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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1287–1289

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Rauhut, Andreas

Titel/Untertitel:

Gemeinsam gegen Armut? Globale Gerechtigkeit im Gespräch zwischen christlicher, afrikanischer und konfuzianischer Ethik.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 564 S. = Arbeiten zur Systematischen Theologie, 9. Geb. EUR 148,00. ISBN 978-3-374-04148-0.

Rezensent:

Gerhard Wegner

Andreas Rauhut untersucht in seiner Berliner Dissertation von 2014 in einer akribischen und von der schieren Menge der Materialverarbeitung imponierenden Weise Möglichkeiten eines ge­meinsamen Verständnisses von Christentum, afrikanischer Sozialphilosophie und Konfuzianismus zur Bekämpfung der weltweiten Ar­mut. Im Mittelpunkt stehen demgemäß drei große Kapitel, die sich mit den entsprechenden Wahrnehmungen von Armut und Ge­rechtigkeit beschäftigen. Vorweg gestellt sind Diskussionengrundlegender Fragen zum Forschungsansatz, zum Verhältnis zum interkulturellen ethischen Diskurses und zur aktuellen philosophischen Debatte um globale Gerechtigkeit. Der Band wird ab­geschlossen durch eine Synthese, die Gemeinsames, Ergänzendes und grundlegende Differenzen der drei Traditionen zusammenfasst.
Besonders eindrucksvoll ist das Kapitel über die konfuzianische Sozialphilosophie, das mit 122 Seiten auch den größten Abschnitt des Buches ausmacht. Hier werden sehr detailliert aktuelle Arbeiten über konfuzianische Ethik in China mit Blick auch auf die politisch-soziale Situation des Landes erörtert. In ihr, so wird deutlich, ist die Armutsthematik integral im Konzept einer harmonischen Gesellschaft, basierend auf der Familie, eingebaut.
Demgegenüber eher enttäuschend fällt das Kapitel über die christlich-sozialethischen Positionen aus. Insbesondere die evangelische Position wird fast ausschließlich aus EKD-Texten und den Arbeiten von Heinrich Bedford-Strohm illustriert. Zudem fällt auf, dass sich die gesamte Diskussion stark auf den deutschen Bereich (außer dem Votum der katholischen US-Bischöfe) konzentriert und sozialethische Positionierungen, die Armut nicht im Zentrum diskutieren, aber für das Thema relevant sind (z. B. Wirtschaftsethik), nicht vorkommen. Leitend erscheint zunächst R.s Grundthese von einem transzendent basierten Idealbewusstsein christlicher Ethik. Sie »analysiert moralisch relevante Verhaltensweisen, Vorstellungen und Strukturen immer im Verhältnis zur ethischen Idealfolie der erlösten Welt und bemüht sich dann, die aus dieser Perspek-tive aufgedeckten Missstände und realisierbaren Änderungsvorschläge für die noch nicht erlöste Welt zugänglich zu machen« (142). Interessant ist dann allerdings, dass der Autor das normative Bewusstsein christlicher Ethik mit der persönlichen Erfahrung der gnädigen und heilsamen Gerechtigkeit Gottes als Motivationsgrund verknüpft (z. B. 244). Menschenrechtsethische Rekonstruktionen eines christlichen Verständnisses von globaler Gerechtigkeit, ja schlicht Empathie, blieben ohne Bezug auf ihre existentielle motivationale Fundierung irreal.
Im Kapitel über die afrikanische Sozialphilosophie diskutiert R. zunächst zentrale Aspekte afrikanischer Weltanschauung, so das südafrikanische Ubuntu – Konzept einer Lebens – und die Gemeinschaftsphilosophie. Eindrücklich ist dann die Darstellung der afrikanischen Sozialphilosophie von Odera Oruka, die von ihrer theoretischen Argumentationskraft her geeignet ist, mit den christ-lichen und konfuzianischen Konzepten mithalten zu können. Es zeigt sich, dass die afrikanischen Ansätze auf die Förderung einer harmonischen Gemeinschaft nach dem Vorbild der Familie abheben, dementsprechend ist der Grad an wechselseitigen Verständnis, Wohlwollen und Vertrauen innerhalb der Gesellschaft der zentrale Indikator für das Ausmaß verwirklichter Gerechtigkeit (342). Mangel an Empathie gilt deswegen als Grundursache für mora-lische Unzulänglichkeit und damit auch für Armut. Ein Grundproblem ist, inwieweit sich die auf der Nähe von Kleingruppen basierende afrikanische Ethik für Gerechtigkeitsfragen einer globalen Gesellschaft nutzbar machen lassen (347). Kritische Bemerkungen dahingehend, dass gerade die Ubunto-Philosophie zwar auf der einen Seite soziale Rechte einklage, auf der anderen Seite aber rationale ökonomische Entwicklung massiv verhindere und damit die Armutsbekämpfung hintertreibe, werden rezipiert, doch in der Folge nicht allzu ernst genommen.
Grundsätzlich verfolgt R. die These der Notwendigkeit und Möglichkeit eines interkulturellen ethischen Diskurses. Es gelte, die gemeinsamen Positionen der drei Sozialphilosophien bzw. Religionen einzubringen und so zur Herausbildung transkultureller Normen beizutragen. »Im Interesse aller von Armut betroffenen Menschen, ein Beitrag zu einem interkulturellen diskursiv reflektierten Grundverständnis, global akzeptierter Gerechtigkeitsvorstellungen zu leis­ten.« (106) Sie sollen so entwickelt werden, dass sie für die Angehörigen aller betroffenen Kulturen als sinnvoll er­kannt werden können und deren moralischen Grundintuitionen zugänglich sind (84). Die kritische Frage, ob sich nicht die behandelten Traditionen gerade unterhalb einer argumentativ bearbeitbaren Ebene, als stark affektive, präreflexive Ordnungsvorstellungen, bewähren (84/85), wie R. auch mit Clifford Geertz bemerken kann, wird nicht diskutiert. Mir scheint dies gerade im Blick auf die afrikanischen Traditionen einer moralischen Ökonomie (Ubuntu, Ujamaa, Ha­rambee usw.) von großer Bedeutung zu sein.
Abschließend werden in insgesamt zwölf Thesen die drei Ethiktraditionen differenziert aufeinander bezogen. Dabei werden Un­terschiede präzise herausgearbeitet. Oftmals stehen christliche und afrikanische Ethik gemeinsam gegen eine den einzelnen Menschen als selbstverantwortlich verortende konfuzianische Ethik. Allen drei Ethiken sei aber die Herstellung einer harmonisch wohlgeordneten Gemeinschaft aller Menschen ein gemeinsames Ziel (484). Alle fordern zudem die Sicherstellung eines materiellen Exis­tenzminimums für jeden Menschen sowie die Herstellung einer angemessen Teilhabe, besonders der Armen (487). Und alle drei Ethiken würden auch in ihrer Kritik an der Rawls’schen Verordnung des Freiheits- vor dem Differenzprinzip übereinstimmen: »Gerechtigkeit muss gesellschaftliche Disparitäten absolut begrenzen.« (490) Auch würden sich alle drei Traditionen für eine universale Ethikperspektive mit dem Ziel einer effektiven Weltregierung zur Überwindung aktueller Probleme aussprechen (493). Es exis­tiere eine allgemeine moralische Pflicht zum Aufbau eines effektiven globalen Institutionsgefüges, um Armut weltweit zu bekämpfen. Dabei bleiben aber alle drei Traditionen an die ihnen jeweils verfügbaren Motivationsressourcen gebunden. Gerade die christliche Sozialethik sollte die ihr zugrunde liegenden multirationalen Ressourcen der persönlichen Erfahrung göttlichen Heils nicht verbergen (524).
Differenzen bestünden hingegen darin, dass sich christliche Ge­rechtigkeitsvorstellungen sehr viel stärker als die anderen von den überrationalen Ressourcen des Kraftfelds der Gemeinschaftstreue Gottes (Gnade) her begreifen, während afrikanische und konfuzianische Ansätze primär auf innerweltliche Motivationsressourcen abheben würden: »Die christliche Sozialethik modifiziert die prinzipienhafte Beziehungs- und Gemeinschaftsorientierung afrikanischer und konfuzianischer Sozialethik, indem sie ihre Zentralstellung mit dem Verweis auf die Unverfügbarkeit von Gemeinschaft herausfordert und zugleich Hilfspflichten bewusst vom Kriterium der Reziprozität ablöst.« (511)
Insgesamt stellt die Studie eine imponierende Ausarbeitung der armuts- bzw. gerechtigkeitsbezogenen Potenziale der drei großen Traditionslinien dar. Die Differenziertheit, mit der R. sie miteinander in Beziehung setzt, ist eindrucksvoll. Offen bleibt am Ende, inwieweit die christliche Transzendenzerfahrung eine Ressource oder aber ein Hindernis für Gemeinsamkeiten darstellt. Bisweilen wird zu schnell geurteilt, so insbesondere in den über das gesamte Buch verteilten Stellen, in denen eine spezifisch ökonomische Ar­gumentation schnell weggewischt wird. Das hängt wohl auch da­mit zusammen, dass die Argumentation R.s auf einer reinen Analyse der Intentionen der Traditionen – und nicht ihrer Wirkungen – beschränkt bleibt. Die Frage, welche ethischen Orientierungen denn tatsächlich am besten dazu helfen, Wege aus der Armut zu finden, bleibt zum Schluss im Raum stehen. Armutsbekämpfung ist aber vor allem eine Frage der wirtschaftlichen Entwicklung – und damit der Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Diese Einsicht ernster zu nehmen, hätte dem Buch mehr Bodenhaftung verliehen.