länger zerbrochen war. Das mag eine triviale Erkenntnis sein; banal ist sie indes nicht. Denn wie sich in den vergangenen zehn Jahren zeigte, haben sich inzwischen neue Linien der Interpretation, neue Koalitionen des Einverständnisses und der Divergenz gebildet – oft sehr überraschende. An manchen Stellen ist die ökumenische Annäherung in der Deutung der »Reformation« stärker als der innerprotestantische Konsens; und in der wissenschaftlichen Forschung laufen die Diskurse längst nicht mehr an den gewohnten konfessionellen, fachlichen oder weltanschaulichen Demarkationslinien entlang. Mit einem Wort: Die Lage ist selbst für Kenner unübersichtlich geworden.2

Vor allem im Blick auf die vergangenen Reformationsjubiläen zeigt sich dieses Zerbrechen der großen Erzählung.3 Bis zu den Jahren 1917 bzw. 1930, ja selbst noch 1983 herrschte im deutschen Protestantismus Konsens darüber, dass »die« Reformation ein Ereignis von größter gesellschaftlicher Relevanz sei. Es ging um Selbstvergewisserung, Identitätswahrung und Selbstbehauptung, und zwar vor allem im Gegenüber zum Katholizismus. Rückblickend erscheint das als – gelegentlich hoch problematische – Instrumentalisierung.

Wir haben als evangelische Kirchen nicht mehr die Deutungshoheit über unsere eigene Geschichte! Darum ist die Einsicht, dass die Reformation kontrovers beurteilt wird, eine wesentliche Einsicht. Sie mahnt zu Zurückhaltung, Genauigkeit und Sorgfalt. Denn für evangelische Kirchenleitungen ist das Reformationsgeschehen nun einmal maßgeblicher Horizont ihrer Entscheidungen. Sie können darauf aber nicht mehr naiv und unbefangen zurückgreifen. Die Debatte um die Reformation zeigt: Evange-lische Kirchen sind nicht nur in Bezug auf die Heilige Schrift eine Auslegungsgemeinschaft. Sie sind es auch in Bezug auf die eigene Geschichte.

Kirchenleitungen können sich dem nicht nur nicht entziehen, sondern stehen vor der Notwendigkeit, reformatorisch begründete Entscheidungen zu treffen. Elementarisierung ohne Simplifizierung ist aus kirchenleitender Sicht die vielleicht größte Herausforderung sowohl in der internen wie in der öffentlichen Kommunikation zur »Lutherdekade«.

Die Debatte um die Reformation findet augenscheinlich auf verschiedenen Ebenen statt: in der wissenschaftlichen (und nicht nur theologischen!), der öffentlichen (vor allem in den Medien), der ökumenischen und der innerevangelischen Diskussion (in den verschiedenen Gremien von den Synoden bis zu den Kirchengemeinden). Dabei ist zu beachten, dass die »Lutherdekade« parallel zu zahlreichen »Reformprozessen« in den Landeskirchen, in der Evangelischen Kirche in Deutschland und auch in der weltweiten Ökumene verläuft. Sie trifft auf ein Klima der Verunsicherung und der Neuorientierung, und die Erwartung ist durchaus spürbar, das Reformationsjubiläum könnte hier zur Klärung beitragen. Das aber lässt die Frage virulent werden, ob sich überhaupt Entscheidungen für die Zukunft aus Entscheidungen der Vergangenheit legitimieren lassen!4 Der Horizont hat sich verändert. Die Zeiten von Selbstverständlichkeiten aller Art sind definitiv vorbei.

II Die neue Situation


1. Die veränderte Forschungslage


Wer auf die Reformations- und Lutherforschung der vergangenen fünfzig Jahre schaut, gerät in eine komplexe Situation, die sich vor allem der Ausdifferenzierung der historischen Methodik verdankt. An die Stelle der traditionellen Ereignis-, Ideen- und Personengeschichte ist eine Vielzahl von Fragestellungen getreten, die neue Perspektiven eröffneten. Methoden der Sozialforschung, der Regional- und Alltagsgeschichte, der Medien- und Publikationsforschung bis hin zu empirischen Methoden der Datierung und der Materialforschung (etwa bezogen auf Papier, Tinte, Drucktechnik etc.), Aspekte aus der Wissenschaftsgeschichte zum mittelalterlichen Lehrbetrieb, vertiefende Forschungen zur Religionspsychologie und Religionswissenschaft, zur Rezeptionsgeschichte und nicht zuletzt dezidiert positionelle Ansätze wie der Feminismus oder die Genderforschung haben eine Gemengelage geschaffen, die selbst Spezialisten in letzter Tiefe und Konsequenz kaum vor Augen steht.5

Es ist offensichtlich, dass die herkömmliche Unterscheidung von Profan- und Kirchengeschichte überholt ist, ja dass die Kirchengeschichtsforschung im engeren Sinne – und allemal die konfessionelle – geradezu unter dem Verdacht der Voreingenommenheit steht.6 Jedoch zeichnet sich unter dem Druck der sich zunehmend spezialisierenden Forschungsansätze eine Annäherung ab, weil sich zeigt, dass interdisziplinär abgesicherte Methoden allzu enge Perspektiven verhindern. Wer heute als Historiker und Historikerin gehört werden will, muss sich der Positionalität der eigenen Forschung bewusst sein und darüber kritisch Auskunft geben.7

Die allgemeine Geschichtsschreibung hat die Reformation als Thema entdeckt.8 Hier steht vor allem die Frage der Formierung der Neuzeit und des Anteils der Reformation daran im Fokus,9 prominent verbunden mit dem Namen des Historikers Heinz Schilling.10 Er arbeitet ausdrücklich die Rezeptionsgeschichte mit ein, und aus diesem Blickwinkel stellt sich die Frage nach der »Einheit der Reformation« besonders scharf.11 Es ist bezeichnend, dass gerade seiner Lutherbiographie eine ausgesprochen große öffentliche Aufmerksamkeit zukommt.12

Zunehmend tritt inzwischen die europäische und globale Perspektive in den Vordergrund.13 Die Reformation war kein ausschließlich nationales und auch kein rein binnenkirchliches oder religiöses Ereignis. Diese grundlegende Einsicht darf man wohl inzwischen als gesicherte Erkenntnis bezeichnen.14

Und schließlich: Auch die evangelischen Freikirchen haben Luther und die Reformation für sich entdeckt und beteiligen sich zunehmend am wissenschaftlichen Diskurs!15 Schon die Lutherbiographie von Roland Bainton16 rüttelte aus einer »täuferischen« Perspektive an festgefahrenen Lutherbildern. Die Schwächung der »Großkirchen« und die Stärkung der Freikirchen vor allem im angelsächsischen Bereich hat die Deutungshoheit der »offiziellen« Kirchengeschichtsschreibung stärker ins Wanken gebracht und vor allem die Person Luthers und ihre Wirkungsgeschichte gerade im Verhältnis zur »täuferischen« Tradition in ein neues Licht gerückt.17

In Summa: Alle Ergebnisse haben dezidiert den Charakter von Diskussionsbeiträgen. Darstellung und Deutung gehen Hand in Hand. Reformationsgeschichtsschreibung kann eben nicht mehr einfach als »Große Erzählung« auftreten, und noch weniger kann sie sich auf die Person Luthers allein konzentrieren.18 Antiquarische und monumentalische Geschichtsschreibung verbietet sich.

Als letzter Faktor veränderter Voraussetzungen sei erwähnt, dass die Plausibilität und scheinbare Fraglosigkeit überkommener theologischer Topoi evangelischer Provenienz abgenommen ha?ben. Das ist zum einen eine Folge des ökumenischen Gesprächs, dass viele Theologumena wie etwa das der »Rechtfertigung allein aus Glauben« als Kern reformatorischer Erkenntnis verflüssigte.19 Doch auch im Diskurs mit den anderen Wissenschaften können sie nicht mehr einfach vorausgesetzt werden, weil sie offensichtlich zu einem theologischen Spezialwissen geworden sind, das einer religiösen Sphäre zugerechnet wird und sich in seiner Verwendung außerhalb dieser Sphäre zunächst plausibilisieren und explizieren muss.20

Insgesamt gesehen sind viele Kooperationen entstanden, die sich in forschungsübergreifenden Projekten niederschlagen.21 Die einfachen Antworten verbieten sich somit. Wer sich heute auch in der Öffentlichkeit jenseits der Scientific Community kompetent zur Reformation äußern will, muss diese Komplexität aushalten und sie bewusst kommunizieren. Daraus aber ergibt sich ein Vermittlungsproblem, denn Komplexität ist zur Identitätsbildung für Gruppen nur wenig geeignet.

2. Die ökumenische Diskussion


Es steht außer Frage: Das ökumenische Gespräch hat in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gezeigt, besonders durch das II. Vatikanische Konzil, das nicht nur – aus protestantischer Perspektive – Anliegen der »Reformation« aufnahm,22 sondern seinerseits im Protestantismus zu einer erneuten und veränderten Wahrnehmung von »Katholizität« führte. Zugleich sind die konfessionellen Differenzen vielen Menschen nicht mehr nachvollziehbar; sie be?gegnen ihnen zumeist vornehmlich in Form von Einschränkungen. Das Zeitalter der Konfessionalität als primäres Identitätsmus?ter ist vorbei!

Das wirkt auf den Umgang mit der »Reformation« zurück. Die Geschichte der Konfessionalität wird zunehmend als eine Verletzungsgeschichte wahrgenommen, und zwar von beiden Seiten. Es wächst die Sensibilität dafür, dass einfache »Täter-Opfer«-Duale wenig hilfreich sind. Ein rein kontroverstheologischer Umgang mit dem Thema »Reformation« ist daher obsolet, weil er seine eigene Wirkungsgeschichte nicht bedenkt. Der Fokus richtet sich folglich viel stärker auf die Identifizierung von Gemeinsamem, von dem her das Unterscheidende und dann erst das Trennende thematisiert werden können. Das spiegelt sich beispielsweise in der gegenwärtigen Diskussion bei der Frage nach »Bruch« oder »Kontinuität«, in der Bewertung Martin Luthers als »Reformkatholik« von katholischer Seite oder als »Belastungsfaktor« von evangelischer Seite her.

So zeigt sich inzwischen eine völlig neue Gesprächslage, die sich auch in entsprechenden Veranstaltungen des Reformationsjahres niederschlägt. Genannt sei etwa das Projekt ökumenischer Gottesdienste unter dem Leitgedanken »Healing of Memories«23, dessen prominentester Gottesdienst von den Spitzen sowohl der EKD als auch der Deutschen Bischofskonferenz am 11. März 2017 im Hildesheimer Dom gefeiert werden wird. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die interreligiöse Perspektive hinzunimmt. Dass die Reformation in vielfacher – positiver wie negativer – Hinsicht für das Gespräch mit dem Judentum ein Schlüsselereignis darstellt, bedarf keiner Erläuterung. Hier steht das »Healing of Memories« unter den veränderten Perspektiven noch sehr am Anfang.24

Doch auch das Gespräch mit dem Islam braucht eine reforma-tionsgeschichtliche Rückkoppelung: Denn es geht zum einen um die hermeneutische Frage des Umgangs mit der bzw. einer »Heiligen Schrift«, zum anderen um die immer wieder zu hörende Anmutung, der Islam bedürfe einer Reformation und einer Aufklärung.25 Diese Formulierung setzt voraus, dass beide Begriffe geklärt seien!26 Das ist aber angesichts der herrschenden Diskussion keineswegs der Fall!

3. Verschärfte Fragestellung


Die drei Fragen, die vordringlich eindeutig beantwortet werden müssen, soll das Reformationsjubiläum nicht Ratlosigkeit hinterlassen, lauten sehr schlicht: Was feiern wir? Wer feiert? Wie feiern wir?

Die Frage, was es im Jahr 2017 eigentlich zu feiern gebe, ist auf mehreren Ebenen brisant.27 Elementar bezieht sie sich auf den Anlass: Sollte es den »Thesenanschlag« nicht gegeben haben, dann gerät der Termin »31. Oktober 2017« zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung in eine Krise.28 Denn kollektive historische Erinnerung braucht solche fixen Daten und klar erkennbare »tatsächliche« Ereignisse für die Identitätsbildung und die Elementarisierung der Kommunikation.29

Das aber ist nur ein Element der Frage, was eigentlich gefeiert wird. Auf ökumenischer Ebene wurde die unterschiedliche Einschätzung der Reformation schlaglichtartig sichtbar in der vergleichsweise scharfen Reaktion katholischer Theologen auf den Grundlagentext der Evangelischen Kirche in Deutschland »Reformation und Freiheit«. Das zeigt, wie groß die Empfindlichkeiten zumindest waren30 – bis hin zur römisch-katholischen Semantik, die von »Reformationsgedenken« spricht.

Lenkt man das Interesse auf den Ertrag der Reformation, taucht das Argument auf, die Reformation habe einen wesentlichen Beitrag zur Formierung der Moderne geleistet. Aber auch dieser Hinweis hat sich als nicht so stabil erwiesen, wie es scheinen mag.31

Die Reformation stellt sich als eine Bewegung dar, die Kirche, Theologie, Frömmigkeit und Leben in einem neuen Licht erfahren ließ. Sie traf damit ganz offensichtlich den Nerv der Zeit. Führt man sich vor Augen, dass die 95 Thesen zunächst ein akademischer Debattenbeitrag zu einem Thema sein sollten, das ohnehin schon kontrovers diskutiert wurde, ist es verwunderlich, dass sie einen solch starken publizistischen Erfolg hatten. Insofern stellt sich die Reformation keineswegs als reiner Bruch dar. Sie verstärkte, was in der Luft lag – und zwar nicht nur binnenkirchlich, sondern auch auf der Ebene der Politik. Nur so ist verständlich, dass die Reformation eine Volksbewegung und eine Fürstenbewegung zugleich wurde.

Doch auch wenn die Voraussetzungen der Reformation in akademischen und humanistischen Zirkeln, in politischen Debatten und Frömmigkeitsbewegungen zu sehen sind, die ihre jeweils eigenen Akteure hatten: Der initiale Impuls kam durch Martin Luther, der diese Zeitströmungen so aufnahm und verarbeitete, dass sie ihn aus seiner eigenen Frömmigkeitskrise führten. Er hatte als Mönch und Hochschullehrer die entscheidende Einsicht, welche Rolle Jesus Christus und die Heilige Schrift für den Glauben besitzen und welche Rolle der Glaube für das Leben spielt. Aber dieser Bruch fand statt, weil Luther von einer tiefen Liebe zur Kirche durchdrungen war.32 Der von Berndt Hamm geprägte Begriff der »normativen Zentrierung«33 und der aus der Systemtheorie stammende Begriff der »Emergenz«34 zur Kennzeichnung dieser radikalen Veränderung erscheinen mir als besonders einleuchtend und hilfreich, zumal Hamm das damit Gemeinte in einem Merkmalkatalog »reformatorischer Kennzeichen« entfaltet, der weitaus differenzierter ist als die später von der Tradition festgehaltenen particula exclusiva.35

Der wesentliche inhaltliche Ertrag der »Lutherdekade« ist daher die Einsicht, dass wir mit der Reformation – symbolisch festgemacht am 31. Oktober 1517 – die Wiederfreilegung der Bedeutung der Heiligen Schrift und der in ihr durch Jesus Christus offenbarten voraussetzungslosen Gnade Gottes feiern. Das eröffnet auch die Möglichkeit, sich daran zu erinnern, dass in der folgenden Ge?schichte der Konfessionskirchen diese Einsicht immer wieder be?droht war. So kommt »Reformation« nicht nur als ein initiales Ereignis der Vergangenheit in den Blick, sondern wird zu einem Impuls,36 der zu Selbstkritik, ständiger Vergewisserung und Neuorientierung führt.37 Darüber zeichnet sich inzwischen ein ökumenischer Konsens ab, der viele gemeinsame Handlungsmöglichkeiten öffnet.

Entsprechend ist auch die Frage zu beantworten: Wer feiert? Es entspricht evangelischer Einsicht, dass die konkreten Kirchen sub specie aeternitatis vorläufig sind und gerade in ihrer Pluralität, in der Auseinandersetzung um das Verständnis der Heiligen Schrift die Gesamtheit des Zeugnisses ausmachen.38 Es kann als Einsicht der reformatorischen Bewegung gelten, dass keine Kirche für sich exklusiv einen Wahrheitsanspruch im Sinn eines Konglomerats wahrer Sätze behaupten kann. So betrachtet ist die Reformation ein gesamtchristliches Ereignis!

Zweifelsohne ist und war der christliche Glaube ein wesentlicher Bestandteil unserer europäischen und der europäisch geprägten globalen Kultur. Das berechtigt, danach zu fragen, was die Reformation in der Dialektik von Fortschritt und Beharrung (und gelegentlichen Rückschritten) zur Dynamik der Moderne und ihrem Freiheits- und Individualitätsbegriff beigetragen hat und weiterhin beiträgt. Dass sich die evangelischen Kirchen in besonderer Weise diesem Prozess verdanken, muss nicht ausgrenzend verstanden werden und ist kein Anlass zum Triumphalismus vergangener Reformationsjubiläen. Evangelische Kirchen sind nicht exklusiv Kirchen der Reformation. Auch andere Kirchen können durch den reformatorischen Impuls ihren eigenen Weg in die und mit der Moderne finden. In diesem Sinn aber ist das Zeitalter der Konfessionalität – wie beschrieben – tatsächlich abgeschlossen.

Mit der Proklamation einer »Lutherdekade« war zudem die Hoffnung verbunden, in einem Prozess öffentlicher Auseinandersetzung auch andere gesellschaftliche Akteure anzusprechen. Im Rückblick stellt sich in dieser Hinsicht die Dekade als Erfolg dar. Die Diskussion hat stattgefunden. Die mediale Aufmerksamkeit ist weiterhin hoch. Zugleich ermöglichte es die »Lutherdekade« auch anderen Akteuren, sich zu positionieren: Das Interesse seitens der Politik an diesem Ereignis war von Anfang an stark. Allerdings musste zunächst ein Verständigungsprozess stattfinden, der neue Foren der Begegnung freisetzte und beispielsweise dazu führte, dass sich ein Bundesfinanzminister in einem theologisch-wissenschaftlichen Publikationsorgan zu Wort meldete39 oder politische Institutionen Tagungen und Kongresse veranstalteten – bis hin zu Diskussionen im Bundestag!40

Nicht übersehen werden sollte, dass das Reformationsjubiläum ein touristisches Ereignis darstellt, das eine Fülle von Ideen freisetzt, von denen manche vielleicht eher Events hart am Rande des guten Geschmacks sein mögen,41 viele aber dazu führen, sich auf regionaler Ebene der reformatorischen Herkunft oder der Berührung mit der Reformation bewusst zu werden: sei es in Gestalt der »Lutherwege«42, seien es Feste im Zusammenhang mit reformatorischen Ereignissen. Gefeiert wird, wie man eben feiert: vom Staatsakt bis zum Grillfest – aber immer verbunden mit der zentralen Feier des Christentums: dem Gottesdienst.43

Und schließlich das »Wie«: feiern oder gedenken? Diese Frage steht weiterhin im Raum, doch die Alternative erscheint inzwischen als eine falsche Zuspitzung. Die Tatsache, dass die Reformation umstritten ist, weil sie sich als vielgestaltig und mehrgesichtig, als »Segen« oder »Katastrophe«44 darstellt, sollte dazu veranlassen, beides zu tun. Gerade der Gottesdienst ist ja seinem Wesen nach immer Feiern und Gedenken! Ökumenische Gottesdienste unter dem Vorzeichen »Healing of Memories« bieten sich dafür an. Wie aber auf keinen Fall gefeiert werden sollte: selbstbezogen und triumphal.

Gerade dass die Reformation umstritten ist, stellt sich – paradoxerweise – als Erkenntnisfortschritt dar: Niemand kann sie allein für sich vereinnahmen, aber alle können sich darin wiederfinden, weil sie als historisches Ereignis von epochaler Tragweite bis heute Relevanz hat und ihr Impuls weiterwirkt.

III Was gesagt werden kann


Dass eine Sichtung des Ertrags der »Lutherdekade« hier nicht enden kann, ist offenkundig. Denn die Frage drängt sich geradezu auf: Welche Folgen hat dieser Ertrag? Was kann angesichts der »um?strittenen Reformation« als konsensfähige Erkenntnis gelten, die ökumenisch tragfähig und gesellschaftlich relevant, die zu?gleich ausgewogen wie »selbstbewusst«45 ist?

1. Jesus Christus


Die Reformation verdankte ihre Dynamik und ihre große Wirkung vor allem der Freilegung des Evangeliums von Jesus Christus. Sie war für alle Beteiligten mehr als eine Kirchenreform; sie war eine Wiederentdeckung. Zur »Reform« wurde sie erst, als sie zu scheitern drohte, weil sich die römische Kirche und das Reich dagegenstellten und sie in die Mühlen spätmittelalterlicher Politik geriet.46 Die entscheidende Erkenntnis hatte Luther durch das Studium der Heiligen Schrift gewonnen: In Jesus Christus bietet uns Gott Versöhnung und Gnade an und befreit unsere Gewissen, wenn wir uns ihm glaubend anvertrauen.

Die Konzentration auf den gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus erlaubt es, das, was Luther mit der Rechtfertigungsbotschaft gemeint hatte, zu reformulieren – wie es der Grundlagentext »Rechtfertigung und Freiheit«47 zumindest versucht hat. Gerade »moderne« Menschen unterliegen permanenten Optimierungs- und Rechtfertigungsansprüchen. Es gilt, theologisch die Instanzen zu identifizieren, vor denen das stattfindet, und sie in ihrer letztlich gottlosen Dynamik offenzulegen. Das ist für eine Gesellschaft, die sich als Leistungsgesellschaft zunehmend selbst überfordert und durch die Globalisierung immer abstrakter wird, die bleibende Botschaft des christlichen Glaubens. Die sich ab?zeichnende ökumenische Verständigung, das Reformationsjubiläum als ein »Christusfest«48 zu begreifen und zu feiern, erscheint daher angemessen.49 Aber es geht um mehr.

2. Die Heilige Schrift


Jesus Christus begegnet uns in der Verkündigung der Kirche, die ihrerseits auf der Heiligen Schrift beruht, die wiederum in dem gesprochenen Wort gründet. Es gibt eine wachsende ökumenische Übereinstimmung darin, auch die Tradition als Auslegungsgeschichte zu verstehen. Das relativiert die im Grunde theologisch unhaltbare Trennung zwischen Schrift und Tradition und setzt sie in ein spannungsvolles Verhältnis, dessen gesellschaftlicher Ertrag darin besteht, dass es eine offene Diskussion um das Verständnis der Heiligen Schrift gibt, die seit der Reformation allen zugänglich ist. Die Reformation war vor allem ein hermeneutisches Ereignis.50 Luthers lebenslange Bemühung um seine Übersetzung ist vielleicht seine entscheidende Leistung und aufs Ganze gesehen die wirkmächtigste. Kirche ist eine Auslegungsgemeinschaft, die sich ihrer selbst stets an der Bibel vergewissern muss.51 Wenn es einen Zusammenhang gibt, in dem Martin Luther als Person »gefeiert« werden kann, dann hier!

3. Gewissen und Freiheit


Auch wenn der Anteil der Reformation an der Formierung der »Moderne« oder der »Neuzeit« umstritten ist: Sie stellte das individuelle, am Wort Gottes sensibilisierte Gewissen als ethische Instanz in den Mittelpunkt. Der daraus resultierende Begriff der »Freiheit« gehört zum Kernbestand des Reformatorischen.52 Sie war eine Emanzipationsbewegung, die sich nicht nur als Protestbewegung etablierte, sondern auch neue Formen von Gemeinwesen schuf oder deren Entstehung beförderte. Dass der Begriff der Freiheit in seiner konkreten Füllung jeweils neu gefasst werden muss, ist gerade kein Manko, sondern selbst Ausdruck evangelischer Freiheit. Das ist vor allem für den Bereich der Politik und der Ethik mit ihren hochkomplexen Problemlagen eine Botschaft, die nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat. »Freiheit von« meint immer auch »Freiheit für« und »Freiheit zu«. Die Grenze der Freiheit ist die Freiheit des Nächsten, und sie ist immer zuerst geschenkte Freiheit. Diese elementare Einsicht ist eine Grundlage der freiheitlichen Gesellschaft. Sie ist keine exklusive Frucht der Reformation, aber sie gewann durch sie an Bedeutung und Wirkungsbreite.

4. Alte Kirche in neuer Gestalt


Das Ziel der Reformation war nie eine Kirchenspaltung oder die Gründung einer neuen Kirche.53 Die Reformation war vielmehr in jenem wohlverstandenen Sinn eine Rückwärtsbewegung, als sie an das allen gemeinsame »Alte« anknüpfte, das ihr vor allem in der Heiligen Schrift und den altkirchlichen Symbolen begegnete. Nicht nur aus Luthers Sicht war das »Neue« gerade das, was das Evangelium verstellt und sogar in sein Gegenteil verkehrt hatte. So galt es von Anfang an, ein Verständnis von Kirche zu finden, das es erlaubte, sowohl ein hinreichendes Minimum zu formulieren als auch eine konkrete Gestalt daraus abzuleiten, ohne dass diese konkrete Gestalt selbst sakrosankt wäre. Nur dann konnte gewährleis?tet bleiben, dass die gestalterische Kraft des Evangeliums sich jeweils diejenige Gestalt von Kirche suchen kann, die es braucht, um verkündigt und gehört zu werden, ohne in einer bestimmten Gestalt zu erstarren.54

Es bleibt daher festzuhalten: Die konkrete Gestalt einer Kirche ist indifferent gegenüber dem Verkündigungsauftrag, solange sie ihm nicht entgegensteht – in der Sprache der Reformation: Sie ist ein Adiaphoron. Das ist der Grund für die Vielzahl von Kirchenordnungen und Bekenntnissen! Freilich gibt es Formen von Organisation und Kommunikation, die dem Evangelium affiner sind als andere, und diese sind dann auch vom historischen und sozialen Kontext abhängig. Darum müssen Theologie und Kirche wache Zeitgenossenschaft üben und auf kritische Stimmen von außen hören, um eine jeweils zeitgemäße und dem Evangelium angemessene Gestalt der Kirche zu finden. Als Rückbesinnung auf den Ursprung ist die Reformation ein ständiger Prozess, der freilich nicht zwangsläufig ständige Kirchenreform bedeutet. Es braucht auch keine weitere Reformation, sondern allein eine konsequente Weiterführung der Reformation. Die ständige Vergewisserung darüber, nicht nur wie, sondern ob wir Kirche sind, ist ein wesentliches Merkmal des Protestantismus und sein wohl wichtigster Beitrag zum Verständnis von Kirche. Was hinreicht (»satis est«), damit Kirche Kirche ist, wird in Confessio Augustana Art. 7 in aller Knappheit und Klarheit ausgedrückt, ohne deshalb ein bloßes »kritisches Minimum« zu formulieren.

Das eröffnet Horizonte für eine »inklusive« Ekklesiologie, die auf ökumenische Weite angelegt ist. Der Rekurs auf die allen christlichen Kirchen gemeinsame Tradition der Alten Kirche kann eine gute Basis sein, die Geschichte der Trennungen, Spaltungen, Verwerfungen und Verletzungen gewissermaßen von hinten aufzurollen. So wird das gemeinsame Erbe samt seiner unterschiedlichen Ausdifferenzierung zur Quelle der Verständigung zwischen den Kirchen werden. Dieser Prozess vollzieht sich angesichts einer gegenüber der Reformation – verstanden als Epoche – völlig neuen Situation, in der wir nach fünfhundert Jahren stehen: Der Kontext, in dem die Kirchen existieren, ist säkular.55

5. Bildung


Zum unumstrittenen Bestand der Reformationsforschung gehört die Erkenntnis, dass die Reformation ein Bildungsgeschehen darstellt, das man sowohl als eine Alphabetisierungskampagne als auch als eine »Exzellenzoffensive« verstehen kann – um eine moderne Terminologie zu verwenden. Hierin liegt der wohl entscheidende Beitrag der Reformation zur Formierung der Neuzeit, auch und gerade darin, dass die jesuitischen Reformen diesen Impuls aufgenommen haben und sich die bürgerliche Gesellschaft dem anschloss und ihn sich zu eigen machte. Nicht nur die Einrichtung von Schulen und Universitäten, sondern auch die durch Visitationen und Kirchenordnungen vorangetriebene Kultur der Beteiligung und Selbstverwaltung gehört in dieses Bildungserbe.56

Die moderne Demokratie mündiger Bürgerinnen und Bürger ist ohne eine tiefgreifende Bildung gar nicht denkbar – das betrifft auch die religiöse und soziale Bildung.57 Dieses Erbe der Reformation sollte im Jubiläumsjahr, auch angesichts der aktuellen Tendenz zur Stärkung plebiszitärer Elemente in politischen Entscheidungsprozessen, deutlich im Vordergrund stehen. Wenn es einen auch säkular verantwortbaren Grund zur »Dankbarkeit« und zum Feiern gibt, dann an diesem Punkt.

6. Weltförmigkeit


Die Reformation machte den Glauben als wesentliches Element des gesamten Lebens fruchtbar und holte ihn aus der Enge einer sich als Heilsanstalt verstehenden Kirche heraus. Sie befreite den Glauben vom Primat der Kirche und etablierte eine Spannung zwischen Kirche als sichtbarer Gestalt des Glaubens und der Kirche als Glaubensartikel. Diese Spannung, die den Gottesdienst auch in den Alltag der Welt58 legt, führte zu einer hohen »Weltförmigkeit« des Glaubens. Es war für den Protestantismus immer von Übel, wenn er sich aus der »Welt« meinte zurückziehen zu müssen. »Entwelt-lichung«59 ist keine Alternative; schon der Dual von »Kirche« und »Welt« ist unter einer inkarnatorischen Perspektive schief!

Der christliche Glaube ist eminent »weltförmig«, und er be?währt sich im Alltag. Insofern ist die Säkularisation keineswegs nur ein Irrweg: Die Reformation war selbst eine Säkularisationsbewegung! Es ist eine ständige Herausforderung an die Kirchen, sich im gesellschaftlichen Prozess zu verorten. Die Akzeptanz des christlichen Glaubens in seiner traditionellen, an die sichtbaren Kirchen gebundenen Gestalt nimmt in Westeuropa ab. Daraus aber folgt die Aufgabe, eine Gestalt zu finden, wie sich die Kirche Gottes konkret als »ecclesiola in mundo« bewähren kann, ohne marginal zu werden oder sich selbst zu marginalisieren. Die Kirche hat nicht nur ein kritisches Wächteramt. Sie hat auch einen positiven Auftrag, die Gesellschaft human mitzugestalten.

7. Streitkultur


Was oft als Manko des Protestantismus kritisiert wird, ist gerade seine Stärke: Dass es kein zentrales Lehramt gibt und dass die Bekenntnisse nicht bindende Glaubensinhalte, sondern Konsense über das Verständnis der biblischen Texte formulieren, hat den theologischen Diskurs – über alle temporären Verhärtungen hinweg – ständig in Bewegung gehalten. So war der Protestantismus in der Lage, nicht nur aus einer Verteidigungshaltung gegenüber der von ihm mitinitiierten Moderne zu argumentieren, sondern auch als ihr Motor aufzutreten – bis dahin, dass der moderne Toleranzbegriff eine seiner Wurzeln im Versuch der Überwindung der Folgen der Konfessionalität hat.60 Auf den möglichst kontroversen Weitergang der Forschungen zur Reformation darf man gespannt sein: Er ist ein echter Fortschritt. Glauben reduziert nicht Kom-plexität, er befähigt vielmehr, mit Komplexität umzugehen, denn Komplexität ist Ausdruck von Individualität. Gerade in diesem Aushalten von Komplexität auf der Basis eines fundamentalen Konsenses war die Reformation stark! Das ist aus kirchenleitender Sicht von großer Bedeutung, will man nicht in Larmoyanz, Selbstgerechtigkeit oder auch nur in reiner Selbstbezüglichkeit erstarren.

8. Nationale Entgrenzung


Ein nicht zu unterschätzender Ertrag der Debatte um die Reformation während der »Lutherdekade« ist die Weitung des Blicks. »Reformation« war ein gesamteuropäisches und in der Folgewirkung ein globales Geschehen. Die Vielgestaltigkeit der »Reformation«, die inzwischen oft auch durch die Verwendung des Plurals »Reformationen« zum Ausdruck kommt,61 ist Ausweis ihres emanzipatorischen Charakters. Der Protestantismus versteht sich zunehmend als eine Lerngemeinschaft im globalen Denken.62 Das eröffnet neue ökumenische Horizonte und verhindert die Regression in wieder auflebende Nationalismen. Eben weil der Protestantismus hier ein schweres Erbe trägt, ist diese geweitete Perspektive besonders wichtig. Insofern ist es nur konsequent, dass Papst Franziskus am 31. Oktober 2016 auf Einladung des Lutherischen Weltbunds in Lund einen ökumenischen Gottesdienst gefeiert hat. Das ist eine der Sache nach angemessene Verlagerung des Fokus auf die Internationalität der Reformation, die theologisch nichts anderes ausdrückt als ihre »Katholizität«.

IV Ausblick


»Umstrittene Reformation«: Es muss historisch nicht einlinig sein, was »die« Reformation ist und was sie bedeutet, um das Reformationsjubiläum zu begehen. Im Gegenteil: Je vielgestaltiger sich die Perspektiven darstellen, umso mehr gibt es zu entdecken und erzählen!63 Erzählen heißt: sich erinnern und sich in dieser Erinnerung wiederfinden. An die Stelle der einen, »großen Geschichte« treten die vielen Geschichten. Nicht nur die Krisen und ihre Bewältigungsstrategien haben wissenschaftliche Theologie und kirchenleitende Interessen neu zusammengeführt, sondern auch die Aufgabe, »Reformation« neu zu verstehen. Deshalb wird die Refor-mationsforschung ein wichtiger Bezugspunkt bleiben, weil die Reformation in ihrer Pluriformität ein entscheidendes Ereignis unserer gemeinsamen Vergangenheit ist. Auch die weltweite Ökumene gewinnt aus dieser Perspektive eine große Chance, wenn sie die aus der Reformation entstandene und in der Beschäftigung mit ihr bewusst gewordene Komplexität aushält.

Mehr noch gilt das für die Auseinandersetzung mit der fortschreitenden Säkularisation westeuropäischer Gesellschaften. Lu?thers existenzielle Frage »Wie kriege ich einen gerechten Gott?« ist – wenn überhaupt! – längst abgelöst durch die Frage »Wie kriege ich einen Gott?«. Aus der Reformation selbst lässt sich die Antwort auf diese weitergehende Frage nur indirekt gewinnen, was den Eindruck entstehen lässt, die ursprüngliche Frage nach dem »gerechten Gott« sei obsolet. Theologisch gesehen rückt aber lediglich die Frage nach der »Rechtfertigung allein aus Glauben« hinter die heute drängendere Frage nach der »iustificatio impii«! Beide aber lassen sich nur christologisch beantworten.64 In diesem Sinn ist das »solus Christus« eben gerade nicht exklusiv, sondern inklusiv: Auch Christen sind stets »impii«! Diese radikale Einsicht der Reformation gilt es neu zu gewinnen gegen allzu große Gewissheiten, als Christen bzw. als Kirchen »auf der richtigen Seite« zu stehen.

Gleiches gilt für den Säkularismus. Auch hier könnte eine aus Verstehen heraus gewonnene komplexere Wahrnehmung von dem, was mit »Religion« gemeint ist, eine höhere Wertschätzung freisetzen, als sie derzeit wahrzunehmen ist. In manchem erinnert die Diskussion zwischen »Religion« und »säkularer Welt« an das Zeitalter des Konfessionalismus, das von gegenseitiger Abgrenzung statt von gegenseitigem Werben um Akzeptanz bestimmt war.65 Auch hier steht ein »Healing of Memories« an. Und hier könnte das Reformationsjubiläum manches in Bewegung bringen und in Bewegung halten.

»Was Christum treibet«, hatte Luther als Grundkriterium des Christlichen benannt und aus diesem Kriterium heraus sogar die Texte der Heiligen Schrift selbst neu gewichtet. Das war Ausdruck ungeheurer Freiheit und Souveränität sowie der Konzentration auf das Wesentliche. Was die Reformationsforschung zeigt: Diese Freiheit und Souveränität, diese Klarheit des Blicks waren das Ergebnis, nicht die Voraussetzung des Ringens um die Wahrheit! Und es hörte über die Jahrhunderte nicht auf. Diese Einsicht allen Verlockungen fundamentalistischer Vereinfachungen, dogmatischer Vereinnahmungen und vordergründiger Konfessionalität – und zwar auch im Blick auf einen sich aggressiv gebärdenden Säkularismus! – entgegenzusetzen, ist eine Herausforderung, der sich evangelische Theologie und Kirchen stellen müssen (und können!). Die Reformation war, gerade weil sie einen eschatologischen Horizont hatte, kein begrenztes und »abgeschlossenes« Ereignis, sondern ein initialer Umbruch von hoher Komplexität.

Diese Komplexität zu halten und zur Darstellung zu bringen, sie als Gewinn, nicht als Last zu verstehen und sie ekklesiologisch im Sinn einer »Verflüssigung« fruchtbar zu machen – das ist, blickt man auf die gegenwärtigen Zwischenergebnisse der Reformationsforschung, die Aufgabe für die Zeit nach dem Jubiläumsjahr 2017.

Abstract


The Luther decade shows that the meaning of »Reformation« is controversial. The traditional Reformation narrative has fallen out of favor. Protestant theology no longer has the power to interpret its own history. It must enter into discourse with other disciplines and social institutions to find out what can be said with some certainty. It must preserve the complexity because public communication requires putting things in elementary but not in oversimplifying ways. Keeping Christ and Holy Scripture as the normative center of the Reformation can be the starting point for a new overall vision. From this starting point we can achieve not only the »Healing of Memories« and a joyous celebration of the common Christian, but also place the urgent confrontation with secularism on firm ground.

Fussnoten:

1) Zum Titel vgl. G. Wehr, Umstrittene Reformation, München 1983, und B. Hamm, Umstrittene Reformation. Rezension zu: Stefan Ehrenpreis/Ute Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter, ARG 95/1 (2004), 301–309. Das Buch von S. Ehrenpreis/U. Lotz-Heumann (Darmstadt 22008) bietet einen exzellenten Überblick über die Forschungslage. Leider liegt die angekündigte 3. Aufl. noch nicht vor. Wesentliche Punkte des »Streites« stellt aus profanhisto-rischer Sicht konzentriert vor: S. Schmidt, Was stimmt? Reformation. Die wich-tigsten Antworten, Freiburg 2007.
2) Das zeigt sich exemplarisch an der hochkomplexen Definition von »Reformation«, die Th. Kaufmann vorstellt; vgl. ders., Geschichte der Reformation, Frankfurt am Main/Leipzig 2009, 22.
3) Vgl. H. Oelke, Reformationsjubiläum gestern und heute. Geschichtspolitische Einflussnahmen und die reformatorische Säkularfeier 1917, PTh 105 (2016), 21–43. Grundlegend H. Lehmann, Luthergedächtnis 1817 bis 2017, Refo500 8, Göttingen/Bristol, Conn. 2012.
4) Vgl. M. Hein, Ecclesia semper renovanda? Zum Verständnis von Kirchenreform und Reformation, ZThK 113 (2016), 303–322, 306.
5) Ein erster Versuch, diese divergenten Sichten auf die Reformation zusammenzuschauen, findet sich in dem wirkungsgeschichtlich wichtigen Band von B. Hamm/B. Moeller/D. Wendebourg, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995; vgl. L. Schorn-Schütte, Die Reformation. Vorgeschichte, Verlauf, Wirkung, München 62016, 10. – Auch das große Zürcher Symposion zum Reformationsjubiläum spiegelt das in der Fülle seiner Vorträge wider: P. Bosse-Huber/S. Fornerod/Th. Gundlach/G. W. Locher (Hrsg.), 500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderung. Internationaler Kongress der EKD und des SEK auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 vom 6. bis 10. Oktober 2013 in Zürich, Zürich/Leipzig 2014. Überblicke auch bei Schorn-Schütte, a. a. O., 91–100. Instruktiv ist die Essaysammlung von O. Zimmermann/Th. Geißler, Disputationen I. Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017, Aus Politik & Kultur 10, Berlin 22015. Aus der Sicht eines Profanhistorikers vgl. O. Mörke, Die Reformation. Voraussetzungen und Durchsetzung, EDG 74, München 2005, bes. 135–139. Bei ihm auch eine Darstellung der Diskussion um den Ansatz B. Moellers, a. a. O., 118 f. Zur Ausdifferenzierung der Geschichtswissenschaft vgl. U. Rublack (Hrsg.), Die Neue Geschichte. Eine Einführung in 16 Kapiteln, Frankfurt am Main 2013.
6) Vgl. dazu Chr. Markschies, Die eine Reformation und die vielen Reformen oder Braucht evangelische Kirchengeschichtsschreibung Dekadenzmodelle?, ZKG 106 (1995), 70–97, der auch einen Versuch einer theologischen Deutung vorstellt.
7) Vgl. Schorn-Schütte (Anm. 5), 7 f.
8) Vgl. Schorn-Schütte (Anm. 5), 105 f., unter Verweis auf Mörke (Anm. 5), 137 f.
9) Ehrenpreis/Lotz-Heumann (Anm. 1), 113 f., sehen darin die entscheidende Perspektive künftiger Reformationsforschung.
10) In einem kleinen Essay stellt Schilling seine wesentlichen Einsichten dar; vgl. ders., Luther historisch einordnen, in: Zimmermann/Geißler (Anm. 5), 117–120. Vgl. dazu Mörke (Anm. 5), 79–85.
11) Diesen Aspekt machte aus theologischer Sicht vor allem Wendebourg geltend; vgl. B. Hamm (Anm. 5), 31–51, auch V. Leppin, Transformationen. Studien zu den Wandlungsprozessen in Theologie und Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter und Reformation, SMHR 86, Tübingen 2015, 13 f.
12) Eine besonnene Einschätzung der drei Lutherbiographien von Th. Kaufmann, V. Leppin und H. Schilling bietet M. Nieden, Ausgewählte Luther-Biographien (Bücherschau), PTh 105 (2016), 97–102. Daneben erscheint eine Fülle von literarischen, essayistischen und populärwissenschaftlichen Büchern – es wäre lohnend, sie unter den hier entfalteten Gesichtspunkten ausführlich zu sichten.
13) Vgl. Schorn-Schütte (Anm. 5), 106. Programmatisch dazu H. Schilling, Reformation – Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Réformes?, in: B. Moeller/S. Buckwalter, Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte, SVRG 199 (1998), 13–34.
14) Exemplarisch für einen »globalen« Entwurf sei genannt: D. MacCulloch, Die Reformation 1490–1700, München 2009. Schon in der Epocheneinteilung des Titels zeigt sich eine erweiterte Sicht der Reformation aus angelsächsischer Perspektive. Vgl. auch Evangelische Kirche in Deutschland/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen. Ein gemeinsames Wort zum Jahr 2017. Gemeinsame Texte 24, Hannover/Bonn 2016, 8: »2017 ist das erste Gedenken, das im Zeitalter der Ökumene, aber auch der wachsenden Säkularisierung steht und nicht mehr nur in einer deutschen oder europäischen, sondern in einer globalen Perspektive wahrgenommen wird.«
15) Vgl. M. Iff, Reformation und Reformationsgedenken aus freikirchlicher Sicht, Cath (M) 68 (2014), 260–275. Zur täuferischen Tradition vgl. Mörke (Anm.5), 104 f.
16) R. Bainton, Here I stand: A Life of Martin Luther, New York 1950 (dt. 1952 u. ö.).
17) Vgl. Schorn-Schütte (Anm. 5), 107, unter Hinweis vor allem auf Leppin und Schilling. Die Publikationsreihe von K. Bloomquist/U. Duchrow (Hrsg.), »Die Reformation radikalisieren/Radicalizing Reformation«, Berlin 2015 f., nimmt in gewisser Weise die Anliegen des »radikalen Flügels« der Reformation auf. Bisher sind fünf Bände erschienen sowie eine Webseite: http://www.radicalizing-reformation.com/index.php/de/ (Aufruf: 04.08.2016).
18) So dezidiert Schorn-Schütte (Anm. 5), 109, in ihrer Zusammenfassung: »Die Behauptung, dass Luther am Anfang der Moderne stehe, ist wohl immer weniger überzeugend, zumindest wenn es nur bei dieser Charakterisierung bleibt.« Umstritten sei eben auch der Begriff der Moderne.
19) Einen guten Einblick in den Stand des Gesprächs des Luthertums mit der römisch-katholischen Kirche gibt der Band: Vom Konflikt zur Gemeinschaft. Gemeinsames lutherisch-katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017; Bericht der Lutherisch/Römisch-Katholischen Kommission für die Einheit, Leipzig/Paderborn 22013.
20) M. Walser hat mit seinem Essay »Über Rechtfertigung. Eine Versuchung« (Berlin 2012) einen literarischen Versuch vorgelegt, der m. E. nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit gefunden hat.
21) Ehrenpreis/Lotz (Anm. 1), 9.
22) Vgl. M. Welker, Die Botschaft der Reformation – heute, in: B. Hamm/M. Welker, Die Reformation: Potentiale der Freiheit, Tübingen 2008, 67–90, 89.
23) Zum Konzept des »Healing of Memories« vgl. A. Strübind, Heilung von Erinnerung, MD 6 (2015), 111–118; vgl. »Erinnerung heilen – Christus bezeugen« (Anm. 14): »Healing of Memories ist nicht der Versuch, die Geschichte umzuschreiben, aber die erklärte Absicht, die Erinnerung von einem Mittel der Abgrenzung zu einem Mittel der Versöhnung werden zu lassen.« (A. a. O., 15) Das bedeute aber: »Im Blick auf die Versöhnung der Kirchen reicht es daher nicht aus, allein die im 16. Jahrhundert formulierten Differenzen gemeinsam zu bedenken und Konvergenzen zu erreichen. Es müssen auch die neuen Herausforderungen erkannt und bestanden werden.« (A. a. O., 26) Was die Fragen der Abendmahlsgemeinschaft und des Kirchenverständnisses angehe, sei festzustellen, dass sich »in jüngerer Zeit« Differenzen wieder »vertieft« hätten (A. a. O., 29).
24) Vgl. dazu die epd-Dokumentationen 10 und 11, 2016: Internationale Tagung vom 4.–6. Oktober 2015, Martin Luther und die Juden. Luthers Judenschriften und ihre Rezeption – Ein Projekt zum Reformationsjubiläum, Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers, Deutscher Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Evangelische Akademie Loccum, Buber-Rosenzweig-Stiftung der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. – Vgl. dazu auch die Positionierung von D. Wendebourg, Angst vor religiösen Gegensätzen. Die EKD zieht falsche Schlüsse aus Martin Luthers Antijudaismus, Zeitzeichen 7 (2016), 12–14. Zahlreiche Ausstellungen und Publikationen zu diesem Thema zeigen die Dringlichkeit.
25) Stellvertretend für die vor allem in den Printmedien geführte Debatte seien zwei Artikel genannt: K. M. Hübsch, Auch das ist Islam. Für eine muslimische Reformation, in: Die Zeit, 1. Jan. 2015, http://www.zeit.de/2014/52/reformation-islam-interpretation-religion (Aufruf 04.08.2016), und S. W. Fuchs, Braucht der Islam eine Reformation, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Juli 2015, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/braucht-der-islam-eine-reformation-13712121.html (Aufruf 04.08.2016).
26) Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, Reformation und Islam. Ein Impulspapier der Konferenz für Islamfragen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Hannover 2016.
27) Vgl. Lehmann (Anm. 3), 314: »Was soll während der Lutherdekade und dann 2017 eigentlich gefeiert werden: Die gigantische Lebensleistung von Martin Luther oder aber der Protestantismus als eine der großen Weltreligionen?«
28) Diese Korrektur des Bildes von den Hammerschlägen (und allem, was damit verbunden ist) formulierte Chr. Markschies 2008 geradezu als ein Anliegen der Reformationsdekade; vgl. ders., Womöglich mit wuchtigen Hammerschlägen, in: Zimmermann/Geißler (Anm. 5), 88–89.
29) So wird in Eric Tills Lutherfilm von 2003 der Thesenanschlag zentral dargestellt. Dieser Film ist inzwischen ein fester Bestandteil des Religionsunterrichts, des Konfirmandenunterrichts und der Erwachsenenbildung geworden und hat damit eine enorme Breitenwirkung. Zudem werben die drei nationalen Ausstellungen zum Reformationsjubiläum unter dem gemeinsamen Motto www.3xhammer.de.
30) Vgl. W. Klausnitzer, 2017 für Katholiken? Reformationsjubiläum, Reformationsgedenken oder Christusfeier?, KNA 30–31 (2015), I–VIII. – Eine intensive Auseinandersetzung mit dem implizit exkludierenden Aspekt der vier Exklusivartikel bietet Th. Söding, Reformation auf dem Prüfstand. Die ökumenische Debatte vor 2017 – aus katholischer Sicht, Cath (M) 69 (2015), 1–13; etwas polemischer gefasst in: Ders., 500 Jahre Reformation – der Versuch einer Rechtfertigung, CiG 31, 2014. Versöhnlicher W. Thönissen, Christus nicht ohne Kirche. Unter welcher Voraussetzung Katholiken 2017 mitfeiern können, Zeitzeichen 10 (2015), 8–11. Einen aktuellen katholischen Beitrag bietet J. Rahner, Kampf um die Deutung, HerKorr 3 (2016), 13–16.
31) Vgl. Schorn-Schütte (Anm. 5), 105 f.
32) Vgl. Kaufmann (Anm. 2), 11.
33) B. Hamm, Reformation als normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft, JBTh 7 (1992), 241–279. Mörke (Anm. 5), 83–87, entfaltet die Rezeption dieses Begriffes und sein »forschungsleitendes Potenzial« (84).
34) B. Hamm, Die Emergenz der Reformation, in: B. Hamm/M. Welker (Anm. 22), 1–27, stellt den aus Naturwissenschaft und Systemtheorie übernommenen Begriff der »Emergenz« vor, der es erlaubt, Kontinuität und Bruch zusammenzudenken, vgl. a. a. O., 11 ff., wo Hamm dies an Luthers Gnadenlehre entfaltet und sie zugleich in Kontinuität zur spätmittelalterlichen Theologie wie als qualitativen Sprung erklärt. Eine Fülle solcher einzelner Sprünge erzeuge eine »emergente Gesamtlage« (a. a. O., 24), aus der heraus die innovative Kraft der Reformation zu verstehen sei. Aus diesem Ansatz heraus entfaltet er seine Sicht auf die Vielfalt und Einheit der Reformation, in: Ders., Die Einheit der Reformation in ihrer Vielfalt (Anm. 22), 30–66. Kritisch dazu: V. Leppin (Anm. 11), 22 ff.
35) Vgl. B. Hamm, Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: was die Reformation zur Reformation machte, in: Hamm/Moeller/Wendebourg (Anm. 5), 57–127. Hier entfaltet er 33 (!) Merkmale des Reformatorischen.
36) Vgl. Hein (Anm. 4), 320 f.
37) Exemplarisch dazu die wenigen resümierenden Sätze am Ende einer Gesamtdarstellung aus dem Jahr 2012: »Die evangelische Theologie der Gegenwart allerdings hat sich stark vom reformatorischen Erbe gelöst.« (M. H. Jung, Reformation und Konfessionelles Zeitalter [1517–1648], Göttingen 2012, 263)
38) Diese Funktion des »Zeugnisses« als ein Element des Umgangs mit Pluralität macht M. Welker, Sola scriptura – Die Autorität der Bibel in pluralistischen Umgebungen, in: Hamm/Welker (Anm. 22), 91–120, bes. 119 f., geltend.
39) Vgl. W. Schäuble, Das Reformationsjubiläum 2017 und die Politik in Deutschland und Europa, PTh 105 (2016), 44–53. Vgl. auch das Lutherbuch von H. Geißler, Was müsste Luther heute sagen?, Berlin 2015.
40) Dokumentiert in: Zimmermann/Geißler (Anm. 5), 151–194.
41) Vgl. J. H. Claussen, Zwischen Heldenverehrung und Playmobilisierung. Überlegungen zum Problem, die Erinnerung an die Reformation heute öffentlich darzustellen, in: T. Braune-Krickau/K. Scholl/P. Schüz (Hrsg.), Das Christentum hat ein Darstellungsproblem. Zur Krise religiöser Ausdrucksformen im 21. Jahrhundert, Freiburg/Basel/Wien 2016, 17: »Man sollte aber prüfen, ob man mit solchen Bildern den Traditionsverlust, dem man doch entgegenwirken will, nicht selbst befördert«.
42) Übersicht bei http://www.lutherweg.de/ (Aufruf 04.08.2016).
43) Einen ständig aktualisierten Überblick über die Reformationsdekade bieten die Webseite der EKD: http://www.ekd.de/reformationstag/ und die gemeinsam mit der EKD und der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Staatliche Geschäftsstelle »Luther 2017«, verantwortete Webseite http://www.luther2017.de/ (Aufruf 04.08.2016).
44) Vgl. J. Schilling, Die Reformation – »Segen« oder »Katastrophe«, in: M. Heimbucher (Hrsg.), Reformation erinnern. Eine theologische Vertiefung im Horizont der Ökumene. Evangelische Impulse 4, Neukirchen-Vluyn 2013, 42–66.
45) F. W. Graf, Das Reformationsjubiläum selbstbewusst feiern, PTh 105 (2016), 5–20.
46) Th. Kaufmann, Reformation und Reform – Luthers 95 Thesen in ihrem his?torischen Zusammenhang, in: P. Klasvogt/B. Neumann (Hrsg.), Reform oder Reformation? Kirchen in der Pflicht, Paderborn/Leipzig 2014, 23–41. Der Aufsatz gibt zugleich eine konzentrierte Einführung in Kaufmanns Sicht der Dinge.
47) Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hrsg.), Rechtfertigung und Freiheit: 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 42015.
48) Vgl. »Erinnerung heilen – Christus bezeugen« (Anm. 14), 64: »Die Heilung der Erinnerung befreit uns zu einem gemeinsamen und darin glaubwürdigeren Zeugnis für Jesus Christus. Sie ermutigt uns, das bevorstehende Reformationsjubiläum gemeinsam als ein Christusfest zu begehen.«
49) Diese Perspektive ermöglicht für den schulischen und kirchlichen Unterricht einen ökumenischen und zugleich elementarisierenden Zugang; vgl. exemplarisch M. Kappes/B. Rudolph (Hrsg.), Christusfest. Ökumenisches Zugehen auf das Reformationsfest 2017. Eine Arbeitshilfe für Gemeinde und Unterricht, Leipzig/Paderborn 2016.
50) Das zeigt sich auch in Luthers Umgang mit der patristischen Tradition. Sie war für ihn unter der neuen Perspektive der Vorordnung der Schrift nicht Tradition der Lehre, sondern der Schriftauslegung; vgl. W. Bienert, »Im Zweifel näher bei Augustin« – Zum patristischen Hintergrund der Theologie Luthers, in: Ders., Werden der Kirche – Wirken des Geistes. Beiträge zu den Kirchenvätern und ihrer Nachwirkung, MThSt 55, 179–191; und ders., Christologische und trinitätstheologische Aporien der östlichen Kirchen aus der Sicht Martin Luthers, in: A. a. O.., 192–205.
51) Wie sehr das im römisch-katholischen Bereich zu einer ökumenischen Annäherung geführt hat, zeigt K. Backhaus, Reformation als Gewissenstachel. Das Schriftprinzip im Spiegel katholischer Exegesegeschichte, ZThK 113 (2016), 123–155.
52) Diesen Aspekt der »Freiheit« als wesentlichen Beitrag der Reformation betont z. B. M. H. Jung (Anm. 36), 261 f., sehr deutlich – von daher entfaltet er auch seine oben zitierte Kritik.
53) Diese scheinbar einfache Erkenntnis ist, wenn sie als ökumenischer Konsens ernstgenommen wird, ein echter Meilenstein: »Keiner der Akteure im Reformationszeitalter hatte die Absicht, die Einheit der Kirche zu verletzen« (»Erinnerung heilen – Christus bezeugen« [Anm. 14], 53).
54) Das entfaltet Luther in einem seiner theologischen Testamente, das trotz der schwer erträglichen Polemik eine ekklesiologische Grundschrift darstellt: Wider Hans Worst, 1541, WA 51, 461–565, 478 f.: »Wie aber, wenn ich beweise, das wir bey der rechten alten kirchen blieben, ia das wir die rechte alte kirche sind, Ihr aber von uns, das ist, von der alten kirchen abtrunnig worden, ein newe kirchen angericht habt wider die alte kirche?« Er entwickelt daraus zehn Merkmale, die nicht nur die Kontinuität zur, sondern die Identität mit der Alten Kirche beweisen sollen.
55) H. Lehmann mahnt einen differenzierten Umgang mit dem Begriff »Säkularisierung« an: »Was wir vor uns haben, ist […] ein kompliziertes Nebeneinander und Gegeneinander von Tendenzen einer Dechristianisierung, einer Säkularisierung sowie einer Entzauberung der Welt auf der einen Seite und einer Rechristianisierung, einer Sakralisierung zumindest von Teilaspekten des öffentlichen und des privaten Lebens sowie einer Neuverzauberung von Einsichten und Erfahrungen auf der anderen Seite.« (Religion und Konfessionen in Europa im ausgehenden 20. Jahrhundert: Beobachtungen, Überlegungen, Fragen, in: Ders., Protestantisches Christentum im Prozess der Säkularisierung, Göttingen 2001, 197)
56) R. Koselleck hat drei Etappen der Entwicklung des Bildungsbegriffs in Deutschland erarbeitet: eine theologisch dominierte, eine aufgeklärt-pädagogische und eine moderne, primär selbstreflexiv gestimmte. Alle seien in den Bildungsbegriff in Deutschland eingegangen; vor allem die Sprache sei »theologisch imprägniert« (Bildung ist weder Ausbildung noch Einbildung, in: H. Hastedt [Hrsg.], Was ist Bildung? Eine Textanthologie, Stuttgart 2012, 137–154, 145). Vgl. auch M. Hein, Erlösung durch Bildung? Theologische Würdigung und Kritik, in: Ders., Theologie in der Gesellschaft. Aufsätze zur öffentlichen Verantwortung der Kirchen, Leipzig 2014, 313–328.
57) Vgl. F. Schweitzer, Das Bildungserbe der Reformation. Bleibender Gehalt, Herausforderungen, Zukunftsperspektiven, Göttingen 2016. Inwieweit Luther und die Reformation für die Entwicklung und Gestaltung von Demokratie herangezogen werden können, erörtert M. Wriedt, Luther und Demokratie – Zur Inanspruchnahme des reformatorischen Erbes für gegenwärtige protestantische Erinnerungskultur, in: Th. K. Kuhn/K. Kunter (Hrsg.), Reform – Aufklärung – Erneuerung. Transformationsprozesse im neuzeitlichen und modernen Christentum. FS M. Greschat, Leipzig 2014, 48–68.
58) Vgl. E. Käsemann, Gottesdienst im Alltag der Welt. Zu Römer 12, in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 2, Göttingen 31970, 198–204.
59) Zum Begriff vgl. die Rede von Papst Benedikt XVI. im Freiburger Konzerthaus, in: Apostolische Reise Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg 22.–25. September 2011, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 189, Bonn 2011, 149–151.
60) Vgl. dazu E. Stöve, Art. Toleranz I. Kirchengeschichtlich, in: TRE 33 (2002), 646–663.
61) Vgl. die knappe Darstellung bei Schmidt (Anm. 1), 90–98.
62) Dieser Lernprozess beginnt schon bei der Wahrnehmung der inneren Vielfalt des Protestantismus. Vgl. K. Raiser, 500 Jahre Reformation weltweit, Studienreihe Luther 7, Bielefeld 2016, auch M. Welker/M. Beintker/A. de Lange (Hrsg.), Europa reformata. Reformationsstädte Europas und ihre Reformatoren, Leipzig 2016.
63) So entwirft Th. Gundlach vier Narrative der Reformation: historisch, ökumenisch, protestantisch, theologisch. Es legt sich noch ein fünftes Narrativ nahe: das politische; vgl. ders., Die Reformation gehört allen – Luthers Thesenanschlag von 1517 sollte ein »Erinnerungsort« für das kollektive Gedächtnis werden, in: epd-Dokumentation 19 (2015), 23–25, zuerst erschienen in: Zeitzeichen 4 (2015), 19–21.
64) Darauf verweist mit Nachdruck E. Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen 21999, 37–40.
65) Vgl. die Differenzierung zwischen einem juristischen und einem kulturwissenschaftlichen Säkularisierungsbegriff bei M. Heckel, Martin Luthers Reformation und das Recht. Die Entwicklung der Theologie Luthers und ihre Auswirkung auf das Recht unter den Rahmenbedingungen der Reichsreform und der Territorialstaatsbildung im Kampf mit Rom und den »Schwärmern«, Jus Ecclesiasticum 114, Tübingen 2016, 33–43.