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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1190–1192

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Rucks, Hanna

Titel/Untertitel:

Messianische Juden. Geschichte und Theologie der Bewegung in Israel.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2014. 557 S. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-7887-2879-3.

Rezensent:

Stefanie Pfister

Diese Studie über Messianische Juden in Israel von Hanna Rucks – ordinierte Pfarrerin der evangelisch-reformierten Kirche Basel-Stadt – begann als Fortführung des Dissertationsprojektes des 2008 verstorbenen Pfarrers Hans-Rudolf Helbling und wurde in ausführlicher Fassung von der Technischen Universität Dortmund im Herbst 2013 als Dissertation angenommen.
R. will – da in theologischer Perspektive Messianischen Juden nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie anderen jüdischen Opfern der nationalsozialistischen Rassenideologie geschenkt wurde – mit der vorliegenden Arbeit »Theologie nach Auschwitz betreiben« (3). Ziel der Studie ist es daher, bewusst aus der Perspektive einer »nicht-jüdischen Theologin« für ein »nicht-jüdisches Publikum« (3) aus dem theologischen Denken und der Geschichte der messianisch-jüdischen Bewegung Erkenntnisse für die gegenwärtige deutschsprachige protestantische Theologie zu gewinnen. R.s um­fassende Hauptfragestellung lautet folglich: »Wie stellt sich das theologische Denken unabhängiger messianisch-jüdischer Gruppen und Organisationen in Israel dar – und inwiefern wurde und wird es durch politische Ereignisse des 20. Jh.s und durch kulturelle Einflüsse geprägt?« (17)
Einleitend bezieht sich R. auf die 2008 aufgestellte Definition von Pfister: »Messianische Juden sind Juden, die an Jesus als den Messias Israels glauben« (Pfister, Messianische Juden 2008, 15). R. betont dabei, dass sie aufgrund der Heterogenität der Selbst- und Fremdbezeichnungen, Begriffe, Organisationen und Bewegungen und aufgrund kirchlich gezogener und häretisch genutzter Grenzen für die vorliegende Studie zwar keine »eindeutige[n] Grenzziehungen« (14) vornehmen möchte. Sie möchte »ohne begriffliche Ka­tegorie« beschreiben können, »welche Gruppen und Entitäten aus dem christlich-jüdischen Feld Untersuchungsgegenstand sind« (15), und versteht Messianische Juden allgemein als eine »›Untergruppe‹, ein Familienzweig in der ›christlich-jüdischen Familie‹« (14). Konkret nimmt sie jedoch wiederum in der Studie »die unabhängigen Gruppen und Organisationen, die sich selbst als jüdisch verstehen und gleichzeitig an Jesus als den Messias glauben« (15) in den Blick.
Mit der Begründung, hauptsächlich das theologische Denken der unabhängigen Gruppen und Gemeinden zu untersuchen, bezieht R. – im Gegensatz zur empirischen Studie von Pfister – in ihre Fragestellung auch die nicht-jüdischen Mitglieder der Ge­meinden und Gruppen ein, auch wenn diese einen hohen Anteil von ca. 40 % ausmachen.
R. beschreibt eingangs ihre Methoden- und Theorie-Triangulation, ohne explizit eine Hypothese zu entwickeln: Methodisch trianguliert R. Elemente der Religionsphänomenologie nach Arvind Sharma und das qualitative Interview, um eine messianisch-jüdische Innenperspektive zu erfassen mit dem geschichtswissenschaftlichen Ansatz des Kulturtransfers bzw. einer »Verflechtungsgeschichte« (histoire croisée) mit der Zielsetzung, eine Außenperspektive zu gewinnen. Phänomenologisch-methodisch arbeitet R. sprachanalytisch, d. h. sie untersucht die »Versprachlichung und Strukturierung religiöser Erfahrung« (37–38) in den Experteninterviews und Texten der messianisch-jüdischen Bewegung. Und im Sinne einer Verflechtungsgeschichte betont R. besonders die Verflechtung von Forscher und Untersuchungsgegenstand, d. h. die zunächst erhobenen Analysekategorien können immer wieder der Phänomenologie des Forschungsgegenstandes angepasst, modifiziert, erweitert oder verworfen werden.
Theoretisch trianguliert sie die Erkenntnis der Religionsphänomenologie, etwas als religiös zu werten, was die Menschen als religiös wahrnehmen (Waardenburg und Heimbrock), mit der ge­schichtswissenschaftlichen Einsicht, dass der Begriff der »Kultur« als »hybride, imaginäre Gemeinschaft« (Bhabha) eine Übereinkunft von Bedeutungszuschreibungen sei und auf den Begriff »Religion« als eine Form von Kultur übertragen werden könne. Damit werden in der Studie nur Bedeutungszuschreibungen un­tersucht, die Messianische Juden als religiöse Bedeutungszuschrei­bungen ansehen.
Die Ergebnisse dieser Triangulation fließen in der sehr differenzierten Darstellung der Theologiegeschichte Messianischer Juden in Israel (2. Kapitel) zusammen, wobei R. dieses Kapitel chronologisch in vier Abschnitte unterteilt: 1. Frühgeschichte: Das 19. Jahrhundert bis 1917, 2. Die Zeit des britischen Mandats: 1917–1948, 3. Der Staat Israel: Die ersten Jahre 1948–1967, und 4. Zwischen Sechstagekrieg und Fall des Eisernen Vorhangs. Die Ergebnisse werden zusammenfassend zu den Topoi »Messias«, »Tora/Gebote/Gesetz«, »Verhältnis von jesusgläubigen Juden zum Judentum und zur Kirche«, »Mission/Evangelisation«, »Sabbat- bzw. Sonntagsliturgie« und »eschatologische Konzeptionen« gebündelt. Hier stellt sie heraus, dass be­sonders drei Strömungen die Theologiegeschichte beeinflusst ha­ben: britische evangelikale Einflüsse, der jüdische Zionismus und die »Schule der Heimholung Jesu ins jüdische Volk« (Klausner). Weitere prägende Faktoren im Hinblick auf die Theologiegeschichte waren zudem die Zeit des britischen Mandats, die ersten Jahre des Staates Israel (im Hinblick auf Eschatologie und Verhältnisbestimmung Messianischer Juden zum Judentum und zur Kirche), d er Erste Weltkrieg, die Eroberung Jerusalems durch General Allenby und der Sechstagekrieg (besonders im Themenfeld der Eschatologie).
Anschließend eruiert R. im 3. Kapitel das gegenwärtige theologische Denken unter Messianischen Juden in Israel, wobei sie die Interviewantworten der hebräisch-/englischsprachigen Messianischen Juden, eines äthiopischen messianisch-jüdischen Gemeindeleiters und der russischsprachigen Vertreter nach oben genannten Topoi differenziert und die Erkenntnisse im vierten Kapitel aufgreift, den Ansätzen einer theologischen Annäherung an das Messianische Ju­dentum.
R. stellt hier fest, dass auf jüdischer Seite Messianische Juden weiterhin weitgehend als Nichtjuden abgelehnt werden, wobei u. a. ausschlaggebend oftmals ihre anhaltende missionarische Aktivität seien; nur wenige Ausnahmen plädieren für eine Anerkennung des Messianischen Judentums innerhalb der Vielfalt des Judentums. Im jüdisch-christlichen Dialog bleibe die Bewegung Messianischer Juden daher weiterhin ein Stolperstein, statt eine Brückenfunktion abzubilden.
R. setzt sich weiter ausführlich mit Peter von der Osten-Sacken auseinander, der mittlerweile Messianischen Juden ihre jüdische Identität abspricht und die Bewegung pauschal als »Judenmission« bezeichnet, und sie plädiert dafür, dass es eine Aufgabe der »völkerchristlichen Theologie« sei, »Messianischen Juden bei der Findung ihrer Identität zu helfen und zu einer Annäherung ans Judentum und ihre jüdischen Wurzeln zu ermutigen« (493), sie ernst zu nehmen, ihnen Raum für den Ausdruck ihrer Identität und ihre messianisch-jüdischen Gruppierungen zu geben. Exegetisch hilfreich für eine Anerkennung jüdischer Identität Messianischer Juden seien auch die neueren Ergebnisse der Paulusforschung, welche alternative Möglichkeiten zum Verständnis zum Thema Gesetz aufzeige und wonach jesusgläubige Juden nicht ermutigt werden, ihre jüdische Identität aufzugeben. Des Weiteren lehnt R. aber auch eine Instrumentalisierung von Messianischen Juden ab, wenn ihnen z. B. hauptsächlich deshalb ein Existenzrecht zugestanden würde, um dadurch das Reich Gottes rascher herbeiführen zu können.
Insgesamt bietet die Dissertation eine wichtige aktuelle Darstellung der messianisch-jüdischen Theologie in Israel. Hervorzuheben sind besonders das Kapitel zur Theologiegeschichte, das Aufarbeiten bisher schwer zugänglicher Quellen und damit der sehr informative Anmerkungsapparat.