Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1439–1441

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Häberle, Peter, Kilian, Michael, u. Heinrich Amadeus Wolff[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts. Deutschland – Österreich – Schweiz.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. XXII, 1058 S. m. 64 Abb. Geb. EUR 159,95. ISBN 978-3-11-030377-3.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Der Band bietet eine Übersicht über juristische Reflexionen des 20. Jh.s zu Staat und Staatsverfassung und akzessorisch u. a. zum Verwaltungs- oder zum Kirchen- und Staatskirchenrecht. Der Durchgang durch staatsrechtliches Denken erfolgt im Spiegel des wissenschaftlichen Werkes herausragender Fachvertreter. Das Kirchen- und Staatskirchenrecht gelangt anhand von Gedankengängen Ulrich Scheuners (665 f.), Klaus Schlaichs (1046 ff.) und einiger anderer Gelehrter zur Sprache. Die insgesamt 67 Beiträge des Bandes wurden von Autoren geschrieben, die den von ihnen porträtierten Vordenkern ihres Faches sachlich und persönlich teilweise recht n ahestehen, z. B. als ehemalige Habilitanden. Hieraus mag sich erklären, dass manche Artikel Verklärungen enthalten. Gelegentlich wären präzisere Informationen sinnvoll gewesen, etwa zu den Überlegungen des Völkerrechtlers Karl Josef Partsch zur Option einer Deutung des Individuums als Völkerrechtssubjekt (871).
Durchgängig wurde darauf geachtet, die Verstrickung zahlreicher Vertreter der Staatsrechtslehre in die Ideologie und in die Aktivitäten des NS-Staats offenzulegen. Dass namentlich Carl Schmitt den NS-Staat stützte, ist wohlbekannt. Der ihm gewidmete, von M. Jestaedt verfasste Beitrag geht hierauf ein (317 ff.). Auch andernorts wird über die infamen Interventionen Schmitts gegen Fachkollegen jüdischer Herkunft berichtet oder werden seine Äußerungen zitiert (besonders 209 f.), die seinem massiven, aggressiven Antisemitismus entspringen. Dem NS-Staat standen ebenfalls Gelehrte wie Ernst Rudolf Huber (642) oder der spätere Grundgesetzkommentator Theodor Maunz (575) nahe. Für die Nachkriegs-Bundesrepublik waren nur ganz wenige Staatsrechtler verfügbar, die sich vom NS-Staat distanziert oder gegen ihn opponiert hatten oder emigriert waren, unter ihnen Gerhard Leibholz (695). Bis heute ist die fortdauernde Betätigung ideologisch verstrickter Juristen im westdeutschen Nachkriegsstaat Anlass für kritische Aufarbeitung.
Das Buch setzt mit der Präsentation von Personen ein, die bereits im Kaiserreich gewirkt hatten und aus diesem Kontext heraus das spätere 20. Jh. beeinflusst haben. Zu den Klassikern des Staatsrechts gehört der von R. Mußgnug vorgestellte, im Jahr 1918 gestorbene Paul Laband. Trotz seiner jüdischen Herkunft erhielt Laband im wilhelminischen Reich eine Professur. Seine Theorien – z. B. zur Unterscheidung zwischen dem Gesetz im materiellen und im formellen Sinn (16 f.) – werden bis heute beachtet. Indem sich der Band dem 20. Jh. widmet, bezieht er sich auf jene Phase der Kultur- und Rechtsgeschichte, in der sich der Nationalstaat einerseits endgültig ausbildete, andererseits aber auch relativiert wurde, weil er von überstaatlichem Recht und supranationalen Organisationen überlagert zu werden begann. Heutzutage sind Staat und Politik von Verwerfungen geprägt. Dem Zuwachs an Staatsaufgaben stehen die Erosionen des Rechtsstaats gegenüber. Angesichts heutiger Verunsicherungen ist bemerkenswert, dass schon in der klassischen Phase des Nationalstaats die Definitionen und Deutungen des Staates völlig disparat ausfielen. Hierzu bietet der Band nützliche Hinweise.
Um die Spannbreite zu veranschaulichen: In der Nachwirkung des Hegelianismus ist der Staat von Ernst Rudolf Huber ideell überhöht und als höhere Ordnung verklärt worden (643). Rudolf Smend hypostasierte ihn als einheitsstiftendes Subjekt (257). Zuvor hatte Georg Jellinek Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt der sogenannten Staatsperson zugeordnet (65). Ganz anders Hugo Preuß: Er entwarf das Leitbild des »Volksstaats« (86). Auf Preuß geht überdies die Begriffsprägung »Obrigkeitsstaat« zurück, mit der er die evangelisch-lutherisch geprägte Staatlichkeit im deutschsprachigen Raum ebenso treffend wie kritisch charakterisierte. Eine Abkehr von jedweder Staatsverklärung findet sich bei Hans Kelsen, der den Staat mit dem Recht identifizierte (233). Sein Denkansatz wird präzis von Horst Dreier wiedergegeben. Kelsen bejahte schon in den 1920er Jahren Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie, gesellschaftlichen Pluralismus, Werterelativismus, Parlamentarismus und individuelle Autonomie. In Deutschland stieß dies auf taube Ohren. Sein Denken löste die Gegenschriften aus, die von Carl Schmitt und von Rudolf Smend zur Verfassungslehre stammen (238).
Falls in Zukunft noch einmal ein solches Sammelwerk zustande kommen sollte wie das jetzt erschienene Buch, wird es in mancher Hinsicht ein ganz anderes Profil besitzen. Unter den Vordenkern der Staatsrechtslehre des 20. Jh.s findet sich keine einzige Frau. Sogar unter den Autoren ist nur singulär eine Wissenschaftlerin anzutreffen (Kathrin Groh, 147 ff., über Richard Thoma). Abgesehen hiervon wird das Buch sicherlich der letzte derartige Übersichtsband gewesen sein, in dem konfessionelle Hintergründe von Staatsrechtlern eine größere Rolle spielen. Angesichts fortgeschrittener Säkularisierung ist nicht zu erwarten, dass sich in Zukunft die religiöse Herkunft, Konfession oder Weltanschauung eines Autors auf seine staatsrechtliche Konzeption nennenswert auswirken werden. Persönliche konfessionelle Prägungen werden allenfalls für eingegrenzte Fragestellungen des Kirchen-, Staatskirchen- und Religionsrechts von Belang bleiben. Im 20. Jh. war dies noch anders.
Dabei fällt auf, dass es insbesondere die Gelehrten jüdischer Herkunft waren, die den Obrigkeitsstaat kritisierten, für einen liberalen Verfassungsstaat plädierten und die Freiheitsgrundrechte der einzelnen Menschen hervorhoben. Dies wird jeweils unterschiedlich bei Georg Jellinek (63), Hugo Preuß (84 f.), Hans Kelsen (219 ff.), Ernst Fraenkel (529 ff.) oder bei dem 1961 verstorbenen Hans Nawiasky (187 ff.542) deutlich. Demgegenüber kam auf katholisch geprägter Basis ein antiliberales oder illiberales Staatsdenken zustande – besonders schroff bei Carl Schmitt (313.325). Was den Protestantismus anbelangt: Ein bekannter Staatsrechtler protestantischer Provenienz war Rudolf Smend (256). Indirekt dürften sich auch aus seinem konfessionellen evangelischen Hintergrund der Etatismus und die hierarchischen Motive erklären, die seine 1928 publizierte Schrift »Verfassung und Verfassungsrecht« be­stimmen. Er entwickelte sein Leitbild gesellschaftlicher und staatlicher Integration statt von den Bürgern her vielmehr von »oben«, vom Staat her, legte auf persönliche Grundrechte als Abwehr- und individuelle Freiheitsrechte wenig Wert und fand keinen konstruktiven Zugang zu gesellschaftlichem Pluralismus. Die retardierenden Züge seines Denkens werden in dem ihn porträtierenden Aufsatz von H. Schulze-Fielitz (255–271) freilich nur beiläufig erwähnt.
Insgesamt legt das Sammelwerk die Bilanz nahe, dass die Demokratie- und Grundrechtsferne der christlichen Kirchen nicht nur in ihrem Binnenraum, sondern auch in der rechtswissenschaftlichen Theoriebildung ihren Niederschlag fand. Das Werk über Staatsrechtslehrer des 20. Jh.s, das Häberle, Kilian und Wolff ediert haben, regt interessanterweise also sogar dazu an, über die Ausstrahlung von Religion auf die neuere Staats- und Verfassungslehre kritisch nachzudenken.