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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1447–1449

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Bengard, Beate

Titel/Untertitel:

Rezeption und Anerkennung. Die ökumenische Hermeneutik von Paul Ricœur im Spiegel aktueller Dialogprozesse in Frankreich.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 350 S. = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 151. Geb. EUR 90,00. ISBN 978-3-525-56449-3.

Rezensent:

Risto Saarinen

Das philosophische Denken Paul Ricœurs ist seit einiger Zeit ein populäres Thema in der katholischen Theologie. Evangelische Theologie hat sich bisher vorwiegend mit Ricœurs Hermeneutik und seinem Metapherbegriff beschäftigt. Beate Bengard beleuchtet neue Dimensionen im Denken Ricœurs, indem sie die ökumenischen Stellungnahmen des französischen Philosophen eingehend untersucht. Ihre von den Evangelisch-Theologischen Fakultäten in Leipzig und Strasbourg angenommene Promotionsschrift wurde von der Universität Strasbourg im Juni 2015 mit dem Dissertationspreis geehrt.
Als aktiver Protestant hat sich Ricœur zeitlebens für die Ökumene interessiert, hat sich aber von den offiziellen Dialogen der Kirchen ferngehalten. Stattdessen hat er Sympathie zur Taizé-Be­wegung gezeigt und zum Beispiel schon im Jahre 1968 ein ökumenisches Abendmahl mit Protestanten und Katholiken mitgestaltet.
B. richtet ihre Aufmerksamkeit auf einen späten Vortrag Ri-cœurs, in dem er sich zur katholisch-lutherischen »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre« äußert und zur ökumenischen Methode Stellung nimmt. B. veröffentlicht eine deutsche Übersetzung des Vortrags und bietet einen ausführlichen Kommentar, in dem sie Ricœurs Gedanken zur Ökumene mit seiner allgemeinen Hermeneutik verbindet.
Nach Ricœur ist der geleistete Konsens in der Rechtfertigungslehre für seriöse ökumenische Arbeit grundlegend und unverzichtbar. Trotz dieses Lobes denkt er, dass die ökumenische Reichweite der Gemeinsamen Erklärung notwendigerweise nur begrenzt bleibt. Ricœur zufolge kann nämlich die Überzeugung des Glaubens nicht zum objektiven Glaubensverständnis reduziert werden, wie es die ökumenischen Abkommen in der Regel tun. In Wirklichkeit entwickeln die Kirchen ihre Identität als narrative Identität, die infolge der geschichtlichen Entwicklung entsteht und von der entwicklungsbedingten Perspektive des Subjekts abhängig bleibt. Ein scheinbar objektives Glaubensverständnis reduziert diese dynamische, narrative Perspektive auf isolierte Aussagen.
Für Ricœur richtet sich der Akt des persönlichen wie des ge­meinschaftlichen Glaubens auf sogenannte Sinnkonstellationen, die die Perspektive des Vertrauens konstituieren. Er vergleicht solche Konstellationen mit einem Akt der Konversion. Sinnkonstellationen entstehen durch persönliche Begegnungen und können nicht als objektive Lehren formuliert werden.
Das entscheidende ökumenische Ereignis für Ricœur ist folglich der zwischenmenschliche Kontakt der Glaubenden. Die objektivierten Lehren und Texte sind insofern wichtig, als sie von diesem grundlegenden Ereignis stammen. Aber die Freundschaft und Gastfreundlichkeit bleiben die primären Quellen der Annäherungen, die in Texten ausgedrückt werden. Ricœur kritisiert den objektiv-neutralen Begriff der Einheit, die die Alterität des Anderen und die Pluralität der Identitäten und Perspektiven nicht sachgemäß berücksichtigt. Für ihn ist das Person-Sein der Glaubenden primär; die abstrakten Texte und Einheitsvorstellungen können und sollen die grundlegende personale Menschlichkeit des Glaubens stets beachten.
Wegen dieser Prämissen verhält sich Ricœur kritisch auch zum Weltethos-Projekt von Hans Küng. Nach Ricœur kann man nicht abstrakt von den gemeinsamen ethischen Lehren der unterschiedlichen Religionen sprechen, da jede religiöse Überzeugung diese Lehren im Rahmen ihrer eigenen Sinnkonstellation versteht. Es geht nicht um normative Texte, sondern um die Menschen, die sich perspektivisch diese Sinnkonstellationen zu eigen machen.
Ricœurs Positionen haben einerseits Gemeinsamkeiten mit solchen Life-and-Work-Ökumenikern, die sich skeptisch zur lehrhaften Faith-and-Order-Arbeit verhalten. Für Ricœur geht es allerdings überhaupt nicht um eine anti-intellektuelle oder pragmatische Haltung. Ganz im Gegenteil: Als leitender Philosoph des späten 20. Jh.s will er intellektuell aufzeigen, dass das Person-Sein der glaubenden Menschen und die narrative Identität der Glaubensgemeinschaften nicht auf isolierte lehrhafte Aussagen reduziert werden können.
Man könnte die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre mit dem Gegenargument verteidigen, sie sei immerhin eine späte Frucht der katholischen Ökumene, die seit Vatikanum II die eigene Neuorientierung und die eigene Bereitschaft zur geistlichen Erneuerung für wichtig hält. Obwohl dieser Aspekt vielleicht sekundär in der lehrhaften Konsensökumene bleibt, setzt er we-nigstens die Grundsituation der bleibenden Alterität voraus und gibt zu, dass die eigene Veränderung zum ökumenischen Prozess gehört. Ebenfalls gehört die sogenannte Differenzierung der bestehenden Übereinstimmung zu den Instrumenten der neueren Ökumene, die somit auch bemüht ist, die perspektivische Pluralität zu verstehen.
B. verbindet im Weiteren Ricœurs ökumenische Konzeption mit seiner allgemeinen Hermeneutik. Besonders die Schriften Wege der Anerkennung und Das Selbst als ein Anderer erweisen sich in dieser Hinsicht als hilfreich. Obwohl die Problematik der Anerkennung sowie die der Alterität mit der ökumenischen Arbeit sachlich eng zusammengehören, haben die Ökumeniker ihr nur selten mit der Tiefe und Vorsicht nachgedacht, die für die ökumenische Begegnung eigentlich notwendig sind.
Wie einige andere französische Philosophen (z. B. Alain Badiou) denkt Ricœur, dass das kirchliche Streben nach Einheit uns daran hindern kann, die wahre Pluralität der Menschheit zu erfassen. Trotz dieser Kritik kann er aber die ökumenische Bewegung insgesamt als eine positive Erscheinung würdigen.
B.s Studie enthält auch ein Kapitel über die Rezeption einiger ökumenischer Prozesse in Frankreich, nämlich die der Leuenberger Kirchengemeinschaft, der Groupe des Dombes sowie der Communauté de Taizé. Das große Verdienst der Studie besteht aber darin, dass B. das ökumenische Denken Paul Ricœurs zum ersten Mal systematisch aufarbeitet und in das Gesamtprogramm des französischen Philosophen glaubwürdig und innovativ integriert.