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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1226–1230

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Klinghardt, Matthias

Titel/Untertitel:

Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien. 2 Bde. Bd. I: Untersuchung. Bd. II: Rekonstruktion, Übersetzung, Varianten.

Verlag:

Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2015. IX, 1279 S. = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 60. Geb. EUR 198,00. ISBN 978-3-7720-8549-9.

Rezensent:

Barbara Aland

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Vinzent, Markus: Marcion and the Dating of the Synoptic Gospels. Leuven: Peeters Publishers 2014. XI, 353 S. = Studia Pa-tris­tica Supplements, 2. Kart. EUR 78,00. ISBN 978-90-429-3027-8.
Roth, Dieter T.: The Text of Marcion’s Gospel. Leiden u. a.: Brill 2015. X, 491 S. = New Testament Tools, Studies and Documents, 49. Geb. EUR 158,00. ISBN 978-90-04-24520-4.


Nicht Marcions Theologie steht in den letzten Jahren im Mittelpunkt des Interesses, wohl aber der Begründungstext seiner Theologie, der Bibeltext, hier besonders der Text seines Evangeliums. Zu Recht. Denn die Bedeutung dieses Textes für die Rezeptionsgeschichte der Evangelien ist noch nicht hinreichend bedacht. Hat der Text überhaupt die Funktion der Begründung? Die drei hier anzuzeigenden Werke widmen sich dem Thema in unterschiedlicher Weise.
Markus Vinzent geht von den zahlreichen patristischen, häresiologischen Zeugnissen über Marcion aus und bedenkt sie im Blick auf die Frage, welche Bedeutung der Evangelientext im Sinne einer begründenden Autorität nicht nur für Marcion, sondern auch für die über ihn berichtenden und ihn bestreitenden Gegner gehabt hat bzw. ob, wann und warum er diese Bedeutung jeweils erhält. Dem Leser wird damit das Material für eine wichtige Phase der Rezeptionsgeschichte der Evangelien dargeboten, die Lösungen V.s sind allerdings extrem. Für ihn ist Marcion selbst der Autor »seines« Evangeliums, des ältesten Evangeliums überhaupt, auf das hin erst in Abwehr und Korrektur die kanonischen Evangelien entstanden seien. Das folgert V. aufgrund einer eigenwilligen Interpretation der bekannt schwierigen Johannes-Notiz des Papias und vor allem der geschickten polemischen Rhetorik Tertullians in der Einleitung zum 4. Buch von Adv. Marc., wonach beide Kontrahenten, Marcion und Tertullian, sich jeweils der gegenseitigen Wahrheitsverfälschung bezichtigt, also auch schon Marcion und seine An­hänger ihre Gegner wegen der Verfälschung des wahren Evange-liums angeklagt hätten (vgl. Adv. Marc. 4,4,2 mit De praescr. 38,6 f.; s. auch Irenäus, Adv. haer. 3,14.1–15,2). Daraus erschließt V. folgenden Verlauf:
Das Evangelium Marcions, das er – im Sinne des Paulus – verfasst habe, sei noch vor seiner legitimierten Publikation bekannt geworden (1), woraufhin in kritischer Reaktion darauf die kanonischen Evangelien (oder ihre Vorform) entstanden seien (2). Gegen deren »Verfälschung« seines Evangeliums habe sich Marcion gewehrt, indem er eine um die Antithesen und die Paulusbriefe erweiterte, endgültige Fassung seines Evangeliums veröffentlicht habe (3). Gegen diese Edition, die den Häresiologen allein vorlag, erfolgt dann deren Vorwurf der »Verfälschung« des Evangeliums (4). Die sich daraus ergebende Spätdatierung der kanonischen Evangelien versucht V. im zweiten Teil seiner Arbeit plausibel zu machen. Nach einem kritischen Überblick über die bisherigen Datierungsversuche und einer detaillierten Auflistung der Lösungen des synoptischen Problems schlägt er einen neuen Versuch mit Marcion »as an inspirational source« vor, Marcion, »who, in proxim-ity with the authors of the other Gospels, wrote the very first Gospel, and, only after having come to know the rewritings of his own text through colleagues, published his (revised?) version of the Gospel, together with the Antitheses and Paul’s letters« (188).
Möglichen Gegenargumenten gegen diese These versucht er zu begegnen, indem er erneut die Frage nach der Datierung früher Evangelienpapyri und der in der frühen Literatur weitgehend fehlenden Evangelienzitate behandelt und ergänzend einige Textvergleiche zwischen Marcions Evangelien und dem Text der kanonischen Evangelien vornimmt. Seine Argumente können nicht überzeugen. Es ist bekannt, dass die Datierung früher Papyri unsicher und die frühesten Anspielungen auf die Evangelien allenfalls dies, wenn dies überhaupt, sind (wobei das Zitierverhalten gegenüber den Paulusbriefen keineswegs so anders ist, wie V. behauptet). All das unterstützt die These einer Spätdatierung der Evangelien aber nicht nachhaltig, wie gezeigt werden kann. Die ersten acht Dekaden des 2. Jh.s sind eine Zeit, in der erst sehr langsam das Bewusstsein von der glaubensbegründenden Bedeutung des Evangelien textes entsteht. Der Prozess, in dem das geschieht, ist noch nicht klar durchschaut. V. bietet zwar eine zu extreme Lösung, er hat aber das Verdienst, auf eine dringende Frage aufmerksam gemacht und das zu beachtende Quellenmaterial scharfsichtig dargeboten zu haben.
Dieter T. Roth dagegen hat ein begrenzteres, aber durchaus anspruchsvolles Ziel. Er will den Text des marcionitischen Evangeliums in seiner durch die häresiologischen Zeugnisse ältest verfügbaren Textgestalt so zuverlässig wie möglich rekonstruieren. Das tut er in methodisch überaus sorgfältiger, aber rein auf den textkritisch zu erhebenden Bestand ausgerichteter Weise. Basis für seine Arbeit ist allein das, was positiv in den in Betracht kommenden Quellen (vor allem Tertullian, Epiphanius und Adamantius) an marcionitischem Text erwähnt wird. R. enthält sich aller Spekulationen darüber, warum Textabschnitte nicht genannt werden, und inwiefern Marcions Theologie seine Textgestalt beeinflusst haben könnte. Er ordnet den marcionitischen Text nicht in die Rezeptionsgeschichte der Evangelien oder gar den synoptischen Problembereich ein, gibt nur knapp zu erkennen, dass er die Priorität des Lk, bzw. eines Textes »very similar to our canonical Luke« (438), für unbedingt wahrscheinlich hält. Statt dessen liefert er nach einem erhellenden kritischen Forschungsbericht und einem hilfreichen Überblick über das insgesamt vorhandene Material (unterteilt nach bezeugten Versen, als gestrichen bezeugten Versen und nicht erwähnten Versen) eine genaue Analyse jedes einzelnen Verses unter sorgfältigen textkritisch-methodischen Bedingungen. R. be­handelt die häresiologischen Zeugen je für sich, um in der Lage zu sein, ihr jeweiliges individuelles Interesse an Marcion und ihre je eigene Auffassung vom Evangelientext, die ihr Zitierverhalten be­einflussen könnten, zu berücksichtigen. Er untersucht die Zi­tiergewohnheiten der einzelnen Marciontext bezeugenden Autoren und geht dafür bei der ergiebigsten Quelle, Tertullian, von dessen Mehrfachzitaten im Gesamtwerk aus, um Unterschiede in den Zitaten aus Marcions Evangelium und Lk feststellen und auswerten zu können. Er zieht die handschriftliche Überlieferung des Lukasevangeliums aufgrund der großen kritischen Ausgaben (Tischendorf, von Soden, IGNTP) heran, um zu prüfen, ob marcionitische Varianten auf diese zurückgehen. Als Ergebnis liefert er den vollständigen Wortlaut dessen, was vom marcionitischen Evangelium rekonstruiert werden kann – es ist nicht allzu viel. Unterschiedliche Sicherheitsgrade der Erhebung werden durch verschiedene Drucktypen und Klammern, unbezeugte Verse als solche angezeigt. R. liefert damit eine wertvolle Ausgangsbasis für weitere Arbeit. Dass die Fragen im Zusammenhang der Rezeptionsgeschichte der Evangelien so rigoros ausgeblendet werden, ist für die Anlage dieser Arbeit wohl notwendig. Man kann es dennoch bedauern.
Das dritte anzuzeigende Werk, das Opus magnum von Mat-thias Klinghardt, strebt beides an, eine Rekonstruktion des marcionitischen Evangeliumstextes und in Verbindung mit der Frage nach dessen Urheberschaft einen neuen Lösungsvorschlag für das synoptische Problem. Auch er hält wie Vinzent den für Marcion zu erhebenden Text für den ältesten Evangeliumstext überhaupt, aber er sieht nicht Marcion als Autor dieses Evangeliums an, sondern nimmt an, dass Marcion ein vor ihm existierendes, »ältestes Evangelium« lediglich zitiert habe. Dieses Evangelium sei zu Marcions Arbeitszeit schon weit, auch in Versionen, verbreitet gewesen, Lukas habe es bearbeitet, im Wesentlichen erweitert. Die lukanische Bearbeitung sei aber nicht die einzige gewesen, vielmehr sei das von Marcion zitierte Evangelium (abgekürzt Mcn) die Quelle aller Evangelien, die in verschiedenen Bearbeitungsschritten und mit unterschiedlichen Intentionen als vorkanonische Evangelien entstanden und schließlich in einer zusammenfassenden Endredaktion zu den kanonischen Evangelien wurden, die heute im Neuen Testament vorliegen. Verschiedene Diagramme skizzieren diese Annahmen mit umstürzenden Konsequenzen für Textkritik, Textgeschichte und Überlieferungsgeschichte der Evangelien (vgl. besonders Nr. 10, S. 313, und 11, S. 370). K. begründet seine Thesen in einer bewunderungswürdigen Arbeitsleistung. Er legt auf rund 700 Druckseiten eine vollständige Rekonstruktion von Mcn mit einer Gesamtübersetzung vor und listet alle mcn Varianten gegenüber dem Text des kanonischen Lk mit Verweis auf die entsprechenden Varianten der kanonischen Textüberlieferung auf, zu denen er enge Verbindungen sieht. K. argumentiert durchgängig sehr scharf, erwägt keine gegenteiligen Lösungen von Problemen und baut auf diesen Schlüssen seine umfassende textgeschichtliche und überlieferungsgeschichtliche Theorie auf. Kern seiner These ist die Bestimmung der Beziehung zwischen dem Bibeltext Mar-cions und dem LkEv. Bei der üblichen Annahme der Posteriorität Marcions ergäbe sich die unüberwindliche »Aporie«, dass, wie schon mehrfach festgestellt, sein Bibeltext keineswegs eine im Sinne seiner Theologie konsequente Bearbeitung des Lukastextes darstellt, wohingegen umgekehrt das Lk als eine einheitliche und schlüssige Redaktion des vorkanonischen Mcn erwiesen werden könne. Diese grundsätzliche These wird umfangreich textkritisch und überlieferungsgeschichtlich begründet.
Zur Textkritik: Die marcionitische Priorität vorausgesetzt findet K. eine neue Antwort auf die alte Frage, warum die für Marcion zu erschließenden Varianten häufig mit Zeugen des sogenannten westlichen Textes (D it sy) lesen, und findet sie in der Hypothese, dass die Varianten des »westlichen« Textes Relikte der vorkanonischen Ausgabe des Neuen Testamentes seien, Spuren jenes Textes also, den auch Marcion zitiert, und die zustande kamen, weil die Kopisten der kanonischen Ausgabe die Korrektur der vorkanonischen Ausgabe nach dem kanonischen Text nicht korrekt, sondern inkonsequent durchführten. K. nimmt also eine Beeinflussung, ständige »Interferenzen«, der beiden existierenden Ausgaben des Neuen Testaments an, der vorkanonischen (angesetzt auf die Jahre zwischen 90 und 150) und der kanonischen (zwischen 155 und 157). Diese Grundannahme erlaubt es ihm, die potentielle Quellenbasis für Mcn weit über alles Bisherige hinaus zu verbreitern. Denn es gilt: Wenn »westliche« und für Marcion durch die Häresiologen bezeugte Lesarten auf dasselbe Phänomen der Interferenz zurückgehen, können »westliche« Varianten bei den häufig vorkommenden widersprüchlichen Bezeugungen des Marciontextes durch die Häresiologen nicht nur als Entscheidungskriterium herangezogen werden, sondern mehr noch: »Westliche« Zeugen, auch einzelne »westliche« Zeugen, einzelne altlateinische oder altsyrische Varianten der lukanischen Textüberlieferung, können, falls nicht anders erklärbar, auch dann die vorkanonische Ausgabe bezeugen, wenn der Marciontext für die betreffende Stelle durch die Häresiologen gar nicht belegt ist (cf. Lk 7,40 die Einfügung von »Petrus«, gelesen nur in den Handschriften e und f, in der Geschichte, die im Hause des Pharisäers namens »Simon« spielt. Dazu 588–600, bes. 593).
Diese Annahmen haben weitreichende editorische Folgerungen für die kritischen Ausgaben des Neuen Testaments. Der Text des Textus Receptus etwa sei dem ältesten kanonischen Text näher als der der heutigen kritischen Ausgaben, die – fälschlich – nach dem ältesten Text fragen. Das aber sei nicht der kanonische Text (dazu grundsätzlich 94–113, bes. 112). K. überprüft diese Thesen, deren mögliche Zirkularität ihm bewusst ist, bei seiner Rekonstruktion des von Marcion zitierten, vorkanonischen Textes »auf Schritt und Tritt« (113). Die dabei angewandten textkritischen Methoden lösen allerdings große Bedenken aus. K. muss, da handschriftliche Zeugen für Mcn nicht vorhanden sind, ausschließlich mit Argumenten der sogenannten inneren Kritik arbeiten. Diese aber sind, wie be­kannt und bei K. deutlich bemerkbar, vom Blickpunkt des Betrachters abhängig und daher auch umkehrbar (vgl. z. B. die »westlichen« und durch Epiphanius für Marcion bezeugten Einfügungen in Lk 23,2, dazu K.: 76 f. und 1061–1065; Lk 21,18: 95 f. und 993–999 u. a.). Er rechnet außerdem durchgängig damit, dass Varianten, auch solche geringfügigster Art, immer durch eine Vorlage zustande kommen. Gerade bei kleinen und nicht-sinnändernden Lesarten, die für K. besondere Bedeutung haben, kommen aber individuelle, halbbewusste Abweichungen von der Vorlage in der Frühzeit häufig vor, wie mehrere Untersuchungen zu den Scribal habits neutestamentlicher Papyri belegen. Auch das Phänomen der unabhängigen Mehrfachentstehung von Varianten berücksichtigt er nicht, obwohl es durch die Kohärenzbasierte Genealogische Me­thode (CBGM) von Gerd Mink nachgewiesen ist. Die große Sicherheit und Entschiedenheit der Urteile K.s bei der Beurteilung von Einzelvarianten korrespondiert nicht mit der von ihm ebenfalls betonten »Kontingenz« und »Inkonsequenz« der angenommenen Korrektur der vorkanonischen Ausgabe nach der kanonischen Edition. Inkonsequenz und Irregularität gibt es in frühen Kopier- und insbesondere Korrekturprozessen zwar ganz gewiss. Man muss dann aber bei der Urteilsfindung auch in jedem Fall damit rechnen. Die Rezensentin bedauert diese aus Platzmangel allzu pauschale Kritik und hofft auf ein Gespräch.
Zur Überlieferungsgeschichte: Auch für sie ergeben sich weitreichende Konsequenzen. Denn ausgehend von den Entdeckungen des ersten Teils der Arbeit, dass »ein erheblicher Teil der Varianten des kanonischen Lk-Textes« – gemeint sind insbesondere die sogenannten westlichen Lesarten – »die Spuren einer vorkanonischen Ausgabe zeigt«, könne das grundsätzlich auch für die anderen Evangelien angenommen werden (188). K. entwickelt daraufhin ein Überlieferungsmodell, das den Anspruch erhebt, die Bearbeitungsrelationen zwischen den einzelnen Evangelien »gültig« zu be­schrei­ben (193 f.).
Danach sind alle kanonischen Evangelien von Mcn abhängig, und das schon in ihrer vorkanonischen Textgestalt. Die Annahme von Q wird überflüssig, die Zwei-Quellentheorie entfällt und mit ihr auch alle ihre Schwierigkeiten (Minor Agreements, Mk-Q-Overlaps). Vielmehr sei Mt nicht nur von Mk abhängig, sondern auch von Mcn, Lk und Mt seien nicht unabhängig voneinander, sondern Lk habe auch Mt benutzt. Auch Joh wird in dieses Beziehungsgeflecht eingebunden (bes. 338–342). Die Entstehungsgeschichte der Evangelien wird ausschließlich als literarisches Phänomen begriffen, die Annahme von mündlichen Vor- und Zwischenstufen wird überflüssig. Das bedingt aber auch eine überaus kleinschrittige Erklärungsweise der Texte, K. versteht den Überlieferungsprozess als eine »sorgfältige ›Schreibtischarbeit‹ mit genauestem Textvergleich« (245). Die den Leser interessierende Frage nach der theologischen Intention und Form dieses von Marcion zitierten ältesten Evangeliums bleibt unbeantwortet. Im Vergleich mit den kanonischen und vorkanonischen Evangelien wird immer nur deren literarische Verbesserung jener frühesten narrativen Vita Jesu aufgezeigt, die eher als ein etwas ungeformtes Gebilde erscheint (vgl. etwa 199–203, bes. 202). Sollen wir das von dem ersten Evangelium annehmen?
Alle drei vorgestellten Arbeiten weisen, auch wenn man den großen Lösungen nicht folgen mag, doch unbedingt begrüßenswert hin auf die eingangs angedeutete Frage, inwiefern und warum der Text der kanonischen Evangelien und der des übrigen Neuen Testaments im 2. Jh. glaubensbegründende Autorität wurde. Dem, nicht nur der Frage nach der Kanonizität der Texte, sollte nachgegangen werden.