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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1441–1443

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Hillgruber, Christian [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Christentum und der Staat. Annäherungen an eine komplexe Beziehung und ihre Geschichte.

Verlag:

Göttingen: Bonn University Press bei V & R unipress 2014. 133 S. Geb. EUR 30,00. ISBN 978-3-8471-0287-8.

Rezensent:

Martin Honecker

Den Sammelband eröffnet die Wiedergabe der Mailänder Vereinbarung von 313. Damit ist bereits eingangs verdeutlicht, dass die fünf Beiträge das Verhältnis des Christentums zur staatlich organisierten politischen Herrschaft in geschichtlicher Perspektive betrachten. Der Schwerpunkt des Bandes liegt auf der geistigen Fundierung des modernen neuzeitlichen Staates sowie auf der Verschiedenheit der Antworten, die heute das Verhältnis von Christentum und Staat findet. Zwei der Beiträge (Udo Di Fabio, Wolfgang Huber) waren bereits anderwärts veröffentlicht.
Der Herausgeber Hillgruber steuert eine Einleitung bei, in welcher er die einzelnen Beiträge kurz vorstellt (9–20). Robert Spaemann, Die christliche Sicht des Politischen (21–29), nimmt seinen Ausgangspunkt bei Augustins »De Civitate Dei«. Spaemann betont damit die eschatologische Ausrichtung des Christentums und folglich eine Differenz von Staat und Christentum. Kritik übt er an einer Befreiungstheologie. Eine realistische Sicht der staatlichen und weltpolitischen Wirklichkeit nötigt freilich zu einer Verbindung des Gebots der Feindesliebe und der Gewaltanwendung mit politischer Klugheit. Hans Maier, Christentum und Staat. Modelle des Rechts. Entwicklungsphasen der Geschichte (31–49), vergleicht die byzantinische Symphonie von Staat und Kirche mit der Entwicklung im Westen, in der die Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst im Investiturstreit eine entscheidende Rolle für die Unterscheidung von Christentum und politischer Ordnung spielt. Diese Unterscheidung von Christentum und weltlicher Ordnung ist in der Moderne inzwischen bestimmend geworden. Die christliche Überlieferung steuert dazu bei den Sinn von Verantwortung und das Gefühl für die Unwiederbringlichkeit und den Wert der Zeit. Besonders gewichtig ist der umfangreichste Beitrag von Josef Isensee, »Der lange Weg zu ›Dignitatis humanae‹ – Konvergenzen von kirchlichem Wahrheitsanspruch und verfassungsstaatlichem Freiheitsverständnis« (51–89). Der Beitrag schildert einerseits die widerspruchsvolle Geschichte der Religionsfreiheit in den Erklärungen der Päpste vom Syllabus Papst Pius IX. 1864 an bis hin zur Konzilserklärung ›Dignitatis humanae‹, 1965. Es war dies eine Wendung um 180 Grad. Das Konzil bricht mit der päpstlichen Verurteilung der Religionsfreiheit als verhängnisvollem Irrtum. Der Katholizismus orientierte sich damals am Ideal einer vormodernen Einheitswelt und am monarchischen Prinzip. Er ließ kein Recht für den Irrtum zu. Isensee differenziert zwischen der Oberfläche damaliger eindeutiger Verurteilung der Religionsfreiheit durch das päpstliche Lehramt und einer Tiefenschicht christlicher Einflüsse auf Religionsfreiheit und Menschenrechte. Durch solche untergründige Einflüsse gibt es trotz der päpstlichen Ablehnung Ausstrahlungen des Christentums auf die Entstehung des modernen Staates mit der Anerkennung der Religionsfreiheit. Dazu zählen beispielsweise Aktivität und Rationalität als Wesenszüge christlichen Verhaltens und das Prinzip des Amtes. Isensee warnt allerdings ausdrücklich vor einer Identifikation von kirchlichem Auftrag und politischer Aufklärung. Vergleichbar beschreibt Udo Di Fabio, »Staat und Kirche: Christentum und Rechtskultur als Grundlage des Staatskirchenrechts« (91–109), das Verhältnis von Christentum und moderner Rechtskultur. Er erinnert daran, dass die moderne Rechtskultur sich aus der christlichen Prägung des Rechts heraus entwickelt hat. Im Zeichen einer reflexiven Aufklärung bedarf es heute deswegen eines »vernunftgeöffneten Christentums« (106). Wolfgang Huber, »Kirche und Verfassungsstaat« (111–133), erörtert Freiheit als Schlüsselbegriff für das Verhältnis von Kirche und Verfassungsordnung. Im Staatskirchenrecht und Religionsverfassungsrecht plädiert er sowohl für Glaubensfreiheit als auch für korporative Religionsfreiheit. Religiöse Neutralität liegt nicht nur im Interesse des Staates, sondern auch des Glaubens. Religiöse Parallelgesellschaften lehnt er jedoch ab.
Insgesamt zeigen die Beiträge ein hohes Maß an Übereinstimmung. Jeder für sich genommen ist gewichtig und klärend. Man vermisst freilich eine übergreifende Zusammenfassung. Offen ist auch, in welchem Sinne vom Christentum überhaupt die Rede ist: Ist das Christentum ein historisches Erbe und Phänomen oder eine gegenwärtige kulturelle, sozialwissenschaftliche Größe oder der Anspruch einer Glaubensgemeinschaft? Die ersten beiden Verständnisse sind deskriptiv, das geistliche, religiöse Verständnis ist normativ. Die Beiträge konzentrieren sich zudem auf das Verhältnis von Christentum und Staat. Die gegenwärtigen besonderen Probleme bestehen aber vor allem im Verhältnis von Kirche und Gesellschaft und haben ihre Ursache in religiöser Pluralität und einer Individualisierung. Auch der derzeit unangefochtene Rechtsstatus des Christentums und der Kirche wird daher nur insoweit Bestand haben, als es ein gelebtes Christentum gibt und Christentum nicht nur eine historische Größe ist.