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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1205–1207

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Xeravits, Géza G. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion and Female Body in Ancient Judaism and Its Environment.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. VIII, 270 S. m. 15 Abb. u. 2 Tab. = Deuterocanonical and Cognate Literature Studies, 28. Geb. EUR 79,95. ISBN 978-3-11-040653-5.

Rezensent:

Angela Standhartinger

Der Band versammelt und ergänzt die gehaltenen und überarbeiteten Vorträge der neunten »International Conference on the Deuterocanonical Books« am Sapentia College in Budapest. Sieben Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen von ungarischen Univer-sitäten sowie je zwei US-amerikanische, zwei deutsche und eine schwedische Wissenschaftlerin untersuchen die Darstellung weiblicher Körper in materieller und literarischer Kultur vom neuassyrischen Reich bis ins frühe Mönchtum.
Anhand materieller Zeugnisse und literarischer Texte aus dem neuassyrischen Reich entwickeln Réka Esztári und Ádám Vér die These, dass Prophetinnen und Propheten die Zweigeschlechtlichkeit der Göttin Inana/Ištar verkörpern. Miklós Kőszeghy kontras­tiert den häufig negativen Blick auf den weiblichen Körper im Alten Testament mit dem positiveren Blick auf diesen in der materiellen Kultur. Thomas Hieke beobachtet die Entwicklung der Re­geln für die weibliche Menstruation aus Lev 15,19–24 bis nach Qumran und in der rabbinischen Auslegungsgeschichte.
Der in Bezug auf seinen theoretischen Reflexionsgehalt an­spruchsvollste Beitrag stammt von Benjamin G. Wright und Suzanne M. Edwards. Sie zeichnen das »Lesen des weiblichen Körpers« im Judithbuch und im Genesis Apokryphon (1Q 20) sowie in den weisheitlichen Texten 4Q 184 (Wiles of the Wicked Woman) und Jesus Sirach nach, um zu zeigen, wie sich die jeweiligen komplexen und widersprüchlichen Diskurse um geschlechtliche Verkörperungen als Orte interpretatorischer Instabilität erweisen. Dies zeige sich zum einen in den Spannungen zwischen den Selbstinterpretationen ihrer Körperlichkeit durch weibliche Charaktere und der Interpretation durch männliche Figuren. Z. B. weise Bitenosch im Genesis Apokryphon (1Q 20) die Verdächtigung ihres Gatten Lamech nach der Geburt ihres göttlich schönen Sohnes Noah, sich mit den Göttersöhnen eingelassen zu haben, zurück, indem sie auf ihre Freude am Sexualkontakt mit ihrem Gatten verweist. Ihr Mann fordert dennoch einen Schwur und wendet sich an die patriarchale Autorität seines Großvaters. Ebenso werfen die übertrieben erotischen und morbiden Bilder über die Frau Torheit in 4Q 184 die durchaus ambivalente Frage auf, warum der Weise vor einer so klar als Gefahr gezeichneten Frau überhaupt gewarnt werden muss. Die in allen Texten aufzuzeigenden widersprüchlichen Lesestrategien führen das Autorenteam zu der These:
»The book of Judith, the Genesis Apocryphon, 4Q Wiles of the Wicked Woman, and Ben Sira all reflect, in their own ways, a marked self-con-scious­ness about the gendered body as a social construction, subject to rhetorical manipulation and change.« (105)
In der Abteilung frühjüdische Literatur setzt Ida Fröhlich das Thema Reinheit und Menstruationsblut mit einer Untersuchung der frühjüdischen Henochtradition (Wächterbuch aus Qumran) fort. Der hier als Sündenfall interpretierte Geschlechtsverkehr von Himmelswesen mit Menschentöchtern setze die bereits in Mesopotamien bekannte Doppelsamentheorie voraus (vgl. auch Hebr 11,11), nach der der Embryo aus dem Blut der Frau geformt wird. Zugleich werde hier zum ersten Mal kultische Unreinheit in ein ethisches Unterscheidungsmerkmal transformiert. In seinem Überblick über die Personifikationen von Frau Weisheit und Frau Torheit in Prov, Hi 28, Sirach, Bar 3–4, 1Hen 42, GenR, 4Q 525, 4Q 185, SapSal und 4Q 184 möchte Matthew Goff beweisen, dass die Personifikation der Weisheit ein lebenslanges Begehren und Streben nach ihr bei männlichen Weisheitsschülern erzeuge. Sie sollen außerdem lernen, welche Frauen als Ehefrauen auszuwählen und welche zu vermeiden seien. Ibolya Balla zeigt meisterhaft die Am­bivalenzen in der Bewertung weiblicher Schönheit in Sirach auf. Bei guten Frauen werde Schönheit gepriesen, bei schlechten bringt sie sie in Bedrängnis, wobei das männliche Begehren zugleich Gefahr und Ort der Demonstration weisheitlicher Selbstbeherrschung darstelle. Karin Schöpflin stellt die Frauen des Tobitbuches vor und macht von hier aus plausibel, warum das Buch Gen 2,8 als Zentrum der Ehe vorstellt und nicht etwa Gen 1,27. Dem schönen Beitrag hätte man allerdings noch etwas mehr Auseinandersetzung mit ähnlichen Forschungsbeiträgen gewünscht. Die These, Judith sei ein weiblicher David, unterlegt József Zsengéller schließlich eindrucksvoll mit der Untersuchung der narrativen Funktion der Schönheit der Heldin und des Helden und fügt in einem wirkungsgeschichtlichen Teil erstaunliche Belege aus der bildenden Kunst hinzu, die David bei der Enthauptung des Goliath und Judith bei der Enthauptung des Holofernes in auffällig ähnlich erotischen Posen zeigt.
Die letzten drei Beiträge widmen sich frühchristlicher Literatur. Hanna Stenström entwickelt die These, dass die Johannesapokalypse Frauenbilder zur Symbolisierung seines dichotomischen Weltbilds in Abgrenzung zur »Hure Babylon« nutze. Csaba Ötvös untersucht die Exegesen der biblischen Erzählung der Entstehung der Frau (Gen 2,21–22) und des androgynen Menschen nach Gen 1,27 in einschlägigen Schriften der Nag Hammadi-Codices. Das Philippusevangelium (NHC II,3 70,9–22), die Erzählung über die Seele (NHC II,6 127,19–22; 127,25–128,4) und das Thomasevangelium (NHC II,2 Log 22,37–23,34) interpretierten Christi Inkarnation als Wiederherstellung der ursprünglichen Androgynität des Menschen nach Gen 1,27. In der Apokalypse des Adam (NHC V,5 64,6–29), der Hypostase der Archonten (NHC II,4 89,1–14), dem Apokryphon des Johannes (hier zitiert in einer Zusammenschau von NHC II,1 22,18–23,26/BG 2 58,1–60) und in »Vom Ursprung der Welt« (NHC II,5 116,11–24) erscheine Eva unabhängiger und repräsen-tiere den Geist und die verständigen Seelenteile des menschlichen Wesens. Beide Interpretationen setzen aber einen ursprünglich an­drogynen Heilszustand voraus und geben Eva die Rolle der geistlichen Lehrerin und der himmlischen Helferin des männlichen Wesens. Dies stelle eine wichtige Korrektur zum in der Gnosis abgewerteten (weiblichen) Körper dar. Schließlich zeigt Gáspár Parlagi anhand verschiedener Quellen zu den Wüstenvätern und den wenigen zu den Wüstenmüttern, dass sich jenseits der Be­trachtung des weiblichen Körpers als Ort teuflischer Versuchung ein komplexeres Bild asketischen Wüstenlebens zeigt, welches zu­mindest einige Frauen inkludierte.
Spannend an diesem Band ist zum einen der sich zwischen den Beiträgen ergebende innereuropäische bzw. europäisch-US-amerikanische Diskurs und zum anderen die Vielfalt der Zugänge und Interpretationsstrategien, die der vieldeutige Ausdruck »weiblicher Körper« hervorruft. Das Buch Judith, Sirach, 1Q 184 (Wiles of the Wicked Woman) und die Themen Menstruation und Schönheit werden in mindestens zwei Beiträgen interpretiert. Etwas bedauerlich empfand ich daher, dass mit Ausnahme von Zsengéller kein Beitrag den anderen rezipiert. Eine ausführlichere Einleitung oder Auswertung hätte dem Band in dieser Hinsicht gutgetan. So bleibt der größte Gewinn des Bandes, nämlich die vergleichende und abwägende Zusammenschau der verschiedenen methodischen und hermeneutischen Zugänge zum Thema »weibliche Körper« in biblischen, frühjüdischen und frühchristlichen Texten und der sie umgebenden materiellen Kultur, der geneigten Leserschaft selbst überlassen.