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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1188–1190

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Miskotte, Kornelis Heiko

Titel/Untertitel:

Edda und Thora. Ein Vergleich germanischer und israelischer Religion. Übers. aus d. Niederl. u. m. e. Einführung versehen v. H. Braunschweiger.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2015. XIV, 310 S. = Kulturelle Grundlagen Europas, 2. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-643-12993-2.

Rezensent:

Martin Hailer

Kornelis Heiko Miskotte (1894–1976) wurde im deutschsprachigen Bereich vor allem als Freund Karl Barths (Briefwechsel, 1991), als Promotor und Übersetzer Barths ins Niederländische (Credo, 1935) sowie als engagierter Theologe, der systematische und biblische Theologie auf ungewöhnliche Weise zu verbinden wusste (Wenn die Götter schweigen. Vom Sinn des Alten Testaments, 31966), be­kannt, wozu die Übersetzungs- und Kommentierungsarbeit von Hinrich Stoevesandt entscheidend beitrug. Sein Werk liegt in einer 13-bändigen Gesamtausgabe vor. Der hier erstmals auf Deutsch vorliegende Band erschien 1939 und wurde im Rahmen der Ge­samtausgabe mehrfach nachgedruckt. Er zeugt von einem Kernanliegen des Vf.s, eine konstruktive Israeltheologie zu entwickeln, die sich von den als unerträglich empfundenen Verwerfungs- und Weiterentwicklungstheorien weitestmöglich entfernt. Angezielt wird das bereits in der judentumskundlichen Dissertation von 1933. Der anzuzeigende Band ist der gelehrte Warnruf eines Ge­meindepfarrers, vollendet am 10. Juli 1939 und damit wenige Wo­chen vor Kriegsbeginn: Bei der heraufziehenden Katastrophe geht es mitnichten nur um Militarismus und Rassismus (14), vielmehr bricht der Urgegensatz zwischen dem jüdischen Gott und dem Pantheon der nordischen Religionen auf, oder eben der zwischen Edda und Thora: »Der Antisemitismus ist im Kern […] nichts anderes als ein grenzenloser, viel zu lang verschwiegener Hass gegen den Gott der Thora, der auch der Gott der Kirche ist.« (255) Nichts weniger als » ein großer sakraler Streit« (279) ist am Tage.
Der Vf. entfaltet diese These durch einen religionsphänomenologischen Vergleich (29). Anhand von Leitthemen werden Texte aus verschiedenen Edda-Schriften (23 f.) und Pentateuch-Material einander gegenübergestellt. Mehr und mehr aber wird zeitgenössische ideologische und theologische Literatur diskutiert und werden Schneisen in die Theologie- und Geistesgeschichte geschlagen. Der Ton ist alarmiert und das Buch ruft am Schluss zur Scheidung der Geister auf - analog der Umkehr von Israels Rest.
Die inhaltlichen Kapitel III–IX mit den Leitthemen »Am Anfang«, »Werden«, »Schicksal«, »Tugend«, »Widerstand«, »Jenseits« und »Vollendung« sind jeweils gleich aufgebaut: Einer Skizze der nordisch-heidnischen Vorstellungswelt wird diejenige der Thora gegenübergestellt. Aufregend sind dann die jeweils dritten Unterkapitel, durchgängig »Wiedererkennen« genannt: Denken und Lebensgefühl der Edda sind eben nicht vergangen und versunken, sie tauchen vielmehr im allgemeinen Lebensgefühl und bei Großen und Größten der Geistesgeschichte wieder auf. Ferner bestimmen sie – das verwundert dann weniger – den rassistischen und neo-paganen Diskurs von P. de Lagarde und H. St. Chamberlain bis in die Gegenwart des Vf.s. Hier, im »Wiedererkennen«, sieht er das große und zutiefst beunruhigende Potential des Materials, das er sichtet.
Im Kapitel zur Schöpfungstheologie etwa wird zunächst aus dem Edda-Text Voluspa berichtet, nach dem der Beginn der Welt unvordenklich-chaotisch ist und die Götter gewordener Teil dieser Welt sind. Gen 1–2 liest der Vf. dagegen nicht als abstrakten Monotheismus, sondern als Schöpfungswerk des bereits bekannten Gottes, der sich in Theophanie und Rettungstat kundgemacht hat. JHWH »ist in keiner Weise Mensch wie Thor und Odin und dennoch auf die Menschen und das Menschenleben gerichtet […], Gott der Geschichte.« (40) Apropos »Wiedererkennen«: »Wir als Germanen« (47) sind vom Grundgefühl des Chaos und der amoralischen Natürlichkeit bleibend bewegt, was sich nicht zuletzt in der romantischen Naturlyrik zeigt.
Vergleichbar wird in den anderen materialen Kapiteln vorgegangen: Auf die – mitunter knapp – vorgenommene Konstruktion eines Gegensatzes folgt stets die Reflexion, was an der vermeintlich lang versunkenen heidnischen Gedanken- und Gefühlswelt durchaus lebendig ist, etwa die Welthaftigkeit göttlicher Kräfte, die Dominanz des Schicksalsmotivs, die Abweisung des moralischen Diskurses und anderes mehr. Der Vf. will sich darüber nicht leichtfertig erheben, vielmehr gilt: »Wir wollen das Heidentum ehren.« (15) Er stellt aber doch die theologische Diagnose, nach der es sich um »das Wiederfinden eines anderen Gottes, unseres eigenen Gottes, seiner Macht in uns und über uns« handelt (7). Hier liegt die Wurzelsünde der heraufziehenden Katastrophe der europäischen Zivilisation.
Interessant sind auch die geistesgeschichtlichen Glossen: Dass Nietzsche vor allem als Prophet völkischer Religiosität zitiert wird, lässt sich denken. Auch zu Heidegger gibt es eine kritische Bemerkung. Ambivalent ist das Verhältnis zu Hegel: Mindestens in seiner Geschichtsphilosophie sieht der Vf. den absoluten Geist doch stark vom Schicksal her und damit mit signifikanten mythologischen Resten bestimmt (118). Insgesamt aber ist der Idealismus davon auszunehmen (263). Die explizite neue Konjunktur des Heidentums geht nicht nur auf germanophile Ideologen wie Arthur Bonus und Janko Janeff oder den NS-Pädagogen Ernst Krieck zurück, vielmehr hat auch die Theologie daran Anteil: Wo die Identität JHWHs mit dem Vater Jesu Christi geleugnet wird, wird nicht nur Israel preisgegeben, sondern zugleich das christliche Gotteszeugnis entscheidend entstellt (243 f.).
Was bliebe zu tun? Der Vf. propagiert nichts weniger als eine klare »Scheidung der Geister«, denn unerträglich ist, dass der christlich-heidnische Synkretismus noch »in der kirchlichen Welt weitervegetiert« (265). Die Aufgabe der Theologie ist ein Landtag zu Sichem (Jos 24), an dem völlig klar wird: »Israel und die Kirche müssen eins werden.« (283)
Gewiss kann man rückblickend Fragen stellen, so nennt der Vf. zwar, dass die Edda im bereits christianisierten Island verfasst wurde, zieht aber nur vage methodische Konsequenzen daraus (21). Auch erinnert die Anlage des Buchs an Thorleif Bomans »Das he­bräische Denken im Vergleich mit dem Griechischen« (1952), das sich in vielen Details als zu einfache Typisierung zeigte. Im Gegensatz zu diesem Buch bleibt der Vf. aber nicht bei der Gegenüberstellung stehen, sondern benennt die bleibende Faszination des »Heidnischen«. Zudem wird dies hamartiologisch interpretiert: Das Credo der Thora kommt von außen auf die Menschen zu, der natürliche Mensch (auch der natürliche jüdische Mensch!) ist Heide, der sich hier widergespiegelt findet (227.230). Diese Warnung vor den desaströsen Folgen der neo-mythischen Nostrifika-tion Gottes konnte die Katastrophe nicht mehr aufhalten. Als Zeugnis einer Israeltheologie vor dem Holocaust ist sie gleichwohl höchst beeindruckend und gehört ins Gedächtnis der Theologie als Ideologiekritik.